Kipppunkte in Mathematik, Ökologie und Geografie

Heute vor dem Abgrund, morgen einen Schritt weiter?

12. April 2023 von Daniel Schenz
In allen komplexen Systemen gibt es kritische Grenzwerte, deren Überschreiten gravierende, oft unumkehrbare Folgen hat. Das Verständnis dieser "Kipppunkte" ist essentiell, um die Beziehung "Planet und Mensch" retten zu können. Wir fragen die Mathematiker*innen Sara Merino-Aceituno und Henk Bruin, die Ökologin Christina Kaiser und den Geografen Harald Sterly.
Wenn in komplexen Systemen bestimmte Kipppunkte überschritten werden, gibt es oft keinen Weg zurück. An der Uni Wien forschen Wissenschafter*innen aus verschiedenen Disziplinen daran, wie solche Kipppunkte funktionieren und wie wir sie erkennen. © Scott Goodwill (via Unsplash)

Raupen, die Blätter von Bäumen fressen und von Vögeln gefressen werden – das sind die Grundzutaten eines berühmten komplexen Systems, das in den 1970er-Jahren von US-amerikanischen Forscher*innen modelliert wurde. Durch dieses Modell fand das Konzept der Kipppunkte breiten Einzug in die Ökosystembiologie. Denn egal ob Nahrungskette, Ökosystem oder Planet: Alle komplexen Systeme – auch der Mensch selber ist ein solches – ähneln einander.

Zum einen bestehen sie aus klar voneinander unterscheidbaren Elementen, zwischen denen es Wechselwirkungen gibt (Bäume, Raupen, Vögel, etc.). Zum anderen haben komplexe Systeme sogenannte Gleichgewichtszustände. Das sind Zustände, die über längere Zeiträume konstant bleiben, in denen die "Kräfte" im System einander quasi ausgleichen und kleine Veränderungen korrigiert werden: Vermehren sich die Raupen zu stark, finden die Vögel sie leichter und der "Überschuss" wird gefressen – gibt es zu wenige, zahlt sich die Suche für die Vögel nicht aus und die Raupen können nachwachsen.

Eine bräunliche Raupe krabbelt auf dem Zweig eines Nadelbaumes.
Der Östliche Fichtenknospenwurm (Choristoneura fumiferana) ernährt sich von Fichten- und Tannennadeln. Seine etwa alle 50 Jahre auftretende explosionsartige Vermehrung, die zu massiven Waldschäden in der Großen Seen-Region Nordamerikas führt, ist Gegenstand eines berühmten, in den 1970er-Jahren von Forscher*innen an der University of British Columbia erstellten Modells. Durch dieses fand das Konzept der Kipppunkte breiten Einzug in die Ökosystembiologie. © Jerald E. Dewey, USDA Forest Service (via Wikipedia) CC BY 3.0

Drittens gibt es in diesen Systemen Kipppunkte (Tipping Points): Wenn ein Teilelement einen bestimmten Wert überschreitet, verändert sich das gesamte System scheinbar plötzlich stark. Werden beispielsweise die Bäume, auf denen die Raupen leben, sehr groß, können sie sich gut vor ihren Fressfeinden verstecken und stark vermehren. Schließlich sind es so viele Raupen, dass auch die Vögel nichts mehr ausrichten können und der Wald kahlgefressen wird: Das System ist gekippt.

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Weil das Überschreiten von Kipppunkten in komplexen Systemen oft mit Krankheit, Katastrophen oder Zerstörung einhergeht – zum Beispiel durch Überschwemmungen, Trockenheit, Artensterben und deren soziale Folgen Hunger, Seuchen und Krieg – versuchen wir meist, einem solchen Szenario entgegenzusteuern. Allerdings sind auch soziale Transformationen wie die Verkehrswende oder die Energiewende von Kipppunkten gekennzeichnet. Ganz gleich aber, ob wir bestimmte Kipppunkte als positiv oder negativ wahrnehmen: Wir müssen sie verstehen und vorhersagen können, wenn wir komplexe Systeme beeinflussen möchten.

Die Welt durch die Augen der Mathematik sehen

Hier kommt die Mathematik ins Spiel. Denn: "Wenn man die Gleichung kennt, kann man das Verhalten eines Systems verstehen. Und dann ist es ganz egal, ob man es mit Raupen, dem Klima oder mit Gruppenbewegungen zu tun hat", sagt Sara Merino-Aceituno. Die Mathematikerin forscht an der Uni Wien zum Thema "Emergenz" – der Frage, wie die Interaktionen der Elemente innerhalb eines Systems großräumige Strukturen erzeugen, also z.B. wie aus dem Verhalten einzelner Vögel die Bewegung eines Schwarms wird.

"Das Wunderbare an der Mathematik ist, dass sie so vielseitig ist, dass dieselben Werkzeuge bei auf den ersten Blick völlig unterschiedlichen Systemen angewandt werden können", beschreibt die Wissenschafterin ihre besondere, "mathematische Perspektive" auf die Welt. (Lesen Sie auch: The hidden patterns our world is made of)

© Amalio Fernández-Pacheco
© Amalio Fernández-Pacheco
Sara Merino-Aceituno ist überzeugt, dass die Wissenschaft für einen gesunden Planeten unverzichtbar, aber nicht ausreichend ist: "Viele Menschen beachten wissenschaftliche Erkenntnisse nicht. Dann wieder gibt es Menschen, die ihre Verantwortung an irgendwelche noch nicht vorhandene technologische Entwicklungen abschieben. Wir brauchen aber sowohl eine wissenschaftsbasierte Politik als auch die aktive Anteilnahme der Gesellschaft. Die Wissenschaft kann keine Pille erfinden, die es den Menschen erlaubt, ein ungesundes Leben zu führen und dann gesund zu sein."

Ihre Forschung auf dem Gebiet der kinetischen Theorie wendet sie auf die Untersuchung neuer Phänomene in der Biologie, der Medizin und den Sozialwissenschaften an. Sie erwarb ihren PhD an der University of Cambridge und ist seit 2018 Mitglied Fakultät für Mathematik an der Universität Wien.

Was alle komplexen Systeme gemeinsam haben, sind sogenannte Gleichgewichtszustände, die von bestimmten Parametern abhängig sind, erklärt Merino-Aceituno: "Parameter sind dabei Werte, die von der Umgebung vorgegeben sind und sich nicht verändern oder wenn, dann höchstens viel langsamer als die Variablen des Systems. Es sind die Stellschrauben, die die Entwicklung des Systems leiten."

Bewegt verschwommene Menschen in einer U-Bahn-Passage. Auf der rechten Seite bewegen sie sich ins Bild hinein, auf der linken Seite aus dem Bild heraus.
Passant*innenströme als Beispiel für Gleichgewichte in emergenten Systemen: Wenn die Dichte an Personen einen bestimmten Schwellwert überschreitet, bilden sich selbst-organisierte Bahnen für die verschiedenen Richtungen. Sara Merino-Aceituno erklärt: "Dies ist ein gutes Beispiel für die Bedeutung von Parametern für das Verhalten eines emergenten Systems – wenn Parameter wie die Personendichte ihren Wert ändern, kann das Verhalten des Systems völlig anders sein, auch wenn die Gleichungen sonst genau gleich bleiben." © Martin Adams (via Unsplash)

Der Weg zurück ist viel länger als der Hinweg

Und diese Parameter spielen eine zentrale Rolle bei einer weiteren Eigenschaft, die für das Verstehen komplexer Systeme wichtig ist: der sogenannten "Hysterese". Das ist die Unfähigkeit eines Systems, eine durch eine kleine Änderung der Parameter – also das Überschreiten eines Kipppunktes – hervorgerufene Veränderung durch eine ebenso kleine Rückveränderung rückgängig zu machen. Man müsse die Parameter im Gegenteil um viele Schritte zurücknehmen, um das System in seinen ursprünglichen Zustand zurück zu bringen. Merino-Aceituno: "Solche Rückveränderungen sind also zwar mathematisch-theoretisch möglich, jedoch in der Praxis oft nicht." 

Warum nicht, das veranschaulicht ihr Fachkollege Henk Bruin, ebenfalls Mathematiker an der Uni Wien und spezialisiert auf Erforschung dynamischer Systeme, am Beispiel des antarktischen Eises: "Eine Erwärmung der Atmosphäre um ein oder zwei Grad Celsius kann den Verlust des westantarktischen Eisschildes bedeuten. Um das ewige Eis aber zurückzubekommen, müsste man die Erde um einen ungleich größeren Temperaturunterschied abkühlen."

Schmelzende, bereits durchsichtige Eisblöcke im sonnenglitzernden Meer. Im Hintergrund schneebedeckte Berge.
Wenn sich die Erde um 1-2°C erwärmt, schmilzt der westantarktische Eisschild. Eine Abkühlung um 1-2°C wird ihn aber nicht zurückbringen. © Jeremy Ricketts (via Unsplash)

Wir haben schon eingangs bei den Raupen ein anderes Beispiel für eine Hysterese gesehen: Erst wenn der Wald kahl gefressen ist und die Raupen in der Folge in großem Stil absterben, kann das System sich wieder erholen – mit kleinen Bäumen, in denen überzählige Raupen von den Vögeln relativ einfach gefunden werden.

Einfache Voraussetzungen für komplexes Verhalten

Henk Bruin schreibt nun eine ganz einfache Gleichung auf ein Blatt Papier (siehe Abb.) und erklärt: "Dies ist die Normalform für Systeme mit solchen Kipppunkten. Sie ist ganz einfach, hat nur eine Variable und zwei Parameter. Mathematische Modelle in der Klimaforschung, der Ökologie und auch der Ökonomie haben aber eine Vielzahl an Variablen und Parametern. Bei derart komplexen Systemen ist es quasi sicher, dass man eine Kombination an Parametern findet, wo Kipppunkte auftreten."

Handgeschriebene Notizen auf einem Block: "Normal Form for the Cusp Bifurcation. du/dt = r + ku + u^3. Stationary points du/dt = r + ku + u^3 = 0 (1). Saddle node bifurcations when the derivative of the RHS k + 3u^2 = 0. (2)"
Die Normalform eines Systems mit Kipppunkten, "Cusp Bifurcation" in der Fachsprache der Mathematiker*innen. Sie enthält nur eine Variable (u, z.B. die Zahl der Raupen) und zwei Parameter (r und k, z.B. die Größe der Bäume und den Befraß durch Vögel). Henk Bruin erläutert: "Mathematische Modelle in der Klimaforschung, der Ökologie und auch der Ökonomie haben aber eine Vielzahl an Variablen und Parametern. Bei derart komplexen Systemen ist es quasi sicher, dass man eine Kombination an Parametern findet, wo Kipppunkte auftreten." © Handschrift: Henk Bruin. Foto: Kelly Sikkema (via Unsplash)
© Barbara Mair
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Henk Bruin fordert einen globalen Zugang zu unserem Umgang mit Treibhausgasen und Abfällen aller Art, bei deren Vermeidung und Aufbereitung auch an weniger wirtschafts- und finanzstarke Länder gedacht werden müsse. Bruin: "Ein wenig Hoffnung gibt mir die Tatsache, dass wir etwas gegen FCKW und den Abbau der Ozonschicht unternommen haben. Hoffentlich bringen neue biochemische Techniken auch bessere Möglichkeiten in der Abfallverarbeitung von Kunststoffen."

Bruin promovierte an der Technischen Universität Delft und ist seit 2012 an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien. Seine Spezialgebiete sind dynamische Systeme, Ergodentheorie, komplexe Dynamik und Kontinuumstheorie.

Was aber, wenn man die Gleichung eines Systems gar nicht kennt? Der große Geniestreich bei guten Modellen ist es oft nicht, eine Gleichung zu deuten, sondern zu identifizieren, welche Faktoren überhaupt eine Rolle spielen. Denn diese kennen wir oft noch gar nicht, weder bei hochkomplexen Systemen wie dem globalen Klima noch bei – immer noch sehr komplexen – Subsystemen wie beispielsweise dem Ökosystem Boden. Wie kann man Kipppunkte dann identifizieren – idealerweise noch bevor man sie überschreitet?

Mikrobielle Gemeinschaften bestimmen die Gesundheit des Planeten

Eine, die uns diese Fragen beantworten kann, ist Christina Kaiser. Sie ist eine der Leiter*innen des neuen Clusters of Excellence "Microbiomes Drive Planetary Health" der Universität Wien und betrachtet mikrobielle Gemeinschaften als dynamische Systeme.

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Microbiomes drive Planetary Health: Unter diesem Titel bündeln 30 Wissenschafter*innen um den Uni Wien-Mikrobiologen Michael Wagner ihre Kompetenzen. Gemeinsam möchten sie erforschen, wie Mikrobiome – spezifische Gemeinschaften von Mikroorganismen, die alle Ökosysteme, Tiere, Pflanzen und den Menschen besiedeln – die Gesundheit unseres Planeten steuern.

"Die ideale Gleichung für Ökosysteme können wir nicht kennen. Dazu sind unsere Messdaten zu unvollständig – und wir wissen oft nicht einmal, welche Faktoren welche Rolle spielen," erklärt Kaiser die Herausforderung in der Ökologie, gerade wenn es darum geht, globale Stoffwechselkreisläufe zu beschreiben. Diese Unklarheit wird besonders dort zum Problem, wo Prozesse, die in kleinsten Maßstäben im Boden ablaufen – so klein, dass die räumliche Struktur des Bodens zum prozessbestimmenden Labyrinth wird – mit den wirklich planetaren Systemen wie den großen Permafrostgebieten, den Wäldern und den Ozeanen auf engste Weise verknüpft sind.

© Pamela Nölleke-Przybylski
© Pamela Nölleke-Przybylski
Christina Kaiser forscht an den Mechanismen, die hinter den großen, von mikrobiellen Gemeinschaften getriebenen Stoffwechselkreisläufen der Erde stehen. Sie ist überzeugt, dass wir dieses Verständnis dazu einsetzen müssen, die Ökosysteme wo noch möglich in ihren gegenwärtigen Gleichgewichten zu halten, um ein gutes Leben für alle (noch verbleibenden) Lebewesen zu ermöglichen.

Kaiser promovierte an der Universität Wien und ist nach Stationen an der University of Western Australia und am International Institute for Applied System Analysis seit 2014 Group Leader und seit 2022 assozierte Professorin am Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft. Sie ist Mitglied des Forschungsverbunds Klima und Umwelt (ECH) an der Universität Wien.

Sujet des Forschungsverbunds Umwelt und Klima eine Illustration einer Hand, die einen von Vögeln umgebenen Baum hält

Forschungsverbund Umwelt und Klima

Christina Kaiser ist Mitglied des Forschungsverbunds Umwelt und Klima der Universität Wien (ECH), ein Netzwerk von Forscher*innen aus allen Disziplinen, die sich mit den Themen Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit beschäftigen. Mehr Infos zum Forschungsverbund

Tippgeber für Kipppunkte

Allerdings gibt es sehr klare Indizien dafür, ob sich ein System einem oder mehreren Kipppunkten annähert: In der Nähe eines Kipppunktes sind die "Kräfte", die ein System im Gleichgewichtszustand halten, nämlich schwächer. Daher wird es für ein System, das mehr oder weniger zufälligen Schwankungen ausgesetzt ist, immer schwieriger, zu seinem Gleichgewichtszustand zurückzufinden – Kaiser spricht von einer "kritischen Verlangsamung" der Systeme.

Gleichzeitig wird es durch diese Schwankungen auch einfacher, in andere Gleichgewichtszustände zu rutschen. Systeme nahe einem Kipppunkt springen daher oft zwischen zwei Gleichgewichtszuständen hin und her – "Flickern" nennen die Ökosystemforscher*innen dieses Verhalten. "Noch interessanter ist dieses Phänomen, wenn es um räumliche Muster geht", beschreibt die Ökologin: "Dort bilden sich in der Nähe von Kipppunkten nämlich sehr regelmäßige, labyrinthartige Muster aus."

Ein Raster (6x4) von Simulationsbildern. Die linken und unteren Bilder zeigen ein Rauschen vieler kleiner Punkte, die anderen spiralige und gekrümmte Linien dicht organisierter Punkte auf einem sonst einheitlichem Hintergrund.
Graphischer Output eines Computermodells, das Mikroorganismen simuliert, die gemeinsam organisches Substrat (z.B. im Boden) abbauen: Christina Kaiser erklärt: "Entlang von zwei unabhängigen Parametergradienten (x- und y- Achse) gibt es jeweils einen Punkt, in dem das System von einer gleichmäßigen Verteilung der Mikroorganismen plötzlich in eines übergeht, in dem sich die Mikroorganismen in Mustern organisieren. In der Simulation hat das dann auch drastische Auswirkungen auf die internen Prozesse und Stoffflüsse im System." © Christina Kaiser

Und all das kann man laut Kaiser in echten Ökosystemen auch tatsächlich beobachten. Zum Beispiel in historischen Daten: Vor 34 Millionen Jahren wechselte die Erde sprunghaft von einem sogenannten "Glashaus-Klima" zum aktuellen "Kühlhaus-Klima", das sich durch die Vereisung der Antarktis auszeichnet. Und just vor diesem Sprung zeigen sogenannte Proxydaten, also bis heute erhaltene Spuren und Überreste, die Aufschluss über die damaligen Temperaturen zulassen, dass die Temperaturschwankungen zunehmend "träger" wurden.

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In komplexen Systemen bestimmen die Details das große Ganze

"Diese Dynamiken besser zu verstehen ist essenziell um gegensteuern zu können", spricht Kaiser von ihrer Motivation, Böden als komplexe Systeme zu verstehen, wo sich oft kleine Details als Gamechanger für das große Ganze herausstellen. "Denn für einen gesunden Planeten ist es wichtig, die systemischen Gleichgewichte zu wahren, sodass alle Arten gut darauf leben können."

Schließlich habe das Überschreiten der ökologischen Kipppunkte so katastrophale Änderungen zur Folge, dass ein gutes Leben auf der Erde schlichtweg nicht mehr möglich sei. "Um ein solches Szenario zu verhindern, ist es höchste Zeit, rasch und entschieden gegenzusteuern, was nur mit massiven sozialen und politischen Änderungen möglich sein wird", betont die Ökologin.

Bewohnbarkeit als interaktive Eigenschaft

Massive soziale und politische Änderungen stehen uns aber ohnehin auch im Worst Case-Szenario bevor – wenn wir die Ökosysteme über ihre Kipppunkte treiben. Im Institut für Geographie und Regionalforschung beschäftigt sich Harald Sterly mit der Frage, wie Umweltveränderungen die Bewohnbarkeit von Regionen beeinflussen und wie Menschen darauf reagieren.

Im Projekt HABITABLE stellt Sterly die ganz grundsätzlichen Fragen, zum Beispiel: Was bedeutet "bewohnbar" überhaupt? "Eine Trockenssavanne ist zwar für Reisbäuer*innen unbewohnbar, die an diese Verhältnisse gut angepassten Hirtennomad*innen aber können dort relativ gut überleben", veranschaulicht der Humangeograph diese Frage der Definition: Umgekehrt gebe es beispielsweise in Ostdeutschland viele Landstriche, in denen ohne Zweifel Landwirtschaft möglich ist, die aber dennoch zunehmend von ihren Bewohner*innen verlassen werden. "Bewohnbarkeit ist eine Eigenschaft, die aus der Interaktion zwischen Mensch und Ort erwächst", erklärt Sterly.

© Harald Sterly
© Harald Sterly
Harald Sterly beschäftigt sich mit räumlichen und sozialen Aspekten des Nexus von Klima- und Umweltveränderungen und verschiedener Formen von Mobilität und Migration. Für einen gesunden Planeten, der gesundes Leben ermöglicht, wünscht er sich: globale Solidarität im Umgang mit der Klimakrise; ein Umdenken weg vom Fokus auf finanziellen Wohlstand hin zu einem Leben in zwischenmenschlichen Beziehungen; und einen Ausstieg aus dem Wachstumsdenken.

In seiner Dissertation beschäftigte er sich mit mobiler Kommunikation und translokalen sozialen Beziehungen von Land-Stadt-Migranten in Bangladesch. Danach koordinierte er ein Forschungsprojekt zu mega-urbanen Dynamiken und Informalität in Bangladesch und China sowie zu den Zusammenhängen zwischen Migration, translokalen Verbindungen und sozialer Resilienz in Thailand. Nun arbeitet der Humangeograf am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien.

Das Verhalten ist klar, die Deutung schwierig

Trotz aller Unsicherheit bei den Definitionen kann man in vielen Gesellschaften aber eindeutig Kipppunkte beobachten. Das gehe laut Sterly am einfachsten, wenn Verhaltensweisen, wie zum Beispiel Abwanderung, Geburtenraten, Lebens(erhaltungs)stile etc. plötzlich starken Änderungen unterworfen seien. "Aber ob das gut oder schlecht ist, ist auch eine Frage der Deutungshoheit," wirft Sterly ein und warnt in diesem Zusammenhang auch vor einer "Settlement Bias". Oft betrachten wir Migration und Mobilität nämlich grundsätzlich als etwas Außergewöhnliches im Gegensatz zur Sesshaftigkeit. Sterly erklärt: "Wir neigen dazu, Abwanderung immer als etwas Schlechtes wahrzunehmen. Aber in vielen Risikogebieten möchten Menschen oft eigentlich gerne wegziehen, nur lassen es die Bedingungen nicht zu." Deshalb könne auch Immobilität, vor allem angesichts sich verschlechternder Umweltbedingungen, problematisch sein.

Umgekehrt gebe es auch Abwanderungen, die nicht von den Abwandernden selbst motiviert seien, sondern von der Politik initiiert. So habe beispielsweise die Regierung der Philippinen nach dem Taifun Haiyan 2013 einige Gebiete als "unsicher" bewertet und es der evakuierten Bevölkerung verboten, zurückzukehren.

Die systemische und die politische Perspektive

"Soziale Systeme folgen teilweise anderen Gesetzmäßigkeiten als beispielsweise ökologische," sagt Sterly. "Für solche menschlichen Systeme spielen Macht, Symbole und Diskurse eine wesentliche Rolle." Eine systemische Perspektive sei in der Geografie zwar sinnvoll, allerdings brauche es zusätzlich auch eine politisch-ökologische Perspektive, welche Konflikte und Machtdynamiken in den Vordergrund stellt, gibt der Uni Wien-Forscher zu bedenken.

Ein weites Landschaftsbild. Landwirtschaftlich genutzte Hügel. Der Boden ist braun und kahl. Weiter unten sind noch Terrassen erkennbar wie sie im Reisanbau gebaut werden, allerdings wächst hier kein Reis.
Dass soziale und ökologische Kipppunkte miteinander verschränkt sein können, erklärt Harald Sterly anhand von Maisfeldern in Nordwest-Thailand: "Hier sehen wir die Auswirkungen unter anderem von Bildungsmigration auf die Land(wirt)schaft – weil junge Leute für Ausbildung und Studium in die Städte gehen, sehen sich immer mehr Menschen gezwungen, von traditionellen und nachhaltigen Landnutzungspraktiken auf den Anbau von Mais umzusteigen. Durch wirtschaftliche Abhängigkeiten von Düngemittel- und Saatguthändler*innen ist der Wechsel zurück dann allerdings nur sehr schwer möglich." © Harald Sterly

Zumindest in demokratischen Systemen, die von "konkurrierenden Mainstream-Narrativen" geprägt seien, rufe dies aber ohnehin neue Kipppunkte – hier spricht man von Transitionen – auf den Plan und zwar dort, wo ehemals vielleicht belächelte Meinungen oder Nischeninteressen plötzlich mehrheitsfähig werden und den politischen Diskurs prägen. Als Beispiele nennt Sterly die Verfügbarkeit veganer Produkte im Supermarkt, das Fahrradfahren in der Stadt oder die weitverbreitete Installation von PV-Anlagen. Irgendwann sei jeweils der Punkt erreicht, wo es plötzlich wirtschaftlich interessant oder einfach gesellschaftlich akzeptiert wird, betreffende Infrastrukturen aufzubauen.

Für Christina Kaiser sind diese sozialen Kipppunkte ein Grund zur Hoffnung. "Wir laufen gerade Gefahr, dass alle Bemühungen, allen voran das 1,5-Grad-Ziel, scheitern, weil es trotz ganz wichtiger Bewegungen, die viel Druck, viel Aufmerksamkeit und auch viel echtes Verständnis erzeugt haben, so viele Gegenkräfte gibt. Wenn wir einen solchen 'positiven' sozialen Kipppunkt erreichen und es dann vielleicht auch eine wirtschaftliche Frage wird, könnte es sein, dass Veränderungen schnell gehen und sich durchsetzen."

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Der nächste Schritt ist gewiss

Kipppunkte sind überall um uns herum und es ist alternativlos, dass wir einige davon erreichen werden. An der Universität Wien forschen Wissenschafter*innen verschiedener Fakultäten an den Grundlagen, um die aktuellen Entwicklungen noch zu verändern. Sara Merino-Aceituno, Henk Bruin, Christina Kaiser und Harald Sterly sind sich einig, dass dies aber nicht genug ist. Denn abgesehen von den wissenschaftlichen Erkenntnissen braucht es auch politischen Konsens um die Ernsthaftigkeit der Situation sowie breite Teile der Gesellschaft, die beim Bewältigen der Krise mitmachen. Gerade dabei kommt es aber noch zu großen Reibungsverlusten.

Es geht nun also darum, soziale Kipppunkte zu erreichen. Und die Fragen, denen wir uns dazu stellen müssen, sind laut den vier Expert*innen der Universität Wien unter anderem folgende: Schaffen wir es, rasch genug denselben politischen Willen aufzubringen, mit dem wir auch die Corona-Pandemie überwinden konnten, um den gefährlichsten Entwicklungen des Umweltwandels entgegenzuwirken und die schlimmsten Folgen abzufedern? Und schaffen wir es dabei auch, Menschen mitzudenken, die tausende Kilometer weit entfernt mit den Folgen unseres Handelns hier zu kämpfen haben? Oder bleiben wir in unserem aktuellen politischen Gleichgewicht, bis zuerst unsere Umwelt und dann auch unsere soziale Umgebung neue Tatsachen schafft? (ds)