Schutz der Meere dringend notwendig
Rudolphina: Q-MARE ist ein globales Netzwerk von Wissenschafter*innen aus unterschiedlichen Fachbereichen, die sich alle mit marinen Ökosystemen beschäftigen. Was ist das Ziel dieses Netzwerks?
Konstantina Agiadi:
Jede*r von uns – Paläontolog*innen, Historiker*innen, Archäolog*innen oder Meereswissenschafter*innen – arbeitet zwar in anderen Regionen oder an spezifischen Themen, aber schlussendlich hat Q-MARE ein gemeinsames Ziel: vorindustrielle Einflüsse von Klima und Menschen auf marine Ökosysteme zu untersuchen.
Wir müssen eine Vergleichsbasis schaffen, um die enormen Veränderungen in unseren marinen Ökosystemen wirklich verstehen zu können. Viele Veränderungen heutzutage sind auf den menschlichen Einfluss zurückzuführen, vom Klimawandel bis hin zur Umweltverschmutzung und Überfischung. Eine Vergleichsbasis könnte uns zeigen, wie unsere Meere aussehen würden, hätten sie nicht unter diesen Einflüssen gelitten. Sie hilft uns auch dabei, die Veränderungen, die heutzutage stattfinden zu evaluieren und effizientere Mittel zum Schutz unserer Ozeane zu etablieren.
Dabei versuchen wir herauszufinden, wie wir Veränderungen des marinen Ökosystems durch natürliche Klimaschwankungen, wie Eisschmelze, von jenen unterscheiden können, die durch menschliche Aktivitäten entstanden sind. Natürlich muss die Vergleichsgrundlage für jede Region anders sein: In manchen Regionen war der menschliche Einfluss erst im 20. Jahrhundert deutlich spürbar, während es in anderen Regionen, wie der Adria, bereits seit der Römerzeit intensive menschliche Aktivitäten gab.
Rudolphina: Worin liegt der Vorteil, mit Wissenschafter*innen aus so vielen unterschiedlichen Fachbereichen zusammenarbeiten?
Konstantina Agiadi: Wir treffen uns üblicherweise nicht, da jedes Feld seine eigene Fachwelt hat. Das Netzwerk hilft hier sehr, indem es Leute zusammenbringt. Beispielsweise könnten ein*e Archäolog*in nahe der Küste Ausgrabungen betreiben und ein*e Paläobiolog*in Meeresorganismen in der gleichen Gegend untersuchen, ohne dass sie voneinander wissen. Die Archäolog*innen finden vielleicht die Überreste eines Organismus, der vom Fischfang betroffen war, und ziehen daraus Rückschlüsse auf die Fangtechniken und die Anzahl von gefangenen Fischen. Die Paläobiolog*innen hingegen könnten feststellen, dass die Bestände dieses Fisches zurückgegangen sind. Ohne das Verhalten der Menschen zu dieser Zeit zu kennen, werden die Paläolog*innen nicht in der Lage sein, eine schlüssige Erklärung für dieses Muster zu finden.
Rudolphina: Was ist der große Unterschied zwischen Veränderungen in der Vergangenheit und heutigen Veränderungen?
Konstantina Agiadi: Der globale Aspekt. Heutzutage findet Veränderung überall statt und begrenzt sich nicht mehr auf die lokale Ebene. Dazu kommt natürlich auch, dass die Veränderungsrate sehr hoch ist. Sie findet nicht nur global statt, sondern auch in einem sehr, sehr rasanten Tempo.
Vorhersagen zum Klimawandel sind düster, und wir sehen, wie Nationen und ihre Anführer*innen nicht immer tun, was sie sollten, um einen weiteren Verfall der Umwelt zu verhindern.Konstantina Agiadi
Rudolphina: Q-MARE blickt hauptsächlich in die Vergangenheit. Prognostizieren Sie auch zukünftige Szenarien?
Konstantina Agiadi: In der ersten Phase ist das noch nicht unser Schwerpunkt, aber in Zukunft werden wir es auch verfolgen. Einige unserer Wissenschafter*innen verwenden ihre geohistorischen Beobachtungen bereits, um Ökosystemmodelle für die Zukunft zu entwickeln und zu validieren. Leider ist es so, dass einige der von Menschen verursachten Veränderungen in den marinen Ökosystemen unumkehrbar sind. Beispielsweise kann das, was seit so vielen Jahren im Mittelmeerraum aufgrund des Klimawandels und menschlichen Einflusses passiert ist, nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wir haben das Ökosystem bereits komplett verändert.
Rudolphina: Wie schlimm ist die Situation im Mittelmeer?
Konstantina Agiadi:
Die Gruppe Conservation Palaeobiology and Historical Ecology geleitet von Martin Zuschin, zu der ich gehöre, setzt sich aus vielen Forscher*innen zusammen, die an Projekten im östlichen Mittelmeerraum arbeiten. Wir beobachten enorme Veränderungen aufgrund von Raubbau, Fischerei mit Schleppnetzen und Umweltverschmutzung, aber auch durch den Klimawandel in Verbindung mit der Öffnung des Suezkanals: Viele Organismen, wie Fische oder Schalentiere, werden vertrieben. Viele sind aufgrund der kühleren Verhältnisse in den Norden gezogen. Aber wie viel weiter nördlich können sie noch ziehen? Der Mittelmeerraum ist ein relativ begrenztes Meer.
Das stimmt einen traurig. Es gab Theorien darüber, dass diese Organismen sich an die neuen Umstände adaptieren würden. Aber dem ist nicht so. Griechenland ist nicht die Bahamas. Es wird schlimm werden. Denn selbst, wenn die Ökosysteme sich in den Norden verschieben, können sich die Organismen nicht völlig an die nördlichen Breitengrade anpassen.
Q-MARE-Netzwerk
Q-MARE ist eine Arbeitsgruppe und Teil der internationalen Initiative Past Global Changes (PAGES), die 2022 ihre Arbeit begann. Alle an der Arbeitsgruppe beteiligten Wissenschafter*innen untersuchen marine Ökosysteme auf unterschiedlichen Zeitskalen, in unterschiedlichen Perioden und Gebieten der Welt. Das gemeinsame Ziel dieses globalen Netzwerkes ist, das Klima und die vorindustriellen menschlichen Einflüsse auf marine Ökosysteme zu beleuchten. Mehr über Q-MARE
Rudolphina: Was kann man tun?
Konstantina Agiadi:
Ich denke, es ist sehr wichtig, zu verstehen und zu schätzen, was wir noch haben. Deshalb geht die Arbeitsgruppe Q-MARE auch speziell auf Bildung ein, da es wirklich wichtig ist, dass junge Menschen, Schüler*innen, Student*innen und Kinder wissen, was wir früher hatten. Zurzeit entwickeln wir auch ein Lehrhilfsmittel, das auf unserer Webseite ab Sommer verfügbar sein wird.
In jeder Generation glauben die Menschen dieser Generation, dass das, was sie erleben, normal ist, da sie nicht wissen, wie es vorher war. Dieses Phänomen nennt man Shifting Baseline Syndrome – dagegen müssen wir wirklich ankämpfen, da die Situation, in der wir leben, nicht normal ist. Es ist nicht so, wie es sein sollte. Das sollte uns und den jüngeren Generationen bewusst sein. Nicht unbedingt, weil wir versuchen müssen, es rückgängig zu machen (was in vielen Fällen nicht möglich ist), sondern um hervorzuheben, dass wir das, was wir noch haben, beschützen und weitere Veränderungen verhindern müssen.
Vorhersagen zum Klimawandel sind düster, aber wir sehen, wie Nationen und ihre Anführer*innen nicht immer tun, was sie sollten, um eine weitere Zerstörung der Umwelt zu verhindern.
Wir sollten wirklich versuchen, das zu schützen, was noch übrig ist. Sonst wird uns, was die Ozeane betrifft, "das Wasser bis zum Hals stehen", wie das berühmte Sprichwort besagt.Konstantina Agiadi
Rudolphina: Was ist ihre persönliche Motivation, an diesem Projekt mitzuarbeiten?
Konstantina Agiadi: Ich glaube an die Kraft der Vernetzung. Mit unterschiedlichen Expert*innen, wie etwa Archäolog*innen, Historiker*innen, usw. zu interagieren, ist für mich sehr wichtig. Es inspiriert mich als Wissenschafterin. Da wir alle das gleiche Thema aus unterschiedlichen Perspektiven bearbeiten, erhalten wir einen umfassenden Überblick von marinen Ökosystemen und können sie so noch besser schützen.
Rudolphina: Die aktuelle Semesterfrage der Universität Wien befasst sich mit Planetary Health. Welche Art von neuer Lebensqualität würde ein gesünderer Planet bringen?
Konstantina Agiadi: In den geschichtlichen und archäologischen Belegen finden sich mehrere Beispiele dafür, in denen menschliche Gemeinschaften Praktiken und Regeln für einen nachhaltigen Umgang mit dem marinen Ökosystem entwickelt haben. Auf diese Weise waren die Menschen in der Lage, die Ressourcen des Meeres zu nutzen, ohne sie zu erschöpfen oder zu schädigen. Diese Methoden sind heutzutage besonders wichtig, da sie unsere Managementmaßnahmen leiten können, nicht nur auf einer lokalen, sondern auch globalen Ebene.
Rudolphina: Vielen Dank für das Interview!