Wie globale Kipppunkte Marine Ökosysteme in Gefahr bringen
Wer an Bord der "Maria S. Merian" geht, darf sich keine Luxuskreuzfahrt erwarten. Rauer Seegang und eisiger Polarwind sind an der Tagesordnung. Die arktische Sonne scheint 24 Stunden am Tag, wenn sie nicht von Sturmwolken verdeckt wird. Die Kommunikation mit dem Festland ist auf das Notwendigste beschränkt, die tägliche "Internetzeit" stark rationiert. Unter diesen Bedingungen muss täglich harte Arbeit geleistet werden. Tonnenschwere Probebehälter werden auf bis zu 1.500 Meter Tiefe abgelassen, bei hohem Wellengang kann im Bordlabor schon einmal eine Pipette davonfliegen. Das ist der Alltag auf dem Forschungsschiff Maria S. Merian, auf dem derzeit eine Forschungscrew der Uni Wien wertvolle Daten über das polare Ökosystem sammeln.
Die Fahrt auf der Merian wird von den Forscher*innen der Uni Wien mit einem kleinen Blog und einem Instagram-Takeover begleitet. Wer schon immer wissen wollte, was der Alltag auf einem Polarforschungsschiff mit sich bringt, kann im univie Blog und auf dem Instagram-Kanal @univienna vorbeischauen.
Eine Seefahrt, die ist … wichtig
Trotz der anspruchsvollen Bedingungen sind die insgesamt 20 Plätze auf dem Schiff heiß umkämpft. "Für unsere Forschungsgruppe waren dieses Mal nur vier Plätze frei. Meine Studierenden wollen da alle mitfahren. Das ist für sie natürlich ein Erlebnis!", sagt Gerhard J. Herndl, Leiter der Forschungsgruppe "Microbial Oceanography" am Department für Funktionelle und Evolutionäre Ökologie der Universität Wien. Auf der insgesamt dreiwöchigen Tour werden im Rahmen des EU-Projekts "ECOTIP" drei Fjorde an der Nordostküste Grönlands angesteuert. Die Route führt vom Norden Islands zuerst nach Nordosten über die Dänemarkstraße bis an die Ostküste Grönlands. Von dort geht es immer weiter nordwärts bis in Gegenden, wo es wenig Schiffsverkehr und erst recht keine Menschen mehr gibt. "Die Fjorde hier sind komplett vergletschert, von dort läuft Süßwasser in den Ozean", beschreibt Herndl: "Die Eisschmelze wird durch die rapide Erderwärmung beschleunigt und ist die Ursache für viele weitreichende Veränderungen von der lokalen Ökologie bis hin zum Weltklima."
"Die Forschung legt deshalb ein spezielles Augenmerk auf die Arktis, weil hier die Klimaveränderungen extrem sind und das gesamte Weltklima beeinflussen."Gerhard J. Herndl
Forschungsprojekt untersucht multiple Stressfaktoren in einem sensiblen Ökosystem
Beim Projekt "ECOTIP" geht es um sogenannte Tipping Points – Wendepunkte – im Nahrungsnetz des arktischen Ozeans. "Jeder Organismus und jedes Ökosystem hat ein gewisses Spektrum an Bedingungen, innerhalb dessen er überleben kann, etwa einen Temperaturbereich. Wird dieser Bereich verlassen, also ein Tipping Point überschritten, kann das ganze System nie mehr in seinen ursprünglichen Zustand zurückkommen. Es ist der Point of no Return", erklärt Projektleiter Herndl.
Die Arktis erwärmt sich viel schneller als der Rest der Erde. Die auf Kälte spezialisierten Organismen wandern immer weiter nach Norden und verdrängen die nördlichsten Arten. Zusätzlich ändert sich durch die verstärkte Eisschmelze die Zusammensetzung des Meerwassers. Weil es immer mehr eisfreie Regionen gibt, werden die Nordmeere attraktiver für die globale Schifffahrtsindustrie und intensive Fischerei. Unter diesen vielfältigen Stressfaktoren verändern sich die lokalen Ökosysteme radikal. Dazu kommt, dass die tierischen Lebewesen der Arktis tendenziell langlebiger sind und sich langsamer vermehren als ihre Verwandten in den Tropen. Das Ökosystem Arktis ist also obendrein auch noch ziemlich träge im Umgang mit veränderten Umweltbedingungen.
Thermohaline Zirkulation: Die Arktis als Klimamotor der Erde
Der Nordatlantik ist für das Weltklima von enormer Bedeutung. Zwischen Grönland, Island und Norwegen hat der ursprünglich warme Golfstrom auf dem Weg vom Golf von Mexiko in den östlichen Nordatlantik soviel Wärme an die Atmosphäre abgeben und durch Verdunstung an Salzgehalt zugenommen, dass er letztlich in die Tiefe absinkt und in 2000-3500 m Tiefe nach Süden fließt. Durch die beschleunigte Eisschmelze der letzten Jahre verlangsamt sich dieser Motor aber zunehmend. Das Meereis der Arktis spielt nämlich bei der Abkühlung zwei wichtige Rollen: Zum einen kühlt das Eis den ankommenden Golfstrom, zum anderen gibt das Wasser beim Einfrieren Salz an das umgebende Meerwasser ab. Ein verlangsamter oder gar ausbleibender Golfstrom hätte katastrophale Auswirkungen auf die Verteilung der Nährstoffe im Atlantik und auf das gemäßigte Klima in Europa.
Kleinstlebewesen sind zentral für die Nährstoffversorgung der Weltmeere
Tipping Points erfassen gesamte Ökosysteme, vom winzigen Phytoplankton in einer Kettenreaktion bis hin zu den großen Meeressäugern wie Grönland- oder Narwalen, sie beginnen aber meist bei den kleinsten Lebewesen. Genau diese sind das Spezialgebiet von Gerhard J. Herndl, der seit 2009 an der Uni Wien die Rolle von Mikroorganismen in marinen Ökosystemen erforscht. Eine Schlüsselart, die im Nordatlantik einen Tipping Point auslösen kann, sind die Diatomeen, auch Kieselalgen genannt, die auch in den kältesten Regionen des Polarmeers leben. "Deswegen sind diese Gewässer auch so nährstoffreich – alle Nahrungsnetze im arktischen Polarmeer bauen auf den Diatomeen auf – und wichtig für die Fischerei. Durch die rapiden Veränderungen des Polarmeers werden aber auch diese Kieselalgen von südlicheren Arten verdrängt. In Folge wird sich das ganze Nahrungsnetz ändern und zusätzlich können weniger Nährstoffe über globale Meeresströmungen in tropische Gewässer transportiert werden", schildert der Meeresbiologe und Wittgensteinpreisträger. Es ist also nicht nur die lokale- sondern die globale Balance in Gefahr.
Uni Wien: Untersuchungen von komplexen Gemeinschaften im Meerwasser
Das groß angelegte, europäische Forschungsprojekt, an dem Herndl und seine "Crew" beteiligt sind, fokussiert sich deshalb auf die Regionen im Nordatlantik rund um Grönland. Die diesjährige Forschungsfahrt ist die zweite von insgesamt drei geplanten, die rund um Grönland verschiedenste Daten sammeln, um so einen Überblick über das gesamte Ökosystem zu gewinnen und mit den Daten früherer Expeditionen zu vergleichen. Die Forscher*innen der Universität Wien sind vor allem am Mikroplankton interessiert. In Tiefen von 200 bis zu 1.500 Metern werden auf offener See, wo sich das Schmelzwasser der Gletscher und das arktische Meerwasser vermischen, Proben entnommen. Diese werden einerseits auf die Zusammensetzung und Stoffwechselaktivität der Mikroorganismen untersucht und andererseits wird die Atmungsaktivität aller Lebewesen im Wasser gemessen. "Wichtig ist bei solchen ökologischen Analysen nicht nur die Anzahl der vorhandenen Lebewesen, sondern auch ihre Aktivität und wie sie miteinander interagieren", betont Herndl.
Lokale Daten für globale Modelle
Die Daten der Forscher*innen aus Wien und aller anderen beteiligten Gruppen aus insgesamt elf verschiedenen Ländern, werden in Modellen und Prognosen zum globalen Klimawandel, wie etwa den Weltklimabericht des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change), eingearbeitet. Gerhard Herndl betont dabei die Relevanz von solchen Studien: "Unser Projekt ist nur ein Puzzlestein innerhalb der gesamten Atlantikforschung. Es fokussiert aber auf gewisse Aspekte, die derzeit noch sehr schlecht modelliert werden können und versucht diese Lücken zu füllen. Damit können wir zu Modellen wie dem IPCC-Report einen wichtigen Beitrag leisten und dabei helfen, diese so sensible Region besonders zu schützen."
Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen wie den Theodor-Körner-Preis, den Euroceans Roland Wollast Award for Scientific Achievements in Marine Science in Europe, den Wittgenstein-Preis und 2014 den G.E. Hutchinson Award der Association for the Sciences of Limnology and Oceanography (ASLO). Seit 2013 ist er ordentliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.