Die imperiale Lebensweise – jetzt auch in Grün
"Eine bessere Zukunft lockt" titelte eine große deutsche Zeitung anlässlich des Klimagipfels in Ägypten Anfang November. Zur selben Zeit besetzten Aktivist*innen Stadtautobahnen und Hörsäle an mehreren österreichischen Hochschulen. Mit all diesen Aktionen ist die Forderung an die Politik verbunden, auf fossile Brennstoffe zu verzichten und den politischen Willen aufzubringen, konkrete Schritte in Richtung vollständiger und rascher Dekarbonisierung zu machen. Und tatsächlich sind solche Maßnahmen längst überfällig. Aber…
"Die bisherigen Maßnahmen zur Dekarbonisierung richten sich vor allem auf das Ersetzen eines Kraftstoffs durch einen anderen, damit wir sozusagen so weitermachen können wie bisher. Die Grundlage für dieses 'Weiter-so' ist die Verfügungsgewalt über die Rohstoffe und Energien, die vorwiegend im globalen Süden produziert werden", erklärt Kristina Dietz von der Universität Wien. Die Politikwissenschafterin leitet seit Oktober 2022 das Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien und forscht schwerpunktmäßig zu globalen Ungleichheiten und Machtverhältnissen im Kontext der Energiewende.
Dekarbonisierung zu Lasten der Anderen
Unter dem Begriff "Dekarbonisierung" werden Strategien technologischer Innovation sowie Effizienzstrategien zusammengefasst, die das Ziel haben, CO2-Emissionen aus der existierenden wirtschaftlichen Produktion auszuschließen. Dazu braucht es aber wiederum große Mengen an Rohstoffen und Energien, die in Europa gar nicht hinreichend produziert werden können. Also müssen sie aus anderen Regionen der Welt importiert werden. Europäische Firmen, gefördert durch die EU und nationale Regierungen, investieren daher große Summen in Infrastruktur und Bergbau, um Energie und Rohstoffe zu extrahieren und nach Europa zu bringen.
Kristina Dietz erklärt: Was ist "grüner Exktraktivismus"?
"Mit der Bezeichnung grüner Extraktivismus kritisieren Aktivist*innen und Wissenschafter*innen die Ausbeutung und kapitalistische Aneignung von Rohstoffen, Natureigenschaften (wie Sonnenstrahlung oder Wind) und Arbeit zum Zweck der grün-technologischen Energiewende. Die mit dem Begriff verbundene Kritik verweist auf die strukturellen Bedingungen und Folgen der grün-technologischen Energiewende, die globale Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnisse festschreibt."
Aus Kristina Dietz: "Energiewende und grüne Ausbeutung" (Nachrichten der Rosa Luxemburg Stiftung, 24.08.2022)
Dabei werden oft neue ökologische und soziale Verwerfungen entweder in Kauf genommen oder erst gar nicht berücksichtigt. Das sei im Grunde eine Fortschreibung der "imperialen Lebensweise", ein Begriff, der von den Politikwissenschaftern Ulrich Brand (Universität Wien) und Markus Wissen (Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin) geprägt wurde. Dietz erklärt: "Hier wiederholt sich, was wir aus der Nutzung fossiler Energieträger kennen, nämlich die Ausbeutung von Rohstoffen im globalen Süden für die Nutzung im globalen Norden einerseits und die Externalisierung der ökologischen und sozialen Kosten sowohl des Rohstoffabbaus als auch der Rohstoffnutzung andererseits."
Kolumbien: Innere Widersprüche und äußerer Druck
Kristina Dietz kehrte kürzlich von einer Forschungsreise nach Kolumbien zurück. Die kolumbianische Wirtschaft ist abhängig von Rohstoff- und Agrarexporten, vor allem von Öl, Kohle, Gold und Nickel sowie Bananen und Kaffee. Davon profitiert auch der staatliche Haushalt, der 17 bis 25 Prozent seiner Einnahmen aus diesen Exporten generiert. Deshalb gab es seitens der kolumbianischen Regierungen bisher kaum Interesse daran, auf die Förderung fossiler Energieträger und Rohstoffe und deren Exporte zu verzichten.
Vor dem Hintergrund der aktuell stark gestiegenen Energiepreise sei das allerdings nicht einfach: "Salopp formuliert: jetzt kann man nochmal richtig Geld verdienen, so kurz bevor man aus der Förderung von Öl, Gas und Kohle aussteigt. Das weckt Begehrlichkeiten, sowohl bei der progressiven Regierung, bei den beteiligten transnationalen Unternehmen als auch bei den Investoren", sagt Dietz. Gleichzeitig will die Regierung bis 2030 den Ausstoß von CO2 wesentlich reduziert haben, ab 2050 keine Emissionen mehr verursachen. Diese Widersprüche werden gerade politisch kontrovers ausgetragen.
"Wir beobachten ein Wettrennen um den Zugriff auf Standorte für Produktion und Export."Kristina Dietz
Diese auf den ersten Blick interne Kontroverse werde von außen verschärft: Viele internationale Unternehmen investieren in den Aufbau einer grünen Wasserstoff-Infrastruktur in Kolumbien. Siemens Energy zum Beispiel betreibt eine Wasserstoff-Pilotanlage in Cartagena, Offshore-Windparks werden von dänischen Unternehmen eingerichtet, es gibt Investoren aus Japan, Großbritannien, Spanien, schildert die Entwicklungsforscherin: "Ich war überrascht, wie weitreichend die Investitionen schon getätigt wurden, wie stark die europäischen Regierungen den Ausbau von Infrastrukturen politisch und auch ökonomisch fördern, für etwas, das dort produziert und dann nach Europa exportiert werden soll."
Viel davon passiert im Norden des Landes, wo es sehr sonnig und windig ist – perfekt für die Errichtung von Wind- und Solarenergieanlagen. Diese Region ist allerdings auch eine der ärmsten des Landes und ein Hotspot der Steinkohleproduktion. Die lokale, indigene Bevölkerung in der Gegend lebt von der Landwirtschaft und dem Fischfang. Sie nutzt dafür die Flächen, auf denen jetzt On- und Offshore-Windparks errichtet werden: "Die Interessen der bisherigen Nutzer*innen des Landes, des Wassers und der Rohstoffe, die jetzt so interessant geworden sind, werden am wenigsten berücksichtigt", beobachtet Dietz. "Ich bin gespannt, wie das gelöst wird. Das Problem ist, dass sich anders als bei den Themen 'fossile Energieträger' und 'Bergbau im klassischen Sinne' bisher noch wenig Protest regt. Eine transnationale Politisierung dieser Thematik basierend auf Allianzen zwischen Nord und Süd wird sicher schwierig – denn natürlich ist das ja 'alles für den Schutz des Klimas'. Und wer kann da was dagegen haben?"
Viele politische Weichen sind offenbar schon gestellt. Und diese Weichen erzeugen neue infrastrukturelle und institutionelle Rahmenbedingungen für die Ausbeutung von Rohstoffen, Wind und Sonne im globalen Süden, damit es im globalen Norden so bleiben kann, wie es ist – nur eben in Grün.
Kristina Dietz erklärt: Die Klimakrise braucht eine gesellschaftliche, keine rein technologische Transformation
"Gelingt es, mit dem eingeschlagenen Weg die Klimakrise zu stoppen – und nicht nur den Klimawandel mit seinen ökologischen Folgen in den Griff zu bekommen, sondern auch die gesellschaftlichen Widersprüche aufzulösen, die Ausbeutung der Lebensgrundlagen anderer Gruppen für die Herstellung billiger Produkte, die wir weiterhin gerne konsumieren wollen? Dass jetzt alle früher oder später Elektroautos nutzen, kann nicht die Antwort sein. Ich denke, die Antwort ist eine im wahrsten Sinn des Wortes gesellschaftliche Transformation, wo viel grundlegender über Konsum-, Mobilitäts- und Produktionsmuster nachgedacht werden muss. Das ist eine globale Herausforderung, denn eine Transformation im Sinne der Schaffung nur 'grüner Inseln' geht immer auf Kosten anderer, innerhalb und außerhalb nationaler Grenzen".
Eine Suche nach neuen Ansätzen und Erklärungen
Spannend ist Kolumbien für Dietz auch aus einem anderen Grund: Seit den Wahlen 2022 ist die erste linke Regierung seit der 200-jährigen Unabhängigkeit des Landes an der Macht. Das Interessante dabei ist, dass diese Regierung nun eine "gerechte Energiewende" im Land umsetzen und langfristig auf die Förderung und den Export fossiler Energieträger verzichten will. "Was 'Gerechtigkeit' bedeutet, ist auch hier enorm umstritten und nicht geklärt. Gerechtigkeit ist ein normatives Konzept und abhängig davon, wer vor dem Hintergrund welcher politisch-ökonomischer Interessen und normativen Ideen darüber spricht", erklärt Kristina Dietz.
Was sie dabei in ihrer Forschung besonders interessiert, ist ob man in Kolumbien zu anderen Ansätzen zur Transformation findet als etwa in Österreich – und ob sich andere Akteur*innen einbringen können. Dieser vergleichende Ansatz wird sie in Zukunft auch in andere Länder Lateinamerikas bringen, wo es bei einer vermeintlich ähnlichen Ausgangssituation teilweise sehr unterschiedliche politische und soziale Reaktionen gibt. Die Entwicklungsforscherin sucht nach Erklärungen für diese Unterschiede, aber auch für die Gemeinsamkeiten.
Letztlich geht es Kristina Dietz mit ihrer Forschung darum, die transnationalen Zusammenhänge zwischen der Energie- und Verkehrswende etwa in Europa, den übergeordneten Konzepten sozial-ökologischer Transformation und den damit verbundenen Konflikten und Verwerfungen in Lateinamerika oder Afrika aufzuzeigen. Welche geopolitischen Effekte hat die "Grüne Transformation"? Denn: "Politische Entscheidungen sind weder ökologisch noch gesellschaftlich neutral", so Dietz. Mit ihrer Forschung will sie das sichtbar machen und so einen Beitrag zu politischen Entscheidungsprozessen leisten. (ds)
Nach Studien der Freiraum- und Landschaftsplanung sowie der Soziologie, Politikwissenschaft und Geschichte an der Leibniz Universität Hannover legte sie 2010 ihre Promotion in der Politikwissenschaft an der Universität Kassel ab. Nach der Leitung einer wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe an der FU Berlin bis 2020 sowie einer Vertretungsprofessur an der Universität Kassel folgte schließlich im Februar 2022 der Wechsel an die Universität Wien. Sie forscht hier am Institut für Internationale Entwicklung, das sie seit Oktober 2022 auch leitet.