Antidiskriminierung und Umweltschutz sind wichtig
Seit mittlerweile fünf Jahren ist die Bildungswissenschaftlerin Veronika Wöhrer im Leitungsteam der Längsschnittstudie "Wege in die Zukunft", die am Institut für Soziologie der Uni Wien angesiedelt ist und eine Gruppe von Jugendlichen auf ihrem Weg ins Erwachsenenalter und in die Arbeitswelt begleitet – seit ihrem Abschlussjahr an einer Wiener Mittelschule (damals "Neue Mittelschule", kurz NMS). Dabei geht es auch um die Frage, wie sich die jungen Menschen – zu Beginn der Studie zwischen 13 und 16, heute zwischen 17 und 21 Jahre alt – ihre Zukunft vorstellen und wie sich diese Vorstellungen, abhängig von den jeweiligen Lebensrealitäten, erfüllen oder eben nicht.
Im Zuge der aktuellen Semesterfrage haben wir uns mit der Professorin für Bildung und Ungleichheit darüber unterhalten, was den jungen Leuten wichtig ist, auf welchen Grundlagen sie ihre Zukunftsentscheidungen treffen, wer sie dabei beeinflusst und worüber sie sich Sorgen machen. Worauf legen die Jugendlichen heute noch Wert?
Rudolphina: Frau Wöhrer, wie geht es den Jugendlichen, die Sie seit 2016 im Projekt "Wege in die Zukunft" mit regelmäßigen Interviews begleiten?
Veronika Wöhrer: Naja, sehr unterschiedlich. Was wir in den beiden jüngsten Befragungsrunden sehen ist, dass auffallend mehr psychische Probleme thematisiert werden. Manche erzählen davon schon ein bisschen als Erfolgsgeschichte, im Sinn von "Ich habe eine Therapie begonnen und jetzt geht es mir viel besser." Bei anderen hat man das Gefühl, die stecken noch mittendrin.
Rudolphina: Sehen Sie hier einen Zusammenhang mit der Pandemie?
Wöhrer: Die Pandemie bedeutete für die Jugendlichen definitiv einschneidende Veränderungen. Wir haben sie in unserer jüngsten Erhebung auch explizit dazu befragt, und der Tenor war: "Corona war das Schlimmste überhaupt, das hat alles noch viel schwieriger gemacht". Viele erlebten es als extreme Einschränkung: den Lieblingsbeschäftigungen nicht mehr nachgehen, nicht mehr mit Freund*innen ins Shoppingcenter oder ins Kino gehen zu dürfen. Für mich war besonders spannend, dass es Jugendliche gibt, die diese Corona-Zeit auch relativ produktiv für sich nutzen konnten, indem sie zum Beispiel alte Hobbys wiederbelebt haben. Die erzählen dann auch nicht ganz so frustriert über die Lockdowns. Aber das hängt auch mit ihrem kulturellen Kapital zusammen: Das war vor allem für jene Jugendliche möglich, die auch schon davor vergleichbare Hobbies hatten und beispielsweise gerne gezeichnet, gestrickt oder ein Instrument gespielt haben. Jugendliche, die das nie getan haben, fangen auch nicht während einer Pandemie damit an.
Über das Projekt:
Wege in die Zukunft ist eine seit 2016 durchgeführte Längsschnittstudie, in der die Vergesellschaftung von Jugendlichen analysiert wird. Dazu werden Schüler*innen aus der Abschlussklasse einer Neuen Mittelschule (NMS) über die Bereiche Bildung, Arbeit, Familie, Identität und Jugendkultur befragt. Die Untersuchung kombiniert quantitative und qualitative Befragungen. Das Projekt wurde vom Institut für Soziologie der Universität Wien konzipiert und bezieht viele Fachbereiche ein (Familiensoziologie, Arbeitssoziologie, Jugendkulturforschung, Migrationssoziologie, Stadtsoziologie). Die Leitung liegt bei Jörg Flecker. 2020 erschien mit Wege in die Zukunft. Lebenssituationen Jugendlicher am Ende der Neuen Mittelschule (Hg.: Jörg Flecker, Veronika Wöhrer, Irene Rieder) eine erste umfassende Publikation über die Ergebnisse, im kommenden Jahr wird eine zweite, abschließende veröffentlicht.
Rudolphina: Die aktuelle Semesterfage der Uni Wien lautet: "Worauf legen wir noch Wert?" Sehen Sie in diesem Zusammenhang Veränderungen seit Corona, in Bezug darauf, was den Jugendlichen wichtig ist?
Wöhrer: Nach den Werten haben wir vor allem im vierten Jahr der Studie gefragt, das war knapp vor der Pandemie. Da waren Klima- und Umweltschutz das große Thema. Was die Welt im Gesamten betrifft, sind die Jugendlichen etwas pessimistisch, haben ein Ohnmachtsgefühl. Sie finden, da geht was in die falsche Richtung, aber sie können so wenig dagegen tun.
Rudolphina: Noch 2015 – also nicht lange vor dem Start von "Wege in die Zukunft" – zeichnete die Shell Jugendstudie das Bild einer überangepassten, zuversichtlichen Jugend, die sich bei Familie und Freund*innen in Geborgenheit wiegen will. In der Ausgabe 2019 klingt das wieder ganz anders. Die Jugendlichen zeigen sich alles andere als unpolitisch, Stichwort Fridays for Future.
Wöhrer: Unsere Studie ist nun mit der Shell Studie nicht so gut vergleichbar – da werden breit die Werte von Jugendlichen in Deutschland zwischen 12 und 25 in Deutschland abgefragt. Wir haben nur Wiener Jugendliche aus der NMS befragt und zu viel breiteren Themengruppen. Was mir aber seit den ersten Befragungen auffällt, ist dass die Jugendlichen sehr sensibilisiert dafür sind, was es für Diskriminierungen in der Schule und in den Ausbildungsinstitutionen gibt. Viele haben ganz offensichtlich ein starkes Unrechtsbewusstsein. Und dazu gehören auch Themen wie Klima- und Umweltschutz, Menschenrechte, Nachhaltigkeit. Das waren alles von der ersten Befragung 2016 an Themen, die ihnen nicht weniger wichtig waren als Familie oder Sicherheit.
Rudolphina: Der Grund dafür, auf Schüler*innen aus der Mittelschule zu fokussieren, liegt darin, dass diese nach der vierten Klasse mehr unterschiedliche Wege einschlagen, als zum Beispiel Gymnasiast*innen, richtig?
Wöhrer: Ganz genau. Die Schüler*innen, mit denen wir die qualitativen Interviews geführt haben, waren zu Beginn zwischen 13 und 16 Jahre alt und in einer Übergangssituation, in der wichtige und zum Teil folgenschwere Weichenstellungen getroffen werden, während sich diese Fragen für Jugendliche einer Allgemeinbildenden Höheren Schule (AHS) gar nicht so stellen. Ein anderer Grund war, dass uns die Jugendlichen in (und nach) der Neuen Mittelschule als eine Gruppe erschien, über die recht viel gesagt und geschrieben wird (dabei immer wieder auch Abwertendes), aber wenig von ihnen selbst in die Öffentlichkeit dringt. Daher wollten wir sie selbst zu Wort kommen lassen, ihre Sicht auf ihre Situation, ihre Entscheidungen, ihre Zukunft, etc. erfahren.
Rudolphina: Was waren für Sie bisher die größten Überraschungen im Zuge der Studie?
Wöhrer: Einerseits, wie heterogen die Mittelschule zusammengesetzt ist. Da gibt es gar nicht wenige Jugendliche deren Eltern einen Universitätsabschluss haben und auch viele Schüler*innen, die das selbst anstreben.
Rudolphina: Und das obwohl die Interviews nur an städtischen, an Wiener Schulen geführt wurden, richtig?
Wöhrer: Genau. Am Land hat die MS ja sowieso eher den Ruf, eine Gesamtschule zu sein. Was wir andererseits mit Bedauern zur Kenntnis genommen haben ist, dass es in der vierten und vor allem in der fünften Befragungsrunde einige Erzählungen über Gewalt in Beziehungen gab, das ist auch ein größeres Thema gewesen, womit wir nicht gerechnet haben. Und es war auch spannend für uns zu hören, welche große Rolle Lehrer und Lehrerinnen spielen, wenn es um Entscheidungen bezüglich Schulen oder Ausbildungen geht. Wenn man nämlich Lehrer und Lehrerinnen dazu befragt, sind die meistens der Meinung, dass Peers oder die Eltern viel wichtiger für die Schulwahl usw. sind.
Auch kleine, dahingesagte Einschätzungen über die Zukunft eines Schülers oder einer Schülerin können große Wirkung haben.Veronika Wöhrer
Rudolphina: Aus Ihrer Publikation zur Studie von 2020 geht hervor, dass sich nur 29 Prozent der Unterschiede in der Schulwahl durch Leistungsunterschiede erklären lassen. Was haben Sie darüber herausgefunden, inwiefern die Bildungsentscheidungen, der Ehrgeiz und auch das Selbstvertrauen diesbezüglich am Ende der Mittelschule von der sozialen Herkunft und dem "Migrationshintergrund" abhängen?
Wöhrer: Wichtige Einflussfaktoren auf die weiteren Entscheidungen sind neben den Lehrpersonen die Familie, die Wünsche der Eltern, Peers und Freund*innen, aber auch Ressourcen, die überhaupt zur Verfügung stehen. Habe ich genug Zeit und Ruhe zu lernen? Ist es eine Schule, bei der Schulgeld bezahlt werden muss? Kenne ich jemanden, der in diese Schule geht? Liegt die Schule in der Nähe des Kindergartens, wo ein Geschwisterkind abgeholt werden soll? Traue ich mir zu, den Leistungsanforderungen in dieser Schule gerecht zu werden? Und so weiter. Da geht es – um mit Bourdieu zu sprechen – um ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital, das die Jugendlichen auch abwägen, ohne diese Begriffe so zu benennen. Im quantitativen Panel hat sich herausgestellt, dass Jugendliche mit Migrationsbiographie, vor allem jene der ersten Generation, höhere Bildungsaspirationen haben als Jugendliche ohne Migrationsbiographie, gleichzeitig haben sie aber – in manchen Fällen, keineswegs immer – weniger Ressourcen, um diese Erwartungen (der Eltern und/oder an sich selbst) erfüllen zu können.
Rudolphina: Und welche Schlüsse können Sie aus der Studie ziehen, die sich Politik, Bildungswesen und Eltern zu Herzen nehmen sollten?
Wöhrer: Weitere Verbesserungsvorschläge unterscheiden sich nicht so sehr von denen anderer Forschungen zu Bildung und Ungleichheit: Die frühe Trennung der Kinder, mit 10 Jahren, in die beiden verschiedenen Schulformen ist schwierig, da sie so früh schon die unterschiedlichen Wege vorgeben. Diese Trennung nach hinten zu verlegen, wäre sinnvoll. Wichtig wäre auch mehr Unterstützungs- und Begleitpersonal an den Schulen zu haben. Für die Übergangssituation selbst ist individuelle Beratung – wie das im Jugendcoaching auch gemacht wird – deutlich sinnvoller als der Berufsorientierungs-Unterricht in der ganzen Klasse. Und in Hinblick auf die Lehrpersonen würde ich sagen, dass es gut wäre, sich im Klaren darüber zu sein, dass auch kleine, dahingesagte Einschätzungen über die Zukunft einzelner Jugendlicher große Wirkung haben können. Das können negative sein, wenn abgewertet wird, aber auch positive, wenn Lehrpersonen loben oder unterstützen. (ak)
Die Soziologin ist seit 2016 am Projekt "Wege in die Zukunft" beteiligt. Seit 2020 ist sie außerdem Leiterin der österreichischen Fallstudie des EU-Forschungsprojektes "Co-designing Citizen Social Science for Collective Action (CoAct)".