Über Klimagerechtigkeit, kollektives Handeln und Ökozid
Rudolphina: Klimagerechtigkeit, was verstehen Sie darunter?
Angela Kallhoff: Theorien der Klimagerechtigkeit erklären u.a., wie die Lasten verteilt werden sollten, die bei der Umsetzung von Klimazielen entstehen – nämlich nach Fairness-Prinzipien. Erstens nach dem Verursacher*innenprinzip, das besagt, dass diejenigen, die den Schaden verursacht haben, die Hauptlast tragen müssen. Zweitens gibt es die Forderung nach Kompensation für jene Staaten, die besonders unter dem Klimawandel leiden. Das dritte ist das sogenannte Fähigkeitenprinzip: Jene, die die Möglichkeiten haben, die Klimaziele umzusetzen, sind auch tatsächlich in der Pflicht, das jetzt zu tun.
Rudolphina: Frankreich hat den Ökozid als Strafbestand eingeführt. Entspricht das diesen Fairness-Prinzipien? So kann Verursacher*innen von Umweltschäden per Gesetz die Last auferlegt werden. Ist das wegweisend?
Kallhoff: Es ist eine prinzipielle Frage, wie sich Moral und Recht zueinander verhalten, und mein Standpunkt ist, dass das Recht gut informiert sein sollte über moralische Grundlagen. Es ist wichtig, dass Naturschutz-Artikel Teil des Grundgesetzes werden, da besteht noch sehr viel Nachholbedarf. Es wäre sinnvoll, auch den Klimaschutz in das Grundgesetz aufzunehmen. Ein anderes prägendes Beispiel ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe über die Ansprüche künftiger Generationen auf eine intakte Umwelt. Diese Klage wurde u.a. von Fridays for Future eingebracht. Es wurde bestätigt, dass künftige Generationen ein Recht auf eine intakte Umwelt haben.
Rudolphina: Welche Rolle spielt generell die Schuldfrage, auch im kleinen, privaten Rahmen? In den Medien hat der Begriff Flugscham viel Aufmerksamkeit bekommen. Es wird sehr schnell mit dem Finger auf jemanden gezeigt, der sich falsch verhält – fliegt, Fleisch ist, Onlinestreaming-Dienste benutzt – ist das förderlich?
Kallhoff: Ich halte überhaupt nichts von moralischen Zeigefindern wie denjenigen bei der Flugscham. Klimaneutrales Verhalten in allen Lebensbereichen zu ermöglichen und die praktischen Bedingungen dafür zu schaffen, ist Aufgabe der Ordnungspolitik. Die größte Verantwortung liegt bei Staaten und politischen Institutionen. Aber auch Konzerne haben eine Bringschuld. Klarerweise ist es so, dass Klimaziele nur erreicht werden können, wenn sie als Ziele gemeinsamen Handelns definiert werden, als "Joint Action". Und ich habe wissenschaftlich zeigen können, dass jede Person, die von einem gesunden Klima profitiert, auch eine Mitwirkungspflicht am Klimaschutz hat. Das heißt, dass jede*r Einzelne tatsächlich moralisch verpflichtet ist, das Bestmögliche zu tun, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Die Möglichkeit, so zu handeln, muss aber institutionell organisiert sein.
Rudolphina: Was ist das richtige Maß zwischen gesetzlichen Verpflichtungen, Bestrafungen und Anreizen zur Freiwilligkeit?
Kallhoff: Das ist einerseits eine normative Frage: Was ist legitim und was kann gefordert werden? Und es ist andererseits auch eine empirische Frage: Was kann der*die Einzelne tatsächlich ausrichten? Auf der empirischen Seite des Problems zeigt sich: Es ist zuallererst ein Umbau der Industrie nötig. Auch neue Technologien können sehr viel zum Schutz des Klimas ausrichten. Von der normativen Seite aus betrachtet funktioniert die Gesellschaft so, dass normative Probleme bzw. normativer Druck einerseits von der Regierung aufgenommen werden müssen, weil Regierung und politische Institutionen in der Verantwortung stehen, für das gute Leben von Bürger*innen zu sorgen. Sie sind schlichtweg zum Klimaschutz verpflichtet, wenn sie unsere Gesundheit und jetzt, nach dem neuen Verfassungsgerichtsurteil, auch die Belange künftiger Generationen schützen wollen. Die andere Seite ist, dass in einer Demokratie der Druck, normative Probleme zu erkennen und auf Lösungen zu drängen, von Bürger*innen kommen muss. Es ist die Gesellschaft, welche die Politik, sei es durch Rechtswege oder Protest, zwingen muss, den Klimawandel ernst zu nehmen.
Rudolphina: Es gibt noch ein Phänomen, über das Sie u.a. im Buch "Klimagerechtigkeit und Klimaethik" geschrieben haben: das grüne Paradoxon. Dieses besagt, dass es nichts bewirkt, wenn sich ein*e Akteur*in hinsichtlich Umweltverschmutzung einschränkt, weil dadurch anderen Akteur*innen Raum gegeben wird, um dementsprechend mehr Schaden anzurichten.
Kallhoff: Und das ist nicht nur falsch gedacht, sondern auch falsch prognostiziert: Dieses Phänomen gilt als widerlegt. Das grüne Paradoxon geht davon aus, dass es auch mit Rücksicht auf Umweltgüter nur Handlungsmöglichkeiten über den Markt und seine Logik von Angebot und Nachfrage gibt. Das Klimaproblem wird man aber ökonomisch nicht lösen, sondern durch starke politische Agenden. Teil der politischen Lösung kann es aber sein, marktwirtschaftliche Instrumente gezielt einzusetzen, so etwa auch im Handel mit Verschmutzungszertifikaten. Die Logik, die ich dagegen immer wieder zu erklären versuche, und für die ich mich stark mache, ist, dass es sehr wohl auch beim Klimaschutz Möglichkeiten kollektiven Handelns gibt. Wir müssen einfach aufhören darüber nachzudenken, dass eine Person einer anderen etwas wegnimmt. Und auch diese Art des Denkens – "du-sollst-jetzt-mal", "der-Andere-soll-machen" oder "so-lange-der-Andere-nichts-getan-hat,-bin-ich-gar-nicht-an-der Reihe" – schadet sehr.
Rudolphina: Sie haben gerade ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht. Würden Sie mir darüber noch mehr erzählen?
Kallhoff: "Climate Justice and Collective Action" ist das erste Buch in der Climate Justice-Reihe von Routledge und soeben erschienen. Die Theorien des gemeinsamen Handelns, die in der Sozialphilosophie viel besprochen worden sind, bilden ein Gegenmodell zur Marktlogik und zur Logik der freiwilligen Kooperation, insofern sie über Gruppen reden, die Ziele verfolgen. Das habe ich untersucht. Die Ergebnisse kann man auf das Klima-Thema umlegen. Das Problem, dass es Freerider gibt, während alle anderen sich anstrengen, das Problem, dass man einander nicht vertraut und dadurch die Agenden kaputt gemacht werden, das berühmte Back-Passing-Problem, man also Schwierigkeiten immer wieder an nachfolgende Generationen weitergibt: All das kann man bearbeiten und mit Theorien kollektiven Handelns Alternativen entwickeln. Es geht um Klimaziele als geteilte Ziele und um eine Theorie des kollektiven Klima-Handelns, die mit Gerechtigkeitsprinzipien arbeitet.
Rudolphina: Damit haben Sie meine Fragen beantwortet. Gibt es noch etwas, das Sie an dieser Stelle hinzufügen möchten?
Kallhoff: Mir ist es wichtig, das Klimaproblem als ein Teilproblem eines viel größeren Problems zu verstehen. Die Ausgeglichenheit zwischen Natur und Menschheit wurde verspielt und zugleich die ökologische Nische für die Spezies Mensch aufgrund unserer besonderen Fertigkeiten vollständig übernutzt. Wir müssen das wieder in einen Einklang bringen. Ich bin mittlerweile der Ansicht, dass tatsächlich aufgrund der gewachsenen wissenschaftlichen Erkenntnisse, neuer technischer Möglichkeiten und vielleicht auch aufgrund von globaler Vernetzung diese Schubumkehr zugunsten eines Planetenschutzes in einem globalen Kontext gelingen kann. Dies gelingt nicht allein durch eine Reduktion all unserer Prozesse und Verzichte und so weiter, sondern indem auch in lokalen Umwelten die Möglichkeiten eines Miteinanders, einer Kooperation mit der Natur neu genutzt werden.
Rudolphina: Vielen Dank für das Gespräch! (ak)