Zu Hause bleiben ohne Zuhause?
Rudolphina: Die Österreichische Bundesregierung steht aufgrund ihrer Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung oftmals in der Kritik. Aus Sicht eines Soziologen: Welche Verordnung ist besonders zu hinterfragen?
Christoph Reinprecht: Die Verordnung, "zu Hause" bleiben zu müssen, wirft meiner Meinung nach unmittelbar Fragen auf: Wer hat ein "Zuhause"? Und wie ist dieses "Zuhause" in sozialer, materieller, kultureller Hinsicht organisiert? Diese Verordnung impliziert eine gewisse Selbstverständlichkeit. Allerdings ist die Verfügbarkeit über ein Zuhause alles andere als selbstverständlich, geschweige denn gerecht.
Rudolphina: Wo äußert sich die Problematik des "Zuhausebleibens" besonders stark?
Reinprecht: Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie orientieren sich an der Normalgesellschaft und schließen somit automatisch andere gesellschaftliche Gruppen aus. Dies betrifft etwa Menschen in ungesicherten, vorübergehenden, informellen Wohnverhältnissen – besonders stark wohnungs- und obdachlose Menschen, deren Lebens- und Wohnraum oftmals der öffentliche Raum ist. Ein Kernkonflikt besteht sicherlich im Zwang, den öffentlichen Raum zu meiden, wenn keine individuellen oder kollektiven Wohnmöglichkeiten zur Verfügung stehen und Notunterkünfte gerade in dieser Situation als problematisch erlebt und gemieden werden. Besondere Probleme entstehen bei verordneter Quarantäne. Ohne zu überspitzen kann gesagt werden, dass die Situation von Menschen ohne gesicherte Wohnung – also Wohnungs- und Obdachlosigkeit – die Dringlichkeit von gesellschaftspolitischen Lösungen um angemessenes und leistbares Wohnen besonders deutlich macht.Die Lage ist auch insofern widersprüchlich, als in Österreich kein wirkliches Recht auf Wohnen existiert. In wohnrechtlich relevanten Gesetzen – wie etwa bei Wohnbauförderung oder Mindestsicherung – wird allerdings eine adäquate Wohnversorgung als öffentliche Aufgabe formuliert. Das Recht auf Wohnen ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert. Jedenfalls geht dieses über das Recht auf Behausung (ein Dach über dem Kopf haben) hinaus. Es bezieht sich auf sozial abgesicherte und selbstbestimmte, sozialräumlich eingebettete und zugleich offene, ja, solidarische Wohnverhältnisse. Die Lebensrealität vieler Menschen sieht allerdings anders aus.
Rudolphina: Wie haben sich die Bedürfnisse der Menschen in Bezug aufs Wohnen seit Beginn der Pandemie verändert?
Reinprecht: In Zeiten der Pandemie muss ein Zuhause oft mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllen. Das Interesse gilt deshalb nicht nur Aspekten wie Zusammensetzung des Haushalts, Ausstattung, Wohnungsgröße, sondern auch den zu bewältigenden Aufgaben, die sich herausgebildet haben. Damit meine ich, dass nun verschiedene Tätigkeiten und Formen von Arbeit (Homeoffice, Homeschooling, Pflege,…) im Wohnraum vereint werden muss. Laut den Ergebnissen unserer Datenerhebungen hat sich das subjektive Belastungsempfinden der Menschen während der Pandemie stark verändert. Das zeigt sich auch anhand der veränderten Wohn-Prioritäten der Befragten. Wünsche wie mehr Platz, mehr Grün, mehr und bessere Nutzung von Gemeinschaftsflächen, oder der Umzug weg von der Stadt werden stärker. Andererseits sind diese Wünsche vor allem für finanziell schlechter Gestellte oft nicht realisierbar, denn die Pandemie verschärft bestehende Ungleichheit. Internationale Studien verweisen auf eine zunehmende Kluft zwischen Menschen mit stabilen Arbeitsplätzen, die in ihrer Position auf dem Wohnungsmarkt gestärkt sind, und Menschen in instabiler Position und niedrigem Einkommen, die weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Größe und Ausstattung der Wohnung sind maßgeblich dafür verantwortlich, wie gut die Anforderungen von Homeoffice und Homeschooling beispielswiese bewältigt werden können. Besonders schwierig ist die Situation für finanziell schlechter gestellte Haushalte mit Kindern in engen Wohnverhältnissen.
Rudolphina: Die Pandemie verstärkt also die Ungleichheit. Was macht das mit unserer Gesellschaft?
Reinprecht: Die Pandemie erfordert neue Arrangements, die teilweise auch positiv erlebt werden. Studien bestätigen aber auch, dass sich traditionelle, geschlechterspezifischen Rollen verfestigen und Fälle von häuslicher Gewalt zunehmen. Forschungen zeigen zudem, dass die Pandemie die Diskriminierung ethnischer Minderheiten auf dem Wohnungsmarkt verstärkt. Das hängt mit der zunehmenden negativen Stereotypisierung zusammen. Die immer stärker werdende Ungleichheit hat auch Auswirkungen auf die Gesundheit. Eine belastende Wohnsituation, vor allem eine Überbelegung, gilt als eine der Hauptursachen für überproportionale Sterblichkeitsraten in einkommensschwachen Gegenden.
Weltweit hat die Pandemie die Probleme rund ums Wohnen erhöht: Unsicherheit (Befristung, Delogierung), Unleistbarkeit, Ungleichheit nehmen zu. Finanziell schlechter gestellte Menschen sind durch die Pandemie von jeder dieser drei Dimensionen betroffen. In Österreich wurden Delogierungen und Befristungen zwar ausgesetzt, aber nur vorübergehend. Die Situation führt deshalb dennoch vielfach zu einer Anhäufung von Mietschulden und Stundungszinsen.
Rudolphina: Welche Lösungsansätze könnten während der Pandemie mehr Fairness am Wohnungsmarkt bringen – langfristig und kurzfristig?
Reinprecht: Laut der UN-Menschenrechtskonvention ist Wohnen ein Schlüsselbereich, in dem die Auswirkungen der Pandemie bekämpft werden können und müssen. Kurz- und mittelfristige Maßnahmen wären etwa das dauerhafte Aussetzen von Räumungen, Kündigungen und Mieterhöhungen. Auch eine Stärkung des Mieter*innenschutzes oder ein Stopp der Befristungsmöglichkeit von Mietverträgen wären dringend nötig. Nicht weniger wichtig ist die Entwicklung und Förderung neuer, alternativer Wohnmodelle wie beispielsweise Co-Housing Projekte. Dabei geht es um gemeinschaftliche, solidarische Wohnformen und auch um eine Erneuerung des Genossenschaftsgedankens. Es ist wichtig, von der seit Jahren dominierenden Eigentumslogik wegzugehen und sich auf solidarische Finanzierungsmodelle zu fokussieren. Es braucht mehr Fairness, damit auch Menschen mit weniger finanziellen Ressourcen gut wohnen können. In Wien gibt es mittlerweile einige interessante Beispiele von der Sargfabrik in Wien Penzing bis zum selbstorganisierten Betriebs- und Wohngemeinschaftsprojekt SchloR (Schöner Leben ohne Rendite) in Wien Simmering. Gleichzeitig braucht es langfristige, grundlegende Lösungen für den wachsenden Zielkonflikt zwischen Grundversorgung und Markt. Es führt kein Weg an einer Diskussion über die De-Kommodifizierung von Wohnraum vorbei. Konkret spreche ich von einer Verringerung der Marktabhängigkeit mit dem Ziel, Unsicherheit, Unleistbarkeit und Ungleichheit vor allem bei ärmeren Menschen zu reduzieren. So ließe sich sagen, dass im Bereich des Wohnens nichts verhängnisvoller sein könnte, als eine Rückkehr zur Normalität.
Rudolphina: Vielen Dank für das Interview! (lk)