Dauerprojekt Lehrer*in
Die Kids tragen Smartwatches, recherchieren mit KI-Tools wie ChatGPT, swipen sich durch TikTok, sprechen verschiedene Sprachen und kommen aus unterschiedlichen Kulturen – es ist bunt geworden im Klassenzimmer. Diese Veränderungen eröffnen durchaus große Chancen für die Bildung, werden von Medien und Politik jedoch häufig als Problem dargestellt. "Unser Bildungssystem agiert im Moment so, als ob wir einen Schutzwall vor Veränderungen aufbauen müssten. Stichwort KI: Sie wird als etwas Schlimmes angesehen, das wir abwehren müssen", sagt Susanne Schwab, die u.a. zu Schul- und Bildungsforschung im Kontext von Diversität und sozialer Ungleichheit arbeitet: "Das ist ein Irrweg. Wenn sich alles ändert, dann brauchen wir keinen Schutzwall, sondern eine Art Leuchtturm, der Orientierung gibt. Wir brauchen kein Faktenwissen mehr, wir brauchen Orientierungswissen."
Aktiv und partizipativ Lernumgebung schaffen
Empfehlungen aus der Bildungswissenschaft, politische Maßnahmen und die Realität im Klassenzimmer klaffen im Moment noch ziemlich auseinander. "Es wird zu spät, zu fragmentiert, zu politisch reagiert", kritisiert Susanne Schwab: "In dieser ganzen Komplexität, die wir derzeit haben, sollten die Kinder insbesondere Selbstwirksamkeit und kritisches Denken erlernen. Es braucht Lehrkräfte, die gemeinsam mit den Kindern aktiv und partizipativ eine Lernumgebung schaffen, die dies ermöglicht. Lehrkräfte als Beziehungs- und Lernarchitekt*innen, also Lots*innen, die Schüler*innen helfen, diese ganze Komplexität zu durchdringen".
Vielfalt im Klassenzimmer
Auch ihre Fachkollegin Nele Kampa, die u.a. zu Unterrichtsqualität in heterogenen Lernsettings forscht, sieht Lehrkräfte vor wachsende Herausforderungen gestellt, gleichzeitig relativiert sie: "Heterogen waren die Schüler*innen schon immer, wenn die Vielfalt natürlich auch mehr geworden ist. Zunächst bedeutet Heterogenität erstmal, dass Schüler*innen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen im gleichen Klassenzimmer sitzen. Und das können tatsächlich in einer Klasse 28 unterschiedliche Voraussetzungen sein."
Wie die Unterrichtsqualität in solch vielfältigen Lernsettings aussehen kann, beschäftigt Nele Kampa auch in ihrer Forschung. "So zeigt der allgemeine Forschungsstand zum Beispiel, dass der offene Unterricht (Anm.: das ist ein pädagogisches Konzept, bei dem Schüler*innen mehr Selbstbestimmung über ihren Lernprozess haben) in heterogenen Klassen weder effektiver noch ineffektiver im Vergleich zu anderen Lernsettings ist, weil es einfach nicht die eine Unterrichtsmethode gibt, die die Patentlösung bietet. Was wir brauchen, ist eine gut ausgebildete Lehrkraft, die über ein großes Repertoire an Wissen, Kompetenzen und Tools verfügt, um in einem heterogenen Setting adäquaten, adaptiven Unterricht anzubieten. Lehrer*in ist ein sehr komplexer Beruf, genau deswegen ist es, wie ich finde, auch so ein toller Beruf."
Was genau ist adaptiver Unterricht?
Adaptiver Unterricht berücksichtigt die kognitiven und sozial-emotionalen Lernvoraussetzungen der Schüler*innen. Ziel ist es, alle Lernenden fortlaufend darin zu unterstützen, ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Digitale Medien können Lehrkräfte dabei entlasten, wie zum Beispiel Sprach-Apps. Klassen und Fächer sind dabei nicht mehr in ihrer Gestaltung festgelegt, sondern können auf individuelle Lernvoraussetzungen angepasst werden.
Lernen neu denken
Susanne Schwab findet es überholt, dass es immer noch Klassen gibt, in denen Frontalunterricht praktiziert wird und dass immer noch von mehrsprachigen Kindern und solchen mit sonderpädagogischem Förderbedarf gesprochen wird. "Wann hören wir endlich auf, die Individualität als Problem zu betrachten, und fangen an wertzuschätzen, dass alle Kinder individuell sind? Die Schule ist ein sozialer Raum, den man dementsprechend gestalten muss. Und damit meine ich wirklich architektonische Anordnungen." Also weg vom klassischen Frontalunterricht hin zu flexiblen Lernumgebungen – etwa mit Sitzkreisen oder Rückzugsbereichen, die Begegnung und individuelle Förderung ermöglichen.
Die Schulpädagogin sieht eines der Hauptprobleme darin, dass Bildung nach wie vor stark politisiert ist. Solange zentrale Bildungsentscheidungen nicht aus pädagogischer, sondern aus politischer Logik heraus getroffen werden, wird es schwer bleiben, das System grundlegend zu erneuern.
Wenn wir wollen, dass Schule Kinder auf eine komplexe Welt vorbereitet, müssen wir selbst den Mut haben, Schule neu zu denken.Susanne Schwab
Fehlende Begleitung im Schulalltag
Für Nele Kampa ist die Rolle von Lehrer*innen als Pädagog*innen gerade in der heutigen Zeit vermehrt in den Vordergrund gerückt und präsenter geworden. "Daher sehe ich die Pädagogik als einen wichtigen Teil der Lehramtsausbildung. Aber ich würde hier keine Gewichtung vornehmen, sie ist ebenso wie Fachwissen und Fachdidaktik in gleichem Maße zu erwerben. Wir haben hier in Österreich diese drei gleichwertigen Säulen, die zusammen eine gute Vorbereitung auf den Lehrberuf bilden."
Dennoch ist der Einstieg ins Berufsleben für viele Lehramtsabsolvent*innen nicht einfach; gerade in den ersten fünf Jahren im Lehrberuf ist die Kündigungsrate recht hoch. "Viele junge Lehrkräfte sind erstmal völlig überfordert und genau in diesen Momenten setzen sie oft nicht das um, was ihre Ausbildung eigentlich vorbereitet hätte", sagt Kampa: "Gerade in dieser Phase ist es extrem wichtig, sich Feedback zu holen und Reflexionsphasen einzubauen. Im Studium hat man viele Zeitressourcen und wird gut begleitet, und das fällt dann im Berufsleben oft leider weg. Um langfristig auch dem Lehrkräftemangel entgegenzuwirken, sollte gerade in den ersten fünf Jahren der Berufstätigkeit große Unterstützung geleistet werden. Dafür fehlt unter den aktuellen Bedingungen leider an den Schulen oft die Zeit."
Welche Future Skills brauchen unsere Lehrkräfte?
- Nele Kampa: Reflexion. Es ist wichtig, sich immer wieder Feedback von den Schüler*innen zu holen und sich selbst zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Was in dieser Profession nicht funktioniert, ist zu glauben, dass man zu irgendeinem Zeitpunkt eine fertig ausgebildete gute Lehrkraft ist. Das nennt sich Ambiguitätstoleranz: Damit umgehen zu können, dass es Unsicherheiten gibt.
- Susanne Schwab: Die Lehrkraft als Beziehungs- und Lernarchitektin. Lehrkräfte müssen Beziehungs- und Lernräume gemeinsam partizipativ mit Schüler*innen schaffen und dabei sozial gerecht agieren. Sozial gerecht zu handeln bedeutet, Vielfalt anzuerkennen und Benachteiligung aktiv auszugleichen.
Schulen brauchen mehr Ressourcen
Susanne Schwab sieht das ganz ähnlich, Versäumnisse in der Politik kommen jetzt zum Tragen. "Man hätte sich der Sache bereits viele Jahre früher widmen müssen. Jetzt, wo es wirklich brennt, lautet die Lösung der Politik, Studierende vor ihrem Abschluss wie eine vollwertige Lehrkraft unterrichten zuzulassen. So kommen die am besten qualifizierten Personen nicht dorthin, wo sie am meisten gebraucht werden", so Schwab.
"Viele dieser nicht fertig ausgebildeten Lehrkräfte fühlen sich oftmals ins kalte Wasser geworfen, unbegleitet und viel zu wenig unterstützt. Und das wird sich auf unsere Zukunft auswirken. Es hat mit Professionalisierung zu tun und damit einhergehend mit der nachvollziehbaren Frage gut ausgebildeter Lehrer*innen: 'Warum habe ich jetzt sechs Jahre studiert, wenn andere die gleiche Tätigkeit ohne entsprechendes Studium ausüben dürfen?'" Schwab prognostiziert, dass der Anteil an Aussteiger*innen dadurch noch weiter ansteigen wird.
Lehrkräfte und Schulsysteme müssen flexibel sein, aber Schulsysteme sind eben Systeme und diese sind per se nicht wahnsinnig flexibel.Nele Kampa
Nele Kampa leitet aktuell ein Projekt, das sich genau dieser Thematik von Studierenden als Lehrkräfte an Schulen widmet: Gemeinsam mit ihrem Team untersucht sie, wie Lehramtsstudierende Entscheidungen über ihre zukünftige Karriere als Lehrkraft treffen, Faktoren für den frühzeitigen Berufseinstieg, das Ausmaß der Arbeitsbelastung und wie sich dieser frühe Einstieg auf das Studium auswirkt.
"In Österreich ist es – im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern – so üblich, dass Lehramtsstudierende tatsächlich wie eine ausgebildete Lehrkraft eingesetzt werden, d.h. sie unterrichten eigenständig, machen Elternarbeit, organisieren Ausflüge und Klassenfahrten, übernehmen sogar Maturklassen und nehmen an allen Konferenzen teil", berichtet Kampa. Viele können das nicht mit dem Vollzeitstudium verbinden und schaffen es daher über einen langen Zeitraum nicht, ihr Studium abzuschließen. "Ich halte das für kontraproduktiv und unsere Daten zeigen das auch. Insgesamt hat es negative Auswirkungen auf das Studium, wie viel ich von meinem Studium noch mitnehmen möchte und für wie relevant ich mein Studium noch halte."
Eventtipp Filmscreening "Favoriten"
Der Dokumentarfilm "Favoriten" unter der Regie von Ruth Beckermann, Alumna der Universität Wien, begleitet eine Klasse von Schüler*innen im Alter von sieben bis zehn Jahren und ihre engagierte Lehrerin in einer großen Volksschule im 10. Bezirk.
Am 5. November 2025 spricht Filmprotagonistin Ilkay Idiskut mit Hannes Schweiger vom Institut für Germanistik und dem Zentrum für Lehrer*innenbildung über ihre Erfahrungen in heterogenen und mehrsprachigen Lernsettings. Anschließend wird der Film gezeigt.
- Tickets im Rahmen der Semesterfrage zum Sonderpreis von 6€.
- Wann: Mittwoch, 5.11., 19:30 Uhr, Votivkino Großer Saal
- Alle Infos
Wertschätzung und Herausforderungen
Galt der Beruf Lehrer*in noch vor wenigen Jahrzehnten als angesehene Karriere, scheint das Ansehen in der Bevölkerung insgesamt gesunken. Und gepaart mit den heutigen komplexen Herausforderungen, vor denen die Schulen stehen, trägt dies nicht unbedingt zur Attraktivität des Lehrberufs bei. Zu Unrecht, wie Susanne Schwab findet: "Wenn ich in meinem Beruf wirksam bin, dann habe ich über Generationen hinweg die Chance, etwas zu verändern. Zwar im Kleinen, aber ich finde trotzdem, dass man die Wirksamkeit einer einzelnen Lehrperson durchaus als sehr große Chance betrachten kann. Die Lehrkräfte bräuchten auch ein multiprofessionelles Team an der Seite. Heute ist die Schule zu einem anderen Entwicklungsraum geworden, wir hinken da einfach hinterher."
Stetiger Wandel und Veränderung gehört zum Lehrberuf heute unweigerlich hinzu. "Lehrkräfte und Schulsysteme müssen flexibel sein, aber Schulsysteme sind eben Systeme und diese sind per se nicht wahnsinnig flexibel", sagt Kampa, "Lehrkräfte müssen also – und ich wüsste jetzt keinen anderen Beruf, wo diese Kompetenz derartig tragend ist – sehr offen für Veränderungen sein. Das war immer relevant, aber es wird immer wichtiger, weil die Zukunft weniger planbar sein wird, als sie das in den letzten 40 Jahren war."
Future Skills: Wie Schule unsere Kinder stärkt
Förderung der Bildungssprache
Ein Thema, das in Debatten rund um das Schulsystem immer wieder vorkommt, ist die Deutschförderung. Damit beschäftigt sich Susanne Schwab in einer aktuellen, groß angelegten Studie und sieht, dass es bildungspolitisch derzeit in die falsche Richtung läuft. "Mit unseren segregierten Deutsch-Fördermaßnahmen wird die Schere wieder auseinander gehen, und das wird sich auch in künftigen PISA-Ergebnissen widerspiegeln. Dadurch bauen wir noch mehr Barrieren auf. Schon allein dadurch, dass die Kinder, wenn sie das Eingangssprachscreening nicht bestehen, nicht aufsteigen dürfen, von ihren Freund*innen getrennt werden und nach einem Schuljahr oft auch auch die Lehrkraft wechseln müssen."
"Ein starkes Argument, das gegen die Deutschförderklassen spricht, ist, dass wir dadurch eine Überalterung von Kindern mit einer Barriere in der Bildungssprache erzeugen. Sprachen lernen funktioniert am besten projektbasiert, integriert in den Fachunterricht und mit Peers als sprachliche Vorbilder. Worüber niemand redet ist, dass Sprachförderung ein Thema für alle Schüler*innen ist, denn Kinder mit einem niedrigen sozioökonomischen Status profitieren von einer Förderung in der Bildungssprache genauso."
Kein Schutzwall bei Veränderungen
Deutschförderung ist nur ein Beispiel, wo Politik und Forschung auseinanderklaffen, wie auch Nele Kampa aus Erfahrung weiß: "Bildungspolitik und Bildungswissenschaft ticken völlig unterschiedlich. Allein schon, was die Laufzeiten angeht. Bildungspolitiker*innen brauchen heute Antworten darauf, wie sie jetzt zum Beispiel mit KI am besten umgehen sollten. Wenn ich darauf sage, dazu muss ich jetzt erst mal mindestens vier Jahre forschen, dann kann das nicht zusammengehen." Doch was könnte hier ein Lösungsansatz sein, damit es besser funktioniert? "Eine Art Dialogforum wäre auf jeden Fall eine gute Einrichtung, die dafür sorgt, dass es mehr Kommunikation zwischen Forschung, Praxis und Bildungspolitik gibt", schlägt Nele Kampa vor.
Für Susanne Schwab lautet der wichtigste Appell an die Bildungspolitik: "Wir müssen aufhören, diesen Schutzwall bei Veränderungen aufzubauen und ein Bildungssystem für die Vergangenheit zu machen. Die Zukunft verändert sich und das heißt, wir brauchen Lehrkräfte, die mit Veränderungen kritisch reflektiert, wirksam umgehen können. Und da müssen wir partizipativ daran arbeiten."
Highlights im Rahmen der Semesterfrage
Sie können unsere Beiträge lesen, streamen und anhören – und sich bei Events mit Wissenschafter*innen und anderen Bildungsakteur*innen austauschen.
- Mittwoch, 5. November 2025, 19.30 Uhr: Filmscreening "Favoriten" mit Publikumsgespräch im Votivkino, jetzt Karten sichern!
- Videoserie "Future Skills": Wissenschafter*innen über "ihre" Fähigkeit der Zukunft, demnächst am univie-YouTube-Channel.
- SAVE THE DATE: Montag, 12. Jänner 2026, 18 Uhr: Podiumsdiskussion zur Semesterfrage mit Blogger, Autor und Bildungsinfluencer Bob Blume