Iran-Proteste

Die Rolle des Kopftuchs als Anlass, Auslöser und Protestmittel

7. Oktober 2022 Gastbeitrag von Sieglinde Rosenberger
Der Iran erlebt Hijab-Proteste. Individuelle und politische Freiheiten sind das Ziel. Im Gastbeitrag analysiert Politikwissenschafterin Sieglinde Rosenberger die zentrale Rolle des Kopftuchs in der Widerstandsbewegung.
© Universität Wien
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Sieglinde Rosenberger ist Professorin i.R. für Politikwissenschaft und Leiterin der Forschungsgruppe "INEX – The Politics of Inclusion and Exclusion" an der Universität Wien. Sie forscht und publiziert seit vielen Jahren zu Protestbewegungen und zur Politik zum Kopftuch in europäischen Ländern.

Sieglinde Rosenberger habilitierte sich 1996 in Innsbruck, seit 1998 ist sie an der Universität Wien. Im Studienjahr 2003/04 war sie Schumpeter Fellow am Center for European Studies in Harvard. 2006/07 war sie Vorsitzende der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Sie ist Trägerin des Wiener Frauenpreises im Jahr 2005 und des Käthe-Leichter-Preises für Frauenforschung, Geschlechterforschung und Gleichstellung in der Arbeitswelt (Anerkennungspreis) sowie des Wissenschaftspreises der Margaretha Lupac Stiftung des Österreichischen Parlaments (für ihr Gesamtwerk), beide im Jahre 2013. 2018 wurde ihr das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien verliehen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Inklusion und Exklusion im Kontext von Migration, Österreichische Politik und Europäisierung, Governance und Differenzen/Diversity, Politische Partizipation und Protest.

Die Islamischen Revolutionsführer machten die Verschleierung (Hijab) für Mädchen und Frauen im Jahr 1979 verpflichtend. Der Kopftuchzwang wurde im Strafgesetz geregelt und sieht bei Verletzungen Gefängnisstrafen von zehn Tagen bis zu zwei Monaten und Strafzahlungen vor.

Der Hijab hat für die Islamische Revolution ikonischen Charakter. Bilder und Berichte über den Iran, wo Frauen auf den Straßen zornig, schwarz gekleidet und einen Hijab tragend, Slogans gegen den politischen Westen skandieren, sind wohlbekannt. Frauen werden als eine homogen-wütende Masse präsentiert und keinesfalls als Individuen mit Eigensinn. Demonstrationen sind einzig ein angeordnetes Mobilisierungsinstrument der Regierung; der Zivilgesellschaft und der Opposition sind Meinungsäußerung, Widerstand und Protest untersagt. 

Der Schleier als dominantes Protestmittel

Nach 2017 erlebt der Iran gegenwärtig wieder Hijab-Proteste. Das Kopftuch ist deutlich mehr als ein Stück Stoff, es nimmt in der Widerstandsbewegung eine zentrale Rolle ein. Auslöser war der Tod einer jungen Frau, die nach der Behandlung durch die Sittenpolizei starb. Seither gehen Frauen, Mädchen und Schülerinnen auf die Straße, Männer schließen sich den Protesten an. Der Schleier ist zugleich dominantes Protestmittel, sie werden öffentlich verbrannt, Haare werden geschnitten, es wird getanzt mit offenem Haar. Friedlich sind die Proteste, nicht aber die Reaktion: Die Kleriker der Islamischen Republik reagieren mit drakonischen Mitteln, mit Verhaftung, Peitschenhieben, und Menschen kommen dabei zu Tode. Dennoch weiten sich die Proteste noch aus. 

Einzigartige Massenbewegung von Frauen

Die aktuelle iranische Hijab-Protestbewegung ist als eine Massenbewegung von Frauen, die sich direkt gegen den Bestand der Regierung richtet, einzigartig. Frauenproteste in anderen Ländern waren bislang primär Proteste von Müttern oder Ehefrauen, die mit ihren öffentlichen Aktionen ihre Söhne, Brüder oder Männer suchten, gegen die Gewaltspirale in der Gesellschaft demonstrierten (Südamerika) oder gegen die Einberufung in den Krieg (Russland) protestieren. Im Iran aber leisten Frauen Widerstand gegen das Regime an sich und für Anliegen für sich. 

Den protestierenden und demonstrierenden Frauen (und Männern) geht es längst nicht mehr nur um den Kopftuchzwang, sondern um Reformen, um den Wechsel des politischen Systems, um mehr Freiheit und Demokratie. Die zentrale Forderung ist Freiheit in einem gesamtgesellschaftlichen und politischen Sinne. 

Das Kopftuch als Demokratiefrage diskutieren

Was bedeuten die Hijab-Proteste für die oft politischen Debatten zum Kopftuch in liberal-demokratischen Gesellschaften? In westlichen Demokratien wird einerseits das Recht, das muslimische Kopftuch in öffentlichen Institutionen zu tragen, als Gebot der Liberalität diskutiert. Andererseits wird in erster Linie von der politischen Rechten das Kopftuch als Ausdruck der "anderen" kulturell-religiösen Identität und der Unterdrückung von Frauen abgelehnt. Bislang stehen sich die beiden Sichtweisen ohne Verständnis gegenüber, auch weil sie primär mit liberalen bzw. restriktiven migrationspolitischen Positionierungen einhergehen. 

Angesichts der Hijab-Proteste im Iran ist der rechtliche und gesellschaftliche Kontext besonders relevant zu berücksichtigen. Im repressiven Kontext ist das Kopftuch eine sich gegen Frauen richtende Zwangsmaßnahme. Im liberalen Kontext ist das Kopftuchtragen in öffentlichen Institutionen grundsätzlich ein Freiheitsrecht. Dieses ist aber zu begleiten, u.a. mit mehr Wissen und einer profunden Skepsis, dass das Kopftuch im liberalen Kontext erstens nicht nur Ausdruck einer persönlichen Entscheidung sein muss und zweitens, dass damit auch ein politisches, anti-demokratisches Statement einher gehen kann. Die Schlussfolgerung aus dieser Skepsis gegenüber dem Kopftuchtragen in öffentlichen Institutionen ist, dass das Kopftuch im Westen nicht nur als Migrationsthema, sondern stärker auch als Demokratiefrage diskutiert und behandelt wird.