Personalisierte Diagnose, Therapie und Prävention

Warum Medizin immer individueller wird

15. Jänner 2025 von Theresa Dirtl
Kein Mensch gleicht dem anderen. So ist es nicht verwunderlich, dass Patient*innen trotz vergleichbarer Symptome unterschiedlich auf Behandlungen ansprechen. Diese immer maßgeschneiderter für Patient*innen zu gestalten, ist das Ziel von Personalisierter Medizin. Rudolphina im Gespräch mit Barbara Prainsack, Professorin am Institut für Politikwissenschaft und Vizepräsidentin der Österreichischen Plattform für Personalisierte Medizin.
Personalisierte Medizin ist zwar nicht neu – Ärzt*innen haben schon immer nach Geschlecht, Alter und Krankheitsgeschichte unterschieden. Neu hingegen sind die technologischen Möglichkeiten, auch individuelle genetische Informationen in Diagnose und Therapieentscheidungen zu inkludieren. © Pixabay

Rudolphina: Frau Professorin Prainsack, was versteht man eigentlich genau unter Personalisierter Medizin?

Barbara Prainsack: In der allgemeinsten Form bedeutet Personalisierung in der Medizin, dass die Diagnose, Therapieentscheidung und immer mehr auch die Prävention an individuelle Eigenschaften der Menschen angepasst wird. Man könnte sagen, dass die Medizin in gewisser Weise immer schon personalisiert war, weil man ja zwischen Kindern und Erwachsenen einerseits, aber auch zwischen den Geschlechtern unterschieden hat; eine 25-jährige Frau mit Bauchschmerzen wird anders untersucht werden als ein 25-jähriger Mann.

Was sich aber gerade in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat, ist die Feinkörnigkeit der Personalisierung. Während man Patient*innen früher in große Gruppen eingeteilt hat – eben Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene, junge und ältere – hat man heute viel mehr Daten und Information zur Verfügung. So bekommen heute Menschen, die beispielsweise an Lungenkrebs leiden, unterschiedliche Therapien, je nachdem, welche Genvarianten an ihrer Krankheit beteiligt sind. Insbesondere das Humangenomprojekt in den späten 1990er Jahren, das die DNA-Bausteine des Menschen erstmals zu entschlüsseln versucht hat, hat hier viel verändert.

Buchtipp: "Personalized Medicine"

In diesem Buch analysiert Barbara Prainsack Policies und Praktiken der Personalisierten Medizin in ihrem gesundheitspolitischen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Kontext.
"Personalized Medicine – Empowered Patients in the 21st Century?" von Barbara Prainsack, New York (NYU Press)

Rudolphina: Was hat sich seit dem Humangenomprojekt verändert?

Barbara Prainsack: Seit dem Humangenomprojekt unterscheidet man Patient*innen auch auf der Basis von genetischen oder molekularen Markern. In den frühen 2000er Jahren wurden etwa Medikamententherapien an genetische Varianten angepasst, die man ganzen Gruppen zugeschrieben hat.  Das war also keine Personalisierung in dem Sinne, dass man die Genprofile einzelner Menschen getestet hat, sondern eine Anpassung an genetische Eigenschaften, die in bestimmten Gruppen besonders häufig vorkamen.

Rudolphina: Welche Gruppen wurden zum Beispiel herangezogen?

Barbara Prainsack: Etwa ethnische Zugehörigkeit. So hatte zum Beispiel die Food and Drug Administration in den USA 2004 ein Herzmedikament speziell für "African Americans" zugelassen, weil Studien gezeigt hatten, dass das Medikament innerhalb dieser Gruppe besonders effektiv wirkte. Das traf natürlich niemals auf jedes einzelne Individuum in dieser Gruppe zu, und wurde von vielen auch zurecht sehr kritisch betrachtet.

Heute nutzt die Präzisionsmedizin als neueste Form der Personalisierung nicht nur genetische, genomische und andere molekulare Marker, sondern auch Informationen zum Verhalten von Menschen, um individuell angepasste Behandlungen zu entwickeln. Das geht sogar so weit, dass man zum Beispiel in der Krebstherapie manchmal mit digitalen Zwillingen arbeitet. Dabei kreiert man einen digitalen Zwilling einer Person am Computer, um bestimmte Medikamententherapien auszuprobieren oder auch chirurgische Eingriffe zu testen. Das ist noch nicht Standard in der klinischen Medizin, aber dahin geht die Reise.

Rudolphina: Hier gibt es auch einige skeptische Stimmen …

Barbara Prainsack: Ja, was viele Menschen stört, ist, dass diesen Methoden ein eher technisches Verständnis des Körpers und der Gesundheit zugrunde liegt. Kritisiert wird, dass soziale, verhaltensrelevante und psychische Parameter zu wenig mit einbezogen werden. Das ist ein Bereich, an dem man noch weiterarbeiten muss.

Rudolphina: Sind Sie grundsätzlich der Meinung, dass Personalisierte Medizin in die richtige Richtung geht?

Barbara Prainsack: Ja. Aber es gibt natürlich auch hier Gerechtigkeitsfragen. In einem Land, in dem es die diagnostischen Instrumente gar nicht gibt oder wo die Menschen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben, nützt es nichts, wenn anderswo in der Welt personalisierte Therapien aufgrund molekularer Marker entwickelt werden.

Aber auch in der reichen Welt existieren Ungerechtigkeiten. In Norwegen gab es den Fall eines Mannes, der Speiseröhrenkrebs hatte und aus eigener Tasche eine experimentelle Therapie bezahlt hat. Danach hat er eine Kostenübernahme der weiteren Behandlung durch das öffentliche Gesundheitssystem erwirkt, weil er zeigen konnte, dass diese experimentelle Behandlung in seinem Fall eine Verbesserung gebracht hatte. Eine andere Person, die sich die ursprüngliche experimentelle Behandlung nicht hätte leisten können, hätte diesen Nachweis gar nicht erbringen können und damit die Weiterführung der Therapie im öffentlichen System nicht erreichen können. Dieser Fall zeigt sehr deutlich, wie auch in einem reichen Land wie Norwegen bestimmte Ungerechtigkeitseffekte entstehen, weil das Gesundheitssystem es Personen mit mehr Geld erlaubt, Dinge zu tun, die für andere Menschen unerreichbar sind.

Österreichische Plattform für Personalisierte Medizin

Das Ziel der Personalisierten Medizin ist es, Prävention, Diagnose und Behandlung von Erkrankungen auf der Basis molekularer Daten und anderer relevanter Informationen von Patient*innen zuzuschneiden. Die Österreichische Plattform für Personalisierte Medizin (ÖPPM) widmet sich dieser Herausforderung und richtet sich an alle Interessent*innen und Stakeholder, die zur Erforschung und Umsetzung der Personalisierten Medizin in Österreich beitragen wollen. Aktuell ist Barbara Prainsack Vizepräsidentin der ÖPPM, ab Februar 2025 Präsidentin.

Rudolphina: Sie forschen auch konkret zu Ungerechtigkeiten von Personalisierter Medizin …

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In seinem Gastbeitrag beleuchtet Jörg Menche vom Ludwig Boltzmann Institut für Netzwerkmedizin an der Universität Wien die Herausforderungen und Chancen im Umgang mit seltenen Krankheiten. Er erklärt, wie seine Forschung auch neue Einblicke in häufigere Erkrankungen ermöglicht, und welche Rolle künstliche Intelligenz und Virtual Reality dabei spielen können, Gesundheit gerechter zu gestalten.

Barbara Prainsack: Genau, gemeinsam mit Maya Sabatello, Professorin für klinische Bioethik an der Columbia Universität in New York, und Sara Green, Professorin für Science Education in Kopenhagen forschen wir seit einigen Jahren zu diesem Thema. Sowohl global gesehen als auch innerhalb einzelner Staaten gibt es Ungleichheiten in der medizinischen Versorgung, die sich nicht durch objektive Gründe rechtfertigen lassen. In diesem Fall spricht man von "inequities", also von ungerechten Ungleichheiten. Im Bereich der Personalisierten Medizin beginnen diese Ungerechtigkeiten bereits mit der Frage, welche Menschen in der Forschung repräsentiert sind. Wenn Forschung hauptsächlich an Menschen in Europa und Nordamerika durchgeführt wird, dann sind die Ergebnisse dieser Forschung auf Menschen in anderen Weltregionen nicht ohne weiteres übertragbar. Dasselbe gilt für Geschlechter.

Dieses Problem ist relativ gut bekannt, und viele Länder treffen Maßnahmen, um dem entgegenzuwirken. Zum Beispiel die Präzisionsmedizins-Initiative in den Vereinigten Staaten, die "All of US" Initiative. Konkret wird dabei nicht einfach nur eine statistische Stichprobe der Gesamtbevölkerung genommen, sondern marginalisierte Gruppen – also jene, die schlechten oder keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben – sind absichtlich überrepräsentiert.

Rudolphina: Wo steht Ihrer Einschätzung nach Österreich im internationalen Vergleich?

Barbara Prainsack: Bezüglich Gerechtigkeitsfragen ist die Situation in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern weltweit sehr gut, weil das österreichische Gesundheitssystem relativ inklusiv und gerecht ist. Ich möchte nicht die Sorgen jener Menschen kleinreden, die die wachsenden Probleme des österreichischen Gesundheitssystems spüren. Wir alle kennen es aus eigener Erfahrung: Es wird immer schwieriger, Arzttermine zu bekommen, und die Wartezeiten auf Krankenschein sind oft extrem lange. Das schadet nicht nur den Betroffenen, sondern es erhöht auch gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, denn jene, die das nötige Geld haben, weichen zu Privat- und Wahlärzt*innen aus.

Das sind natürlich Dinge, die sich auch auf die Personalisierte Medizin auswirken. Zwar ist es in Österreich schon noch so, dass es bei Verdacht auf eine ernsthafte Erkrankung dann doch meist sehr schnell geht. Trotzdem summieren sich die Barrieren für Menschen, die nicht so viel Geld haben. Nochmal zusammengefasst: Österreich steht im Vergleich sehr gut da. Es wird aber auch hier aufgrund der strukturellen Probleme im österreichischen Gesundheitssystem schwieriger, alle gut und gerecht zu versorgen.

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Zum Abschluss der Semesterfrage diskutierten Wissenschafter*innen und Alumni der Uni Wien gemeinsam mit dem Publikum im Großen Festsaal die Frage, wie gerecht Gesundheit sein kann. Die Keynote hielt die deutsche Medizinethikerin Alena Buyx.

Rudolphina: Wie weit sind wir mit Personalisierter Medizin in Österreich?

Barbara Prainsack: In manchen Bereichen, insbesondere in der Krebstherapie, gehört die Personalisierte Medizin in Österreich zum Standard. Zudem tragen österreichische Forscher*innen auch viel zur Forschung im Bereich der Präzisionsmedizin bei, wie etwa in der Onkologie und im Bereich der seltenen Erkrankungen.

Rudolphina: Herzlichen Dank für das Gespräch!

© Barbara Prainsack
© Barbara Prainsack
Barbara Prainsack ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Ihre Forschung beschäftigt sich mit der Analyse regulatorischer, sozialer und ethischer Dimensionen der Biomedizin und der Biowissenschaften.

Sie ist Mitglied der österreichischen Bioethikkommission, Vorsitzende der European Group on Ethics in Science and New Technologies, und Autorin des 2017 erschienenen Buches "Personalized Medicine: Empowered Patients in the 21st Century?". An der Universität Wien leitet Barbara Prainsack die Forschungsgruppe für Zeitgenössische Solidaritätsstudien. Barbara Prainsack ist Vizepräsidentin und ab Februar 2025 Präsidentin der Österreichischen Plattform für Personalisierte Medizin.