"Österreich unterschätzt die Gefahr, wenn die Ukraine verliert"
Was, wenn es zu einem Diktatfrieden zu den Bedingungen Russlands kommt? Osteuropa-Historiker Philipp Ther blickt mit Sorge auf die historischen Parallelen zur aktuellen Ukraine-Situation und analysiert die Russland-Bilder in Österreich und Osteuropa.
Rudolphina: Donald Trumps Präsidentschaft macht wieder deutlich: Das Schicksal der Ukraine wird auch von der Politik der Großmacht USA abhängen. Welche Parallelen aus der Geschichte sehen Sie zu dieser Situation?
Philipp Ther: Historische Vergleiche sind heikel, aber die Lage der Ukraine erinnert an das Sudetenland 1938. Dieser Teil der Tschechoslowakei wurde im Münchner Abkommen an Hitler ausgeliefert, ohne dass das Land am Verhandlungstisch sitzen durfte. Ähnliches könnte der Ukraine wegen Trump passieren: Er will als der große Dealmaker dastehen und den Krieg um jeden Preis beenden ‒ wenn es sein muss, über die Köpfe der Ukrainer und Ukrainerinnen hinweg. Ich befürchte, dass Putin das ausnutzen wird.
Die Arroganz der Großmächte zeigt sich damals wie heute auch in der Herabwürdigung des betroffenen Landes. Einer der britischen Unterhändler von 1938 sagte laut Verhandlungsprotokoll, er werde "those Czechos" ‒ zu Deutsch "diese Behmacken" ‒ schon "zur Vernunft" bringen. Eine sehr abwertende Rhetorik also. Das Gleiche macht Trump jetzt mit der Ukraine – schon vor Selenskyjs Demütigung im Weißen Haus hat er ihn als Diktator beschimpft und der Ukraine die Schuld an der Fortdauer des Krieges gegeben.
Täter-Opfer-Umkehr gab es auch 1938, als von "minority problems" gesprochen wurde, wodurch die Minderheiten in Europa als Problemverursacher markiert wurde. Dann wurde der Minderheitenschutz abgeschafft und die tschechische Minderheit in den Grenzgebieten den Nazis preisgegeben. Falsche Vereinfachungen können also fatale Folgen haben und das muss ich leider ein wenig den Medien vorwerfen, wenn verkürzt vom "Ukraine-Krieg" die Rede ist, obwohl die Kriegsursache Putins Russland ist.
Rudolphina: Kann das Phänomen der Täter-Opfer-Umkehr auch erklären, warum Teile der österreichischen Bevölkerung mit der russischen Sicht auf den Konflikt sympathisieren?
Philipp Ther: Österreich ist relativ russlandfreundlich – trotz der Erfahrungen mit der russischen Besatzungsmacht bis 1955. Das ist aber wohl zu lange her. Außerdem wurde die Rote Armee teils als Befreierin gesehen, wobei es nicht nur russische, sondern auch ukrainische Soldaten waren. Heute werden die Verdienste von 1945 allein Russland zugeschrieben, während die Ukraine in diesem Narrativ ignoriert wird.
Es spielt auch Anti-Amerikanismus eine Rolle, bei dem Russland als Gegenpol zu den USA idealisiert wird, vor allem unter Altlinken gibt es das. Dankbarkeit für den Staatsvertrag und die Neutralität spielt auch eine Rolle. Diese brachte aber einen massiven Eingriff in Souveränitätsrechte mit sich und hat Österreich lange vom Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (EG) abgehalten (siehe Staatsvertrag Artikel 4, Anm.) – das wird heute oft vergessen. Hinzu kommt die Russlandfreundlichkeit der FPÖ.
Ich glaube, dass die Risiken für Österreich aus diesem Krieg massiv unterschätzt werden, wenn die Ukraine verliert. Dabei geht es längst nicht mehr um die Frage, wie sehr man persönlich Russland oder der Ukraine zugeneigt ist – es geht um die sicherheitspolitischen Folgen für Österreich.
Rudolphina: Woanders wiederum ist man nervös, etwa in Finnland, im Baltikum, in Polen. Es scheint dort generell eine andere Russland-Wahrnehmung zu geben. Wie kann man das historisch erklären?
Philipp Ther: Viele osteuropäische Nationen standen lange unter russischer Herrschaft, das sind also historische Erfahrungen. In Tschechien ist die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 noch in der aktiven Erinnerung, in Ungarn der Aufstand 1956. Aber es kommt auch darauf an, wie die die jeweilige Regierung zu Russland steht. Viktor Orbán versteht sich als autoritärer Führer gut mit Putin, verfolgt damit aber auch wirtschaftliche Interessen: Russland übernimmt den Ausbau des Kernkraftwerks in Paks, und es geht um Gas und Öl. In Österreich wurden Verbindungen nach Russland, nicht nur monetärer Art, noch nicht wirklich aufgearbeitet. Dass der russische Geheimdienst FSB in Österreich hochrangige Mitarbeiter hat, konnte man am Beispiel Jan Marsaleks sehen.
Rudolphina: Die aktuelle Situation ist Resultat wachsender Spannungen zwischen Russland und der EU bzw. dem "Westen". Wie lange muss man zurückblicken, um die Ursachen dafür zu verstehen?
Philipp Ther: Putin denkt Geopolitik als Nullsummenspiel: Wenn andere etwas gewinnen, verliere ich, und umgekehrt. Dass er die EU als Konkurrenz sieht, wurde evident bei seiner Brandrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007.
Es gibt auch längerfristige Ursachen, wie die russische Wirtschaftskrise in den 1990er Jahren, wo die Transformation in Richtung Westen schiefgegangen ist. Aus verschiedenen Gründen: Die Wirtschaftsreformen haben nicht funktioniert, was zum Teil auch an den westlichen Beratern lag. Zudem hat sich die Demokratie nicht durchgesetzt.
Die NATO-Osterweiterungen von 1999 und 2004 werden mitunter als Grund für die Entfremdung angesehen. Der Zeitpunkt war in mancher Hinsicht ungeschickt, wenn wir uns die völkerrechtswidrige US-Invasion des Irak anschauen. Letztlich wurden die neuen Nato-Mitglieder aber aufgenommen, weil sie dies wollten – als Reaktion auf Russlands zunehmend imperiales Gebaren.
Die Ursachen der russisch-europäischen Entfremdung sind insgesamt aber sehr komplex. Auch der Westen hat Fehler gemacht. Man kann da auch auf Österreich schauen: Bei der Visavergabe, Aufnahmegenehmigungen und dem Verkauf von Besitztümern, etc., haben wir mit Oligarchen Geschäfte gemacht und sie bevorzugt. Was für ein Signal sendet das an die normale Bevölkerung oder Putin? Dass auch der Westen korrupt ist und Diebe bevorzugt.
Rudolphina: Was hat denn Putin in der Ukraine überhaupt zu gewinnen?
Philipp Ther: Imperialismus ist ein Ventil für innere Spannungen. Immer dann, wenn Putins Popularität gefallen ist, hat er im Ausland gezündelt. Der großrussische Nationalismus lenkt von inneren Defiziten und einer großen Armut im Land ab. In dieser Ideologie geht es um die Vorherrschaft im postsowjetischen Raum. Es ist daher irrig, anzunehmen, dass Ruhe einkehrt, wenn man der Ukraine einen Frieden aufzwingt. Die große Gefahr, Russland große Zugeständnisse zu machen, liegt darin, dass es als nächstes beispielsweise gegen die baltischen Staaten vorgeht – mit einem Schutzanspruch für russische Minderheiten in Grenznähe als Aufhänger.
Rudolphina: Das klingt nach einem Szenario, in dem die NATO keine Abschreckung mehr ist.
Philipp Ther: Das kann passieren, wir wissen es nicht. Fest steht, seit Jahresbeginn hat sich die Kriegsgefahr für Europa massiv erhöht. Man sollte weiterdenken, was das für Österreich mit seiner geopolitischen Lage bedeutet. Ein Verweis auf den Kalten Krieg hilft dabei: Wäre dieser "heiß" geworden, war ein mögliches Szenario ein Durchmarsch des Warschauer Pakts durch Österreich nach Westdeutschland. Da hätte uns die Neutralität genauso wenig genützt wie Belgien im Ersten Weltkrieg.
Rudolphina: Europa stellt nun die Weichen auf Aufrüstung. Wie beurteilen Sie diese Strategie mit Blick auf die Geschichte?
Philipp Ther: Unabhängig davon, was die USA als nächstes machen, sollte es im strategischen Interesse Europas sein, sich selbst zu schützen. Fällt die Ukraine, wäre die größte pro-westliche Armee des Kontinents ausgeschaltet – und Europa damit geschwächt. Das erinnert wieder an 1938, als das Münchner Abkommen die tschechoslowakische Armee neutralisierte und Hitler den Weg zur Besetzung ebnete. Das sind beunruhigende Parallelen. Geschichte wiederholt sich nie eins zu eins, aber die Lehre für heute ist klar: Europa muss verteidigungsbereit sein, auch Österreich. International gelten wir schon längst als Trittbrettfahrer.
Rudolphina: Direkt nach Kriegsbeginn sagten Sie in einem Interview, mit Russland in Dialog zu treten sei aktuell nicht zielführend. Wie sieht es heute damit aus?
Philipp Ther: Man muss sehr aufpassen, welches Signal man mit einem Gesprächsangebot setzt. Damals wäre es falsch gewesen, das ist heute anders. Die USA haben zwar nicht durchdacht agiert, aber vielleicht kommt etwas Positives in Bewegung. Eventuell kann man auch nicht-offizielle Kommunikationskanäle nutzen: Es gibt eine unterdrückte, aber dennoch rudimentär vorhandene Zivilgesellschaft. Nicht alle Russinnen und Russen sind vom Krieg begeistert. Zwischenmenschliche Kontakte nach Russland zu halten, wenn man solche hat, ist sehr wichtig und dann sollte man über den Krieg reden. Ich glaube, es gibt in der russischen Gesellschaft einen Resonanzboden dafür, ins Gespräch zu kommen.
2019 erhielt Ther die höchstdotierte wissenschaftliche Auszeichnung Österreichs, den Wittgenstein-Preis, für sein Projekt "Die Große Transformation. Eine vergleichende Sozialgeschichte globaler Umbrüche".