Die große Transformation
Warum hat die Geschichte nach 1989 ganz anders "geendet" als damals angenommen? Dieser Frage geht Philipp Ther seit seiner Berufung an die Universität Wien nach: als Sozialhistoriker, aber auch als "89er", der in Prag einen Teil der "samtenen Revolution" miterlebt und dann in den 90ern einige Jahre lang in Ostdeutschland, der Tschechoslowakei, Polen und der Ukraine gelebt und geforscht hat. "Angesichts der Renaissance des Nationalismus und des zunehmenden llliberalismus klingt der damalige westliche Triumphalismus heute mehr als schal", so der Osteuropa-Experte und Wittgenstein-Preisträger 2019.
Transformation "von unten"
Um die Transformation nach dem Ende des Staatssozialismus besser zu verstehen, ist Philipp Ther zufolge eine zeitlich und räumlich breitere Perspektive nötig. Man müsse zum einen in die 1980er und teilweise in die 1970er Jahre "rückblenden", zum anderen globale Veränderungen wie den Aufstieg, die Hegemonie und Radikalisierung des Neoliberalismus sowie dessen soziale Folgen in den Blick nehmen.
Neben dieser Makroperspektive wird Philipp Ther in den kommenden Jahren weiterhin die "Transformation von unten" untersuchen. Konkret sind damit regionale und lokale Fallstudien gemeint: über soziale Gruppen wie IndustriearbeiterInnen, ehemalige Genossenschaftsbauern und -bäuerInnen, ArbeitsmigrantInnen (Migrationsgeschichte gehört ebenfalls zu Thers langjährigen Forschungsschwerpunkten) sowie über Familien und Kinder.
Internationale Vernetzung und Nachwuchsförderung
Zu diesem Zweck hat der Historiker mit KollegInnen aus Polen, Schweden, Deutschland, Tschechien, Ungarn, Kroatien und Osterreich das "Research Cluster for East Central Europe and the History of Transformations (RECET)" gegründet. Methodisch ist das Zentrum unter anderem durch Karl Polanyis Buch "The Great Transformation" beeinflusst, das einen kritischen Blick auf die Transformation eröffnet, wie sie nach 1989 verstanden wurde.
"Der Wittgenstein-Preis gibt mir die Möglichkeit, dieses Forschungsnetzwerk auszubauen und gemäß dem Konzept der vergleichenden Area Studies auf europäischer und globaler Ebene zu forschen", so Ther. Dabei wird es unter anderem um die wachsende regionale und soziale Ungleichheit gehen, die er für eine der Hauptursachen der Krise der liberalen Demokratie und der EU sowie für den Aufstieg des Rechtspopulismus hält. Neben diesem größeren Themenschwerpunkt plant Philipp Ther, mittelfristig an sein früheres Forschungsgebiet über Geschichte und Musik anzuschließen. Das Preisgeld wird er auch zur Förderung des internationalen Austauschs und des wissenschaftlichen Nachwuchses nutzen, u.a. im Rahmen von Gastdozenturen und Anschubfinanzierungen. Dass er nun jüngeren KollegInnen längere Karriereperspektiven bieten kann, freut ihn dabei besonders.
2019 erhielt Ther die höchstdotierte wissenschaftliche Auszeichnung Österreichs, den Wittgenstein-Preis, für sein Projekt "Die Große Transformation. Eine vergleichende Sozialgeschichte globaler Umbrüche".