Führen arktische Straßen zum Krieg oder zum Frieden?
Peter Schweitzer reiste mit Forschungsfragen zur Transportinfrastruktur im Gepäck in den hohen Norden. Was er fand, waren zunehmend militarisierte Gebiete. Der großangelegte Angriffkrieg Russlands ist auch in der Arktis spürbar. Wir treffen den Anthropologen bei einem Boxenstopp zurück in seinem Büro an der Universität Wien.
Die Arktis ist weit. Sie umfasst Regionen innerhalb der Staatsgebiete von acht Ländern, darunter Russland, Norwegen, Schweden, Finnland, Kanada und den USA – und ist im aktuellen geopolitischen Kontext auch verstärkt zu einem militärischen Raum geworden. "Die Arktis ist heterogen, doch nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine haben wir es wieder mit einer Situation zu tun, die an den Kalten Krieg erinnert und das Bild einer zweigeteilten Arktis nahelegt", erklärt uns Ethnologe Peter Schweitzer. Die zweite Amtszeit von Donald Trump fügt der ohnehin schon komplexen Situation eine weitere Konfliktebene in der Arktis bei. Schweitzer hätte für sein großangelegtes Forschungsprojekt zu arktischen Transportinfrastrukturen in die russische Arktis reisen sollen – doch der russische Angriffskrieg lässt das nicht zu.
Wir treffen ihn stattdessen in seinem Büro am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Uni Wien, zwischen Büchertürmen, deren Titel an abenteuerliche Polarexpeditionen erinnern. Was die russische Arktis betrifft, so arbeiten er und sein Team nun von Wien aus älteres Feldforschungsmaterial auf. Das Projekt hat einen panarktischen Ansatz und mit ihren Fragestellungen zur Transportinfrastruktur bereisten sie die europäische und nordamerikanische Arktis. "Leider machen es uns die Ereignisse der letzten Jahre schwer, die Vielfalt arktischer Lebensweisen zu erkennen."
Video: Forschung zu arktischen Gemeinschaften im Wandel
Arktische Infrastruktur – aber für wen?
Staaten wie Österreich oder Deutschland sind abhängig von Öl und Gas. Seit sie weniger davon aus Russland beziehen, wächst der Druck auf die anderen arktischen Regionen, die begehrten Rohstoffe verfügbar zu machen. So ist die Transportinfrastruktur aktuell Gegenstand vieler Diskussionen. Die lokale Bevölkerung, die teils indigen ist, wird bei diesen Fragen zu wenig miteinbezogen. Ob der Lokalbevölkerung der geplante Hafen, die asphaltierte Straße, der ausgebaute Landeplatz gefällt – oder eben nicht – wird selten gefragt.
"Meist wird die Infrastruktur in der Arktis nicht für die dort ansässigen Menschen gebaut, sondern um externe wirtschaftliche und politische Interessen zu befriedigen", stellt Schweitzer fest: "Dabei hat jede zusätzliche Straße oder Eisenbahn in einer so spärlich besiedelten Region enorme Auswirkungen auf das Leben der Bevölkerung. Uns interessiert, wie die Menschen vor Ort mit den Veränderungen umgehen."
Russland aus der Ferne beobachten
Nome, Alaska: Der Goldrausch im späten 19. Jahrhundert kurbelte den Zuzug in das arktische Städtchen an, doch das ruhmreiche Goldgräber-Image ist längst vergilbt. Heute leben hier knapp 3.600 Einwohner*innen – zum einen "Oldtimer", die noch immer auf einen Goldfund hoffen, zum anderen Indigene, die nach den Traditionen ihrer Vorfahren leben. Ausgerechnet in Nome soll ein über 600 Millionen US-Dollar schweres Hafenprojekt entstehen: "Rohstoffe gibt es nur wenige, auch ist das Wasser viel zu seicht für einen Hafen dieser Dimension. Doch die Nähe zu Russland macht diesen Standort attraktiv – fortan könnten hier Schiffe der US Coast Guard und der Navy unweit der russischen Grenze präsent sein. Auch hier stellt sich die Frage was die zweite Trump Präsidentschaft an Veränderungen bringen wird."
Sozialanthropologische Forschung in entlegenen Teilen der Welt
Im Forschungsprojekt "InfraNorth – Building Arctic Futures: Transport Infrastructure and Sustainable Northern Communities" stellen sich Peter Schweitzer und sein Team die Frage, ob bereits umgesetzte und geplante Infrastrukturvorhaben die Lebensbedingungen der Lokalbevölkerung verbessern oder nicht. Gefördert wird das Projekt mit einem hochdotierten Advanced Grant des European Research Councils. Hier geht es zur Projektwebsite.
Doch die geopolitische Bedeutung ihres Wohnortes steht für die dort lebenden Menschen nicht im Vordergrund. Stattdessen denken sie an die vielen Arbeiter*innen, die für den Bau abgestellt werden und ihren Ortskern stürmen. Und sorgen sich um die dadurch steigenden Wohnungspreise. Nicht nur hier, sondern in vielen arktischen Gemeinden hören Peter Schweitzer und sein Forschungsteam der Lokalbevölkerung zu.
Dabei fällt es Peter Schweitzer zumeist leicht, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Er hat rund 20 Jahre an der University of Alaska Fairbanks geforscht, war immer wieder in der Arktis unterwegs und kann auf persönliche Kontakte zurückgreifen. Bei Forschungsaufenthalten immer mit dabei ist seine anthropologische Werkzeugkiste: formale Interviewführung, Fokusgruppengespräche, teilnehmende Beobachtung und sogenannte "Szenario-Workshops".
Possible Futures: Was wäre, wenn…
In "Szenario-Workshops" in Kirkenes, Norwegen, und Churchill, Kanada, präsentierten die Forscher*innen der Uni Wien – in Kooperation mit dem Forschungsinstitut International Institute of Advanced System Analysis – den Bewohner*innen und Stakeholdern vor Ort "possible futures". Was wäre, wenn der Ölpreis ins Unermessliche steigt, die Dekarbonisierung voranschreitet oder der Wohnort zum Schutz des Klimas über Nacht zum Naturpark ernannt wird? Schweitzer und sein Team verfolgten damit das Ziel, Diskussionen zur Rolle der Transportinfrastrukturen für die Lebensbedingungen dieser arktischen Communities anzustoßen, aber auch Datenmaterial zu generieren, damit die Stimmen aus der Bevölkerung Gehör finden können.
Apropos Klima: Die Arktis ist nicht nur aufgrund des aktuellen Krieges, sondern auch wegen der voranschreitenden Klimakrise im internationalen Spotlight. Im hohen Norden zieht die Klimakrise den Menschen den (Permafrost-)Boden quasi unter den Füßen weg. "Doch die arktische Bevölkerung war schon immer sehr anpassungsfähig – gewachsen aus einer Notwendigkeit", gibt sich Schweitzer hoffnungsvoll. Neben InfraNorth widmet sich der engagierte Forscher auch in anderen Projekten den Auswirkungen des auftauenden Permafrost auf arktische Siedlungen – doch das ist Stoff für ein anderes Gespräch, zu einer anderen Zeit. Jetzt muss Peter Schweitzer erstmal Koffer packen, es geht zurück in die Arktis. Wohin auch sonst? (hm)
Was, wenn der Permafrost auftaut?
Permafrost matters: Unter diesem Motto erforschten Wissenschafter*innen im abgeschlossenen Projekt "Nunataryuk", wie sich der auftauende Permafrostboden auf das globale Klima und das Leben der Bevölkerung in der Arktis auswirkt. Gemeinsam entwickelte das Team um Peter Schweitzer Anpassungsstrategien für die arktische Küstenpopulation. Im aktuellen Projekt "Illuq" stehen die Konsequenzen für die Gesundheit von Mensch, Tier und Ökosystem im Mittelpunkt.
Er betreut mehrere hochkarätige Forschungsprojekte, ist Mitglied in den Redaktionsausschüssen einschlägiger Fachzeitschriften und erhielt für seinen Beitrag zur Forschung kürzlich einen Honorary Lifetime Membership Award von der International Arctic Social Sciences Association (IASSA).