Rudolphina Roadtrip: Archive in Lettland

Von Wien nach Riga: Detektivarbeit in Sowjet-Archiven

30. Juli 2025 von Lynn Chiu
Für die nächste Etappe des Rudolphina-Roadtrips führt uns Historikerin Daria Tashkinova nach Riga. Zwischen fieberhaften Archivrecherchen, wie die ehemalige Sowjetunion durch gezielte Ansiedelung von Arbeitskräften ein Imperium aufbaute, fand sie Zeit, sich in Lettlands altehrwürdige Hauptstadt an der Ostsee zu verlieben.
Das Rigaer Schloss (im Vordergrund), gegründet 1330, und der Dom zu Riga (im Hintergrund), gegründet 1211, sind zwei der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt. © Daria Tashkinova

Daria Tashkinova, PhD-Studentin und Wissenschafterin im Research Center for the History of Transformations (RECET) ist aktuell auf Forschungsreise. Unterwegs zwischen Lettland und Estland berichtet sie für die Rudolphina, wie ihre Arbeit in den Archiven abläuft.

Wo erreichen wir Sie heute, Frau Tashkinova? 

Ich arbeite gerade im Lettischen Nationalarchiv in Riga. In meiner Dissertation befasse ich mich mit der Arbeitsmigration in der ehemaligen Sowjetunion, insbesondere in den baltischen Sowjetrepubliken. Von daher ist Riga der perfekte Ort für meine Forschungsarbeit.

Riga: Lettlands Architekturjuwel an der Ostsee

  • Entfernung von Wien: 1101 km.
  • Im Mittelalter kam Riga als wichtige Hafenstadt der Hanse zu wirtschaftlichem Wohlstand.
  • Das historische Zentrum Rigas ist für seine Jugendstilarchitektur bekannt und ist UNESCO-Weltkulturerbe.
  • Im Laufe der Geschichte befand sich Riga unter der Herrschaft von Polen-Litauen, Schweden, des deutschen und russischen Kaiserreichs sowie der Sowjetunion.

Wir sind gespannt, wieso Riga für Sie ein so wichtiger Forschungsstandort ist. Aber erzählen Sie uns doch bitte zuerst noch ein wenig mehr über die Stadt. Ist Riga eine Reise wert? Was sind absolute Highlights, die man aus Ihrer Sicht sehen und wissen sollte?

Riga ist eine wunderschöne, geschichtsträchtige Stadt. Geschichtsliebhaber*innen kommen hier voll auf ihre Kosten: von den Anfängen als Festung des Deutschen Ordens über die industrielle Entwicklung und architektonische Meisterleistungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zur tragischen Geschichte der Besetzung durch die Deutschen und Sowjets, gefolgt von der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands und dem Beitritt zur EU. Ich fand es spannend, die verschiedenen Kapitel von Rigas und Lettlands Geschichte zu erkunden.

Was führt Sie nach Riga? Warum ist dieser Ort für Ihre Forschung wichtig? 

Der Dreh- und Angelpunkt meines Forschungsprojekts ist das Zuteilungssystem für Arbeitsplätze in der Sowjetunion. Vereinfacht gesagt: Es wurde allen Hochschulabsolvent*innen in der UdSSR auf Basis ihrer Qualifikationen ein Arbeitsplatz zugewiesen. Arbeitsplätze wurden im Grunde im gesamten Gebiet der UdSSR zugewiesen, aber ich befasse mich mit der Umsetzung dieses Systems in den baltischen Sowjetrepubliken, insbesondere in Lettland und Estland. Welche Rolle spielte dieses System in der Sowjetisierung dieser Republiken? 

Das Zuteilungssystem für Arbeitsplätze ist sowohl in westlichen als auch in postsowjetischen akademischen Kreisen wissenschaftlich leider kaum erforscht. Und das, obwohl das System das Leben aller Hochschulabsolvent*innen in der Sowjetunion maßgeblich beeinflusste. Mit meiner Arbeit möchte ich diese Forschungslücke schließen.

Foto von dicken Folianten auf einem Schreibtisch im Archiv liegend
Daria Tashkinova berichtet live aus dem Archiv von den Höhen und Tiefen der Datensammlung im Ausland. © Daria Tashkinova

Einer der wichtigsten Orte für meine Forschungsarbeit ist das Lettische Staatsarchiv für Personalakten. Hier werden die Akten der Personalabteilungen von mittlerweile nicht mehr existierenden Firmen aus der Zeit der Sowjetunion aufbewahrt. Ich arbeite mich durch die Personalakten von einzelnen Arbeiter*innen und erfahre über ihre Namen, Fotos, beruflichen Werdegänge und zugeteilten Arbeitsplätze. Dadurch wird das Thema noch viel persönlicher und greifbarer. Ein System in der Theorie zu erforschen, ist eine Sache. Aber zu sehen, wie es sich auf das Leben von Einzelpersonen ausgewirkt hat, ist nochmal etwas ganz anderes.

Das ist für mich das Beste an der Archivforschung – man fühlt sich ein wenig wie eine Detektivin auf Spurensuche.
Daria Tashkinova

Wie ist es, im Archiv zu arbeiten? Ich stelle mir verstaubte Kartons mit Dokumenten in einem dunklen, isolierten Raum vor. Wie mühsam ist es? Was sind spannende Aspekte?

Archivforschung kann sowohl lustig als auch mühsam sein. Es ist wahnsinnig aufregend, wenn man endlich ein Dokument in den Händen hält, von dem man bisher nur gelesen hat, oder wenn man etwas entdeckt, was einem in noch keinem Dokument untergekommen ist. 

Häufig beginnt es mit einer einfachen Frage: Warum wurde diese Personengruppe, zum Beispiel, von Lwiw nach Riga geschickt, um dort im Halbleiterwerk Alfa oder in der VEF (der staatlichen elektrotechnischen Fabrik) zu arbeiten? Oder wie wurden die Entscheidungen getroffen, wer wohin geschickt wurde? Davon ausgehend durchforste ich die Akten zur Korrespondenz zwischen Fabriken, Berichte und Statistiken auf der Suche nach Verbindungen und Antworten. Das ist für mich das Beste an der Archivforschung – man fühlt sich ein wenig wie eine Detektivin auf Spurensuche. 

Der mühsame Teil? Zeitmangel! Ich muss im Archiv leider extrem schnell arbeiten, um so viele Dokumente wie möglich zu sichten. Ich weiß nämlich nie, wann (oder ob) ich später jemals wieder Zugriff auf sie haben werden. Ich fotografiere alles, was auch nur halbwegs nützlich sein könnte. An den meisten Tagen im Archiv übe ich mich also als Schnellschuss-Fotografin und im hektischen Anfertigen von Notizen. Die tatsächliche Auswertung mache ich meist erst viel später außerhalb des Archivs, wenn ich zurück in Wien bin.
 

Doctor It! Podcast über Archivforschung

Was bedeutet es, Archivforschung zu betreiben? 

Doctor it! ist ein Podcast von PhD-Studierenden der Geistes- und Sozialwissenschaften an der Universität Wien. In der neuesten Folge sprechen die beiden Podcast-Hosts Emily Genatowski und Olga Malashkina mit Dorota Vargová, Doktorandin der Geschichte, und Felix Maile vom Institut für Internationale Entwicklung über ihre Erfahrungen mit der Arbeit in Archiven und Datenbanken. Erfahren Sie, welche außergewöhnlichen Anstrengungen sie manchmal unternehmen, um Primärquellen aufzuspüren, und warum sie bei ihren Analysen keine KI einsetzen.

Die neueste Folge von Doctor it! Episode 19 – Library and Data in the 21st Century ist auf Podbeans und auf allen gängigen Podcast-Plattformen zu hören (in englischer Sprache). 

Wieso wurden diese Unterlagen nicht längst digitalisiert? Gibt es Pläne für ihre Digitalisierung? 

Mit Ausnahme der Bestandslisten verschiedener Archivbestände und Teilbestände sind die meisten der Unterlagen, mit denen ich arbeite, nicht digitalisiert. Die Bestandslisten waren im Vorfeld meines Forschungsaufenthalts sehr wichtig, weil ich mit ihrer Hilfe Dokumente, die ich in den Lesesälen studieren wollte, ausfindig machen und vorab bestellen konnte. Ich gehe nicht davon aus, dass die für meine Forschung relevanten Dokumente jemals komplett digitalisiert werden. Das sind einfach zu viele – die Sowjet-Bürokratie hat viel zu viel Papierkram produziert.

Viel über ein Thema zu lesen, ist eine Sache. Aber die Dokumente selbst zu sehen und in der Hand zu halten, macht alles so viel realer
Daria Tashkinova

Wir haben Sommer, aber Sie stöbern im Archiv durch die Geschichte. Vermissen Sie die Sonne? 

Ich habe ganz viel Sonnenlicht! Die Leseräume sind ziemlich ruhig und gemütlich, und ähneln Bibliotheken. Mir macht die Arbeit in den Archiven wirklich viel Spaß. Viel über ein Thema zu lesen, ist eine Sache. Aber die Dokumente selbst zu sehen und in der Hand zu halten, macht alles so viel realer.

Lesesaal im Lettischen Nationalarchiv in Riga
Der Leseraum eines Archivs, in dem ich die letzten paar Tage gearbeitet habe. © Daria Tashkinova

Was treiben Sie abseits Ihrer Forschungsarbeit?

Ich habe Riga und Lettland erkundet. Ich bin zum ersten Mal hier und erkunde die Stadt und Museen. An einem besonders heißen Tag habe ich einen Ausflug nach Jūrmala – ein Ort an der Ostsee, nur eine kurze Zugreise von Riga entfernt – gemacht, um das Meer zu genießen.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, drei Dinge nach Wien mit zu nehmen: Welche wären das?

Ganz eindeutig Essen: ķiploku graudziņi (Roggen-Knoblauchbrot) oder pīrāgi (Gebäck mit Füllung). Und alles vom Hauptmarkt in Riga – das Gemüse dort ist so frisch und köstlich!

Wie verarbeiten Sie all die Daten, die Sie gesammelt haben, nach Ihrer Rückkehr nach Wien?

Nachdem ich nur für begrenzte Zeit in Riga bin, sammle ich so viele Daten wie möglich. Zurück in Wien muss ich zuerst alles sichten, was ich gesammelt habe, um festzustellen, was davon nützlich ist. Informationen, wie beispielsweise zum Jahr, zur Regierungsstelle, zur Art der Information und andere Kriterien erfasse ich dann in meiner Datenbank. Ich hoffe, dass sich so ein Muster herauskristallisiert, mit dem ich weiterarbeiten kann.

Abschließend interessiert uns noch, wie Ihr Forschungsaufenthalt finanziert wurde. Welche Förderung hat Ihnen diesen Forschungsaufenthalt im Ausland diesen Sommer ermöglicht?

Ich bin Mitglied des doc.funds-Doktoratsprogramms am RECET (Forschungsverbund Research Center for the History of Transformations). Das ist ein interdisziplinäres Doktoratsprogramm des FWF. Unter anderem werden darüber Forschungsaufenthalte gefördert, die die Forschungsvorhaben von Doktorand*innen vorantreiben.

doc.funds

Das FWF-Doktoratsprogramm „The Dynamics of Change and the Logics of Transformation: State, Society, and Economy at Critical Junctures" (Dynamiken des Wandels und Logiken der Transformation: Staat, Gesellschaft und Wirtschaft an kritischen Wendepunkten) ist eine Kooperation zwischen RECET, der Vienna Doctoral School of Historical and Cultural Studies (DSHCS) und der Vienna Doctoral School of Social Sciences (ViDSS).Das Programm zielt darauf ab, Forscher*innen an der Schnittstelle zwischen Geschichte und Sozialwissenschaften auszubilden und legt einen Fokus auf Fallstudien des 20. und 21. Jahrhunderts.

Was möchten Sie uns noch von Ihrem Auslandsaufenthalt erzählen?

Klingt vielleicht langweilig, aber ich mag das Wetter hier wirklich. Es ist mild und kühl – ein wunderbarer Gegensatz zur Hitze in Wien.

Danke für das Gespräch! Genießen Sie den Rest Ihres Aufenthalts – wir sind gespannt auf die Ergebnisse Ihrer Forschung.

Mehr über Daria Tashkinovas Projekt

Zuweisungen an Städte von lokaler Bedeutung: Arbeitsmigration, der Aufbau eines Imperiums und das System der Arbeitszuweisung in der ehemaligen Sowjetunion

Ziel des Projekts ist es, das System der Arbeitszuweisung für Hochschulabsolvent*innen in der ehemaligen Sowjetunion und der frühen postsowjetischen Ära (1960-er-1990-er Jahre) zu untersuchen, und darauf aufbauend die Prozesse des sowjetischen Staatsaufbaus. Es geht es um die vom System ausgelösten Migrationsmustern und deren Einfluss auf die Ausbreitung des sowjetischen Systems in Estland, Lettland und Litauen mithilfe hochgebildeter Angestellter. Das Projekt behandelt damit die Entwicklungen nach dem Zusammenbruch der UdSSR, um den Wandel der wirtschaftlichen, politischen und Bildungsmodelle von der sozialistischen Planwirtschaft zu den Anforderungen des freien Marktes sowie die Anpassungsfähigkeit der sowjetischen Bildungs- und Arbeitsmodelle an die aufstrebenden unabhängigen Demokratien zu untersuchen.

Mehr über Daria Tashkinova.

© Daria Tashkinova
© Daria Tashkinova
Daria Tashkinova ist PhD-Studentin am Forschungsverbund Research Center for the History of Transformations (RECET) an der Universität Wien im Rahmen des FWF doc.funds-Projekts „The Dynamics of Change and Logics of Transformation: State, Society and Economy at Critical Junctures". In ihrer Dissertation befasst sie sich mit der Arbeitsmigration und dem Zuteilungssystem für Arbeitsplätze im spätsowjetischen Estland und Lettland.

Tashkinova studierte Europawissenschaften an der Ural Federal University und absolvierte den Joint Master in Global History an der Freien Universität Berlin und der Humboldt Universität zu Berlin. Während ihres Studiums war sie Redaktionsmitglied bei Global Histories: A Student Journal. Sie arbeitete mehrere Jahre in deutschen politischen Think Tanks mit Fokus auf zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit und den Schutz der Menschenrechte in Osteuropa und Russland.