Corona-Maßnahmen: Wer jetzt nicht im Boot ist, steigt nicht mehr ein
Rudolphina: Herr Kittel, nach über zwei Jahren und 32 Erhebungswellen kommt das Austrian Corona Panel Project nun zum Abschluss. Starten wir eingangs mit einem Abriss der zentralen Ergebnisse dieser umfassenden Studie. Wie lautet Ihr Resümee?
Bernhard Kittel: Die Pandemie hat Österreich in einer Phase erwischt, in der sich große gesellschaftliche Wandlungstrends – in der Wirtschaft oder am Arbeitsmarkt – bereits entwickelt haben. Einige dieser Trends wurden durch Corona verschärft und beschleunigt. Eine weitere Beobachtung ist, dass sich viele Grundeinstellungen, die sich gerade im ersten Lockdown doch sehr deutlich geändert haben, sukzessive wieder "normalisiert" haben. All die Hoffnungen, die es damals gab, dass eine bessere Welt kommen könnte, sehen wir in späteren Wellen nicht mehr. Ein dritter Befund ist, dass sich die gesellschaftlichen Differenzierungen – man kann durchaus von Spaltungen sprechen – im Vergleich zur Situation vor der Pandemie so gut wie nicht verändert haben. Ein Entsolidarisierungstrend war bereits vor der Pandemie angelegt, er hat sich etwas beschleunigt und in dieselbe, unerfreuliche Richtung weiterentwickelt.
Rudolphina: Also alles wie gehabt, zurück zur Prä-Corona-Normalität?
Bernhard Kittel: Nicht ganz. Wir beobachten einen massiven Vertrauensverlust in die Regierung bzw. in die Politik allgemein – und dieser Vertrauensverlust betrifft interessanterweise auch etablierte Medien wie den ORF. Die Vertrauenswerte sinken übrigens weiter, es ist also noch nicht einmal ein Boden erreicht, obwohl wir eigentlich schon am Boden sind: Über die Hälfte der österreichischen Bevölkerung hat kein bzw. wenig Vertrauen in die Regierung.
Rudolphina: Ein wichtiges Thema der Panelumfrage war auch die Wahrnehmung von Bedrohung, sowohl gesundheitlich als auch wirtschaftlich. Was sind hier die wesentlichen Ergebnisse?
Bernhard Kittel:
Generell haben die Menschen die gesundheitliche Bedrohung durch das Corona-Virus für die eigene Person geringer eingeschätzt als für die gesamte österreichische Bevölkerung. Das ist ein Optimismus-Bias, der hier mitschwingt: "Mir wird schon nichts passieren". Insgesamt erleben die Österreicher*innen die wirtschaftliche Gefahr wesentlich bedrohlicher als die gesundheitliche.
Was wir dabei sehr deutlich sehen, sind Parallelen zum wellenförmigen Verlauf der Pandemie: Wenn die Infektionszahlen hochgehen, steigt auch das Empfinden einer Bedrohung und umgekehrt. Ein Großteil der Menschen scheint auf das Bedrohungsszenario also sehr kurzfristig zu reagieren.
Rudolphina: Sehen Sie hier demographische Unterschiede?
Bernhard Kittel: Eigentlich nicht, aber es gibt einen Bildungseffekt: Menschen mit tertiärer Ausbildung, also z.B. einem Hochschulabschluss, nehmen die Gefahr generell etwas ernster, fühlen sich aber gleichzeitig wirtschaftlich etwas weniger gefährdet und sind eher bereit, bei den Maßnahmen mitzumachen, also testen und impfen zu gehen.
Rudolphina: Wie ist die Stimmung in der österreichischen Bevölkerung?
Bernhard Kittel: Das Erstaunlichste zur allgemeinen Stimmungslage ist, wie wenig sich geändert hat. Wenn wir die WHO-Depressivitätskriterien anwenden, sehen wir in keiner Weise substantielle oder statistisch relevante Variationen. Ganz allgemein gesprochen, den Leuten, denen es vorher gut ging, denen ging es auch während der Pandemie gut, den Leuten, denen es während der Pandemie schlecht ging, ging es auch vorher schon schlecht.
Rudolphina: Aber es gibt auch Ausnahmen?
Bernhard Kittel:
Ja, zum einen in der relativ kleinen Gruppe, die durch die Pandemie arbeitslos geworden ist, das hatte große Auswirkungen auf die Stimmungslage. Die meisten Beschäftigten in den betroffenen Branchen wurden jedoch von der Kurzarbeitsregelung aufgefangen. Der zweite ganz große Effekt in dieser Hinsicht betrifft die Jugendlichen. Die hat es wirklich schwer erwischt. Ein Indikator, den ich mir in diesem Zusammenhang angeschaut habe, ist das Einsamkeitsempfinden: Vor der Pandemie haben in der Österreich-Stichprobe des European Social Survey 80 Prozent der Teenager gesagt, sie fühlen sich "nie einsam". Zum Höhepunkt der Problemlage im Winter 2021 lag es ziemlich genau umgekehrt, 80 Prozent gaben an, sich einsam zu fühlen. Das sind schon schwere Verwerfungen. Der Umgang in Schulen mit der Bedrohung der Pandemie hat bei Jugendlichen schwerste Kollateralschäden im psychischen und im sozialen Bereich erzeugt.
Das ist auch der Punkt, der für mich aus dem Datenmaterial, das wir in zwei Jahren erhoben haben, am stärksten heraussticht. Wir haben eine Generation, die tatsächlich sehr negative Erfahrungen hinter sich hat. Wie sich das auf ihr weiteres Leben auswirken wird, das können wir jetzt noch nicht einschätzen.
Rudolphina: Warum hat es die Jugendlichen derart hart getroffen?
Bernhard Kittel: Der Umgang mit der Bedrohung ist ja komplett gegen übliche Reaktionsmuster, die man in schweren Krisen hat, gegangen. Im Krieg, bei Naturkatastrophen, rückt man zusammen, der soziale Zusammenhalt spendet Trost. In der Pandemie nun hieß es: Ihr dürft euch nicht treffen und wenn doch, dann bekommt ihr einen Strafzettel. Diese völlig an der Lebensrealität von Menschen vorbeigehende Strategie – auch wenn sie aus epidemiologischer Sicht sinnvoll gewesen sein mag – war gesellschaftlich katastrophal. Und das insbesondere für Jugendliche in einer doch sehr prekären Lebenssituation: Zwischen 14 und 18 löst man sich von den Eltern, aber diese Generation war zwei Jahre an die Eltern gekoppelt.
Rudolphina: Information ist ebenso ein wichtiges Thema in der Panelumfrage gewesen: Wer holt sich wo welche Informationen, und welche Auswirkungen hat dies auf das Verhalten?
Bernhard Kittel: Generell gibt es wie erwähnt eine Abwendung von den etablierten Medien, wie dem ORF, dieser Vertrauensverlust betrifft den Qualitätsjournalismus generell. Wer sich seine Informationen vor allem aus den sozialen Medien holt, distanziert sich auch eher vom allgemeinen Konsens zu geeigneten Corona-Maßnahmen, nimmt eher bei Maßnahmen-Demonstrationen mit, lässt sich eher nicht impfen, etc.
Austrian Corona Panel Project
Seit dem Beginn der COVID-19 Pandemie untersucht das Austrian Corona Panel Project (ACPP) die Stimmungslagen, Einstellungen, Verhaltensweisen und Informiertheit der österreichischen Wohnbevölkerung 14+. Von März 2020 bis Juni 2022 wurden in 32 Erhebungswellen umfassende Daten gesammelt. Während diese Datensammlung mit Juni 2022 beendet wurde, läuft das Austrian Corona Panel Project (ACPP) für wissenschaftliche Analysen noch bis März 2023. ACPP beruht auf einer Panelumfrage mit einer Stichprobe von 1.500 Respondent*innen, die die soziodemographische Struktur der österreichischen Bevölkerung repräsentativ abbildet.
Die Rohdaten sind öffentlich zugänglich und über 150 Beiträge zu einem Blog haben zu einer breiten Rezeption der Ergebnisse in Medien und Politik beigetragen. Die Principal Investigators des ACPP sind: Hajo Boomgaarden (Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft), Bernhard Kittel (Projektleiter), Sylvia Kritzinger (Institut für Staatswissenschaft) und Barbara Prainsack (Institut für Politikwissenschaft).
Die einen zücken das Handy, um Qualitätsmedien zu lesen, die anderen, um auf verschwörungstheoretischen Seiten auf Facebook zu surfen. Sie tun beide dasselbe, es kommt halt ganz was anderes dabei heraus.Bernhard Kittel
Rudolphina: Wie kommt man an diese Menschen ran?
Bernhard Kittel: Gar nicht mehr. Gerade was grundsätzliche Einstellungen betrifft, bleiben die Leute bei dem, was sie denken. Die Menschen haben sich am Anfang z.B. eine Impfeinstellung auf irgendeine Weise erlernt und das wars dann, die ändert sich nicht mehr. Das heißt, die Leute, die jetzt nicht bereit sind Maßnahmen mitzutragen, die werden wir auch nicht mehr erreichen. Man wird Strategien finden müssen, wie man trotzdem mit der Pandemie zurechtkommt.
Rudolphina: Hätte man sie früher erreichen können?
Bernhard Kittel: Es sind einige kommunikative Fehler gemacht worden, da viele Begriffe, wie z.B. "Herdenimmunität", aus der technokratischen Sprache der Expert*innen und der Ministerien unreflektiert verwendet wurden. Alleine wie der damalige Kanzler Kurz den Begriff "Massentest" verwendet hat, hat er die Österreicher*innen verloren gehabt. Kein Mensch möchte Teil einer Masse oder einer Herde sein. Das hat etwas Abwertendes. Dieser Umgang mit Begriffen war nicht sehr hilfreich beim Versuch, Maßnahmen zu finden, die dann auch mitgetragen werden.
Rudolphina: Das Austrian Corona Panel Project – abschließende Worte?
Bernhard Kittel: Ein Punkt, der mir persönlich wichtig ist zu betonen: Dieses Projekt hätte in dieser Form nicht stattfinden können, wenn nicht alle Teammitglieder mit einem unheimlichen Enthusiasmus hineingegangen wären. Die Arbeit daran wurde zusätzlich zu den normalen Aufgaben, denen wissenschaftliche Mitarbeiter*innen nachgehen, durchgeführt. Es ist ein unglaublicher Einsatz gewesen.
Rudolphina: Vielen Dank für das Interview!