Wie inklusiv ist unser Gesundheitssystem wirklich?
Niemand geht gerne zum Zahnarzt – aber bei Zahnschmerzen ist jede*r froh, schnell und unkompliziert Hilfe zu bekommen. Für etwa 89.000 Menschen in Österreich, die intellektuell beeinträchtigt sind, sieht die Realität anders aus: "Bei dieser Gruppe ist immer jemand anderer, Angehörige oder Betreuungspersonen, zuständig für die Versorgung. Diese Person muss die Schmerzen erst einmal mitbekommen, weil Menschen mit Beeinträchtigungen vielleicht gar nicht direkt sagen können, dass ihnen etwas wehtut. Stattdessen reagieren sie in solchen Situationen häufig mit herausfordernden Verhaltensweisen, die es dann richtig zu verstehen gilt.", erklärt Gesundheitspsychologin Elisabeth Zeilinger. Sie leitet die Arbeitsgruppe "Intellektuelle Beeinträchtigungen" am Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie der Universität Wien.
Um welche Menschen geht's?
Gemeint sind Personen, die schon während der Entwicklung, also vor dem 18. Lebensjahr, eine Beeinträchtigung erlebten – etwa durch chromosomale oder genetische Ursachen wie Trisomie 21 (Down-Syndrom), schädliche Substanzen in der Schwangerschaft oder Komplikationen bei der Geburt wie Sauerstoffmangel; meist ist die Ursache allerdings nicht bekannt. "Ein IQ unter 70 sowie Einschränkungen in den adaptiven Fähigkeiten, wie zum Beispiel beim Einkaufen, sich Waschen, Lesen und Schreiben, sind Merkmale, die auf eine intellektuelle Beeinträchtigung hinweisen", erklärt Zeilinger. Um diese Personengruppe einzubeziehen, müsse man bei ihrer Lebensrealität ansetzen, etwa bei der Sprache.
Was ist Leichte Sprache?
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Das Team um Zeilinger führt unter anderem qualitative Interviews mit den betroffenen Menschen und ihren Unterstützungspersonen durch. So zeigt sich, dass eine angemessene Gesundheitsversorgung dieser Personen viel Durchsetzungsvermögen, Zeit und den Kontakt zu engagierten Ärzt*innen erfordert. Hinzu kommen praktische Hürden wie Mobilität, Barrierefreiheit und herausfordernde Situationen.
"Lange Wartezeiten in einem unbekannten Umfeld mit vielen Reizen können zum Beispiel überfordernd sein. Viele Menschen berichten, dass sie im Wartezimmer angestarrt werden", beschreibt Theresa Wagner, Doktorandin in Zeilingers Team. Die Forscherinnen sind sich einig, dass diese Personengruppe im Gesundheitssystem nicht ausreichend berücksichtigt wird – obwohl Österreich seit 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, die eine gleichberechtigte Gesundheitsversorgung zusichert.
Mehr Krebstote durch mangelnde Vorsorge
Die Folgen mangelnder Inklusion sind gravierend. "Internationale Studien zeigen, dass Krebs bei Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen später erkannt wird und dadurch die Mortalitätsrate steigt", erklärt Zeilinger. Ein Forschungsschwerpunkt ihres Teams liegt auf Programmen zur Krebsvorsorge, speziell für Brust- und Darmkrebs. "Im Zuge der Brustkrebsfrüherkennung wird die Mammografie üblicherweise im Stehen durchgeführt. Das ist ein Problem für beeinträchtigte Frauen im Rollstuhl. Hinzu kommen sprachliche Hürden, weil Dokumente oft schwer verständlich sind und nicht in Leichte Sprache übersetzt werden", sagt Wagner.
Weltkrebstag am 4. Februar
Der Weltkrebstag erinnert weltweit an die Bedeutung der Prävention, Früherkennung und Erforschung von Krebs. Ziel ist es, das Bewusstsein für die Krankheit zu schärfen und Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung und Behandlung voranzutreiben.
Doch es tut sich etwas: Derzeit ist ein landesweites Darmkrebs-Screening in Planung, das auch im Bereich Inklusion neue Impulse setzen soll. Im Zuge dessen haben Zeilinger und ihr Team in Interviews mit 31 Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und 13 Unterstützungspersonen konkrete Barrieren und förderliche Faktoren identifiziert, die sie in einem Ergebnisbericht zusammenfassen. Die Erkenntnisse aus diesem und anderen Projekten sollen nun in die Neufassung des nationalen Krebsrahmenprogramms einfließen. Elisabeth Zeilinger und Theresa Wagner wurden hierfür in die Expert*innengruppe zum Thema „Chancengerechtigkeit“ eingeladen. "Das Tolle ist, dass wir hier von Anfang an inklusive Aspekte in die Entwicklung einbeziehen können", so Zeilinger.
Inklusive Forschung soll Datenlücken schließen
Um Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen aktiv in die Forschung einzubinden, muss das Team um die Psychologin kreative Lösungen finden. Dabei bringt Zeilinger selbst wertvolle Erfahrungen mit, da sie während ihrer Ausbildung als Unterstützungsperson in einer Wohneinrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen gearbeitet hat. Mit ihrem Team entwickelte sie beispielsweise Puzzles, um abstrakte Themen wie psychische Gesundheit greifbar zu machen und gemeinsam Definitionen zu erarbeiten – denn gängige Modelle sprechen dieser Personengruppe oft pauschal ab, jemals psychisch gesund zu sein. "Solange ich nicht verstehe, wie psychische Gesundheit für diese Personengruppe definiert wird, kann ich auch nichts Wirksames für sie tun", betont die Forscherin. Insgesamt sei die gesundheitliche Situation von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen unzureichend erfasst.
Die mangelhafte Datenlage, so Zeilinger, sei nicht zuletzt auf die Verbrechen an diesen Menschen in der NS-Zeit zurückzuführen. Zum Schutz dieser Personengruppe gebe es daher auch heute noch berechtigte Vorbehalte gegen Datenerhebungen. So kommt es, dass in den Gesundheitsstatistiken Österreichs keine Daten zu Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen zu finden sind. Diese Statistiken bilden die Basis zur Planung der Gesundheitsversorgungsstrukturen. Die Folge: Im österreichischen Gesundheitssystem finden sich keine besonderen Vorkehrungen für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen.
Die Einrichtung von anonymisierten Registern, wie es sie in anderen Ländern gibt, könnte entscheidend zur Verbesserung des Gesundheitssystems beitragen. "Ich sehe unsere Aufgabe als eine Art Service für das System, um fehlende Daten bereitzustellen. Diese sind für politische Veränderungen essenziell, denn evidenzbasierte Erkenntnisse lassen sich nicht einfach vom Tisch wischen", macht Zeilinger deutlich. "Österreich hat hier gerade aufgrund seiner Geschichte eine Verpflichtung gegenüber diesen Menschen, sie mit und durch Forschung zu unterstützen und ihre Lebenssituation zu verbessern." Derzeit finanziert sich der Arbeitsbereich Intellektuelle Beeinträchtigungen ausschließlich aus den von Zeilinger eingeworbenen Drittmitteln.
Bei der Ausbildung ansetzen
Wie ihre eigene Forschungsarbeit ist auch die Gesundheitsversorgung von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen bislang zu stark von Einzelpersonen abhängig, bedauert Zeilinger. "In der Medizin, Psychologie und anderen Fächern wird das Thema in der Ausbildung kaum behandelt. Nur wenn engagierte Lehrende Wahlfächer dazu anbieten, kommt man – oft eher zufällig – damit in Berührung", erklärt Zeilinger. Wünschenswert wäre es, wenn Universitäten entsprechende Inhalte verbindlich in ihre Lehrpläne aufnehmen, um Bewusstsein und Kompetenz zu schaffen.
"Die Unsichtbarkeit von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen liegt daran, dass sie in der Gesellschaft insgesamt zu wenig präsent sind," sagt Zeilinger. Dabei dürfe Inklusion keine Randfrage sein – weder im Kindergarten, noch auf dem Arbeitsmarkt und schon gar nicht, wenn man Zahnschmerzen hat. Gerade im Gesundheitsbereich müsse darauf geachtet werden, dass niemand ausgeschlossen wird.
Fokus der Arbeitsgruppe Intellektuelle Beeinträchtigungen
Die Forschung widmet sich den psychologischen, sozialen und gesundheitlichen Aspekten von intellektuellen Beeinträchtigungen. Ziel ist es, die Lebensqualität der betroffenen Menschen in verschiedenen Lebensbereichen und Lebensphasen zu verbessern, sowie die Chancengerechtigkeit bezüglich Gesundheit und Gesundheitsversorgung zu optimieren. Der Ansatz basiert auf Modellen der positiven Psychologie, Theorien der Selbstbestimmung und einer klaren Orientierung an der Menschenrechtsperspektive. Mehr dazu hier.
In enger Zusammenarbeit mit Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen erforscht sie die aktuelle Versorgungssituation sowie Möglichkeiten zu deren Verbesserung. Ihre persönliche Motivation zieht sie aus dem enormen Handlungsbedarf, den sie in dem Bereich sieht.
- Arbeitsgruppe "Intellektuelle Beeinträchtigungen
- Ergebnisbericht Projekt: Darmkrebsvorsorge bei Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen (auch in Leichter Sprache)
- Systematische Literaturübersicht "Gesundheitliche Situation von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen", BMSGPK
- Vereine und Behindertenorganisationen