Presenting… Sozialwissenschafterin Elif Gül

Fairness in der Geburtshilfe neu gedacht

21. Jänner 2025
Die Geburt eines Kindes wird oft mit Freude, Familie und Neuanfang assoziiert, aber was, wenn die Dinge nicht laufen wie geplant? Tatsächlich kann das Ereignis auch mit Leid, Vernachlässigung oder sogar offener Gewalt verbunden sein. Im Video stellt Elif Gül die Frage, wie fair Geburten wirklich sind.
Elif Gül, Doktorandin an der Vienna Doctoral School of Social Sciences, erklärt ihre Forschungsarbeit im Video: Sie will Ungerechtigkeit in der Geburtshilfe und ihre Ursachen besser verstehen – mit dem Ziel, Empfehlungen für eine bessere Geburtshilfe zu geben. Hinweis: Für deutschsprachige Untertitel aktivieren Sie zuerst die Untertitel-Option in Youtube. Dann gehen Sie in den Einstellungen (Zahnrad-Symbol) zur Option "Untertitel" und aktivieren Sie die Übersetzung von Englisch auf Deutsch. © Universität Wien/DLE Kommunikation

Das Konzept der Geburtengerechtigkeit (Birth Justice) entstand in den 1990er Jahren und wurde von Schwarzen Feminist*innen in den Vereinigten Staaten geprägt. Sie machten auf die systemische Misshandlung von Frauen und anderen Gebärenden in Krankenhäusern aufmerksam. Ihr Kampf für reproduktive Gerechtigkeit machte deutlich, wie unterschiedliche Formen der Unterdrückung zusammenwirken und sich auf den Zugang zu gerechter und würdevoller Versorgung auswirken.

„In meiner Forschung zu Gewalt in der Geburtshilfe untersuche ich, wie und in welcher Form diese in österreichischen Krankenhäusern auftritt“, sagt Elif Gül, Doktorandin an der Vienna Doctoral School of Social Sciences . Diese Gewalt kann viele Gestalten haben, wie z.B. nicht rechtzeitig im Krankenhaus aufgenommen zu werden oder keine Begleitperson mitbringen zu dürfen, bis hin zu körperlicher und verbaler Gewalt.

Studie: Gewalt in der Geburtshilfe

Eine kürzlich durchgeführte Studie der Europäischen Union kam zum schockierenden Ergebnis, dass zwischen 21 und 81 Prozent der Gebärenden in den Mitgliedsländern Gewalt in der Geburtshilfe erlebt haben. Angehörige marginalisierter Gruppen, insbesondere Personen aus sozial benachteiligten Verhältnissen, erleben diese Ungerechtigkeiten häufiger als andere Gebärende. „Dimensionen wie ethnische und soziale Herkunft, Klasse und Bildungsgrad könnten einen Einfluss auf das erlebte Ausmaß der Gewalt in der Geburtshilfe haben. Meine Forschungsfrage verlangt daher nach einem intersektionalen Ansatz“, betont Elif Gül.

Motive für Gewalt in der Gesundheitspflege verstehen

Eine der wichtigsten Fragen, die ihre Forschung antreibt: Wie kommt es zu Gewalt in der Gesundheitsversorgung? Es geht dabei nicht nur um die Personen, die sich um die Pflege kümmern, sondern auch um die Systeme und Institutionen, die ihr Handeln prägen. „Meine Methodik, die Praxeografie, konzentriert sich auf die alltäglichen Praktiken in der Geburtshilfe im Krankenhaus, um Muster ungerechter Behandlung aufzudecken“, erklärt Elif Gül. So beinhaltet Gewalt in der Geburtshilfe beispielsweise nicht immer offenkundige Gewalthandlungen. In manchen Fällen kann sie auf den institutionellen Rahmen, mangelnde Ressourcen oder unbewusste Vorurteile von Pflegekräften zurückzuführen sein. Mit ihrem Projekt verfolgt Elif Gül das Ziel, durch ein besseres Verständnis dieser Dynamik umsetzbare Empfehlungen zur Verbesserung der Geburtshilfe in Österreich und darüber hinaus zu geben. 

„Forschung ist oft ein wenig chaotisch, unvorhersehbar und verändert sich ständig – ähnlich wie die Geburt selbst. Mein typischer Arbeitstag umfasst Lehre, Beobachtungen an Studienteilnehmer*innen, das Führen von Interviews mit Gebärenden und Krankenhauspersonal, die Analyse meiner Daten und deren Aufbereitung für Präsentationen auf Konferenzen“, so Elif Gül. Als Doktorandin ist sie gleichzeitig Forscherin, Studentin und Lehrende: „Trotz der Herausforderungen betrachte ich es als ein Privileg, als Doktorandin in der Forschung arbeiten zu können.“ 

18 Vienna Doctoral Schools. Seit 2020.

Seit 2020 bieten die 18 Vienna Doctoral Schools exzellente Rahmenbedingungen einschließlich Teambetreuung und verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten, die es Doktorand*innen ermöglichen, international wettbewerbsfähige Forschung zu betreiben. In den Doktoratsschulen finden sie ein aktives und inspirierendes Forschungsumfeld, eine aktive PhD-Community und zahlreiche Möglichkeiten, um sich mit Kolleg*innen aus dem In- und Ausland zu vernetzen und auszutauschen. 

Warum Birth Justice wichtig ist

Nach Abschluss ihrer Masterarbeit wollte Elif Gül ihren Aktivismus mit Forschung kombinieren, um zu einer gerechteren Gesellschaft beizutragen. Sie entschied sich für das Doktoratsstudium im Fachbereich Gender Studies und beschloss, mit ihrer Forschung ganz am Anfang des Lebens anzusetzen: bei der Geburt. 

„Ganz gleich ob wir selbst Kinder zur Welt bringen oder nicht, wir sind alle von den Praktiken rund um die Geburt betroffen. Schließlich wurde jede*r von uns geboren und in diesem entscheidenden Moment betreut“, sagt Elif Gül. Wie wir mit Gebärenden umgehen, spiegelt die Werte unserer Gesellschaft wider und wirkt sich auf die kommenden Generationen aus. (red)

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