Worüber in Schulen gesprochen werden muss
Wertevermittlung beginnt in der Familie, doch schon bald mischen Betreuungsumfeld, Peer Group, Social Media etc. kräftig mit. Gemeinsame (z.B. demokratische) Werte im Schulunterricht einheitlich auszubilden, ist also alles andere als einfach, und viele Lehrer*innen wissen nicht so richtig, wie sie an das Thema herangehen sollen. Ihnen möchten der Professor für Bildungspsychologie an der Uni Wien Thomas Götz und der ehemalige Schulleiter, Schulberater und Autor Johannes Baumann nun einen Leitfaden an die Hand geben.
Im Rudolphina-Interview erklären sie, wie es um die Wertebildung an unseren Schulen steht und wie Lehrer*innen und Eltern gemeinsam an das Thema herangehen können.
Rudolphina: Beginnen wir einmal nicht mit dem Problem, sondern mit der Vision: Wie stellen Sie sich die ideale Schule vor?
Thomas Götz und Johannes Baumann: In unserer Wunschschule findet Lernen auf vielfältige Weise statt. Weil es eine Schule ist, die sich um die Potenziale der Schüler*innen kümmert. Es ist eine Schule, die die Neugier der Schüler*innen fördert, individuelle Interessen – und Lernwege – anerkennt und ermöglicht. Schüler*innen, die Wertschätzung erfahren, sich ihrer Stärken bewusst sind, deren Schwächen und Fehler nicht gegen sie verwandt werden, entfalten ihre Potenziale und kommen viel leichter zu ihren persönlichen Höchstleistungen. In unserer Wunschschule lernen die Schüler*innen nicht nur die gegenseitige Achtung, sondern haben die vielfältige Gelegenheit, miteinander kreativ zu sein und die wunderbare Erfahrung zu machen, gemeinsam erstaunliche Dinge hinzukriegen.
Buchtipp: Werteorientierung und Wertebildung in der Schulentwicklung
Die Vermittlung und Umsetzung von Werten an Schulen ist eine herausfordernde Aufgabe. In ihrem Buch "Werteorientierung und Wertebildung in der Schulentwicklung" stellen die Autoren Johannes Baumann und Thomas Götz praxistaugliche Methoden zur Wertevermittlung im Schulalltag vor.
Rudolphina: Und warum ist so eine Schule der Wunsch und nicht die Realität?
Thomas Götz und Johannes Baumann:
Schulen sind immer Institutionen der Vergangenheit. Das heißt, die Merkmale der Institution – beispielsweise die Schulstunde, die Bildungspläne, die Ausbildung der Lehrer*innen, aber auch die Architektur des Gebäudes usw. – kommen immer aus der Vergangenheit. Angesichts dieser "Macht der Vergangenheit" sickert das Neue immer nur langsam in das System ein.
Ein anderes Thema, für das aber nicht die Schulen verantwortlich sind, sondern wo der Ball im Feld der Politik liegt, sind Personalmangel und fehlende Ressourcen – je nach Schulart und Bundesland gibt es hier zum Teil erhebliche Unterschiede. Darunter leidet auch die Qualität der schulischen Arbeit und insbesondere die Wertebildung dramatisch und mit unabsehbaren Folgen, und viele notwendige Schulentwicklungen finden nicht statt.
GameLab: Spielend lernen
Digitale Spiele sind in den letzten Jahren zum Massenphänomen geworden und Teil des Alltags von Kindern und Jugendlichen. Sie sind immersiv, geben den Spielenden die Möglichkeit zu handeln (= Agency) und führen so zu handlungs- und erfahrungsbasiertem Lernen. Das GameLab der Universität Wien beforscht spielbasierten Unterricht nicht nur, es lädt zum Ausprobieren und Erleben von spielbasiertem Unterricht ein. Angeboten werden u.a. GameLab Koffer zum Ausborgen und zahlreiche Worskhops, z.B. "Computerspiele und Nationalsozialismus. Erinnerungskultur 2.0" oder "Gemeinsam regieren".
Hier finden Sie weitere Angebote zum Thema Weiterbildung für Lehrer*innen an der Uni Wien.
Rudolphina: Schule soll politisch und weltanschaulich neutral sein. Gilt das auch für Werte?
Thomas Götz und Johannes Baumann: Wenn es um die Würde des Menschen geht, um Grund- und Menschenrechte, um das, was unsere demokratische Verfassung konstituiert, eindeutig: Nein!
Rudolphina: Warum kommt die Wertebildung in den Schulen zu kurz?
Thomas Götz und Johannes Baumann: Schulen werden nach wie vor sehr stark mit dem fachlichen und kognitiven Lernen identifiziert und dieses genießt – natürlich nicht zu Unrecht – die Hauptaufmerksamkeit aller Akteur*innen. Gleichzeitig ist das Bemühen, in einer pluralen und offenen Gesellschaft gemeinsame Werte zu haben, eine dauernde Aufgabe, die grundsätzlich nicht zum Ende kommt. Die Frage ist immer, ob man diesem Bemühen "genügend gut" nachkommt, was man sicher im Hinblick auf Themen wie Rassismus oder Sexismus mit nein beantworten muss.
Schulen sind ein wichtiger Begegnungsraum für Jugendliche unterschiedlicher Herkunft und Prägung – und natürlich auch der Geschlechter.Thomas Götz
Rudolphina: Die Schüler*innen, aber auch die Lehrer*innen bringen ihre eigenen Werte in die Schule mit. Inwieweit kann die Schule darauf Einfluss nehmen?
Thomas Götz und Johannes Baumann:
In der Tat ist es so, dass durch die Schüler*innen eine unglaubliche Vielfalt in die Schulen hineingetragen wird. Diese Vielfalt ist eine Grundtatsache und selbstverständliche Ausgangslage an jeder Schule. Je nach Zusammensetzung der Schüler*innenschaft kann diese Vielfalt auch problematisch akzentuiert sein. Das bedeutet, dass in jeder Schule auf der Ebene der Schüler*innen eine Konfrontation mit unterschiedlichen Werten stattfindet. Nimmt man noch die sozialen Medien hinzu, findet im Hinblick auf Jugendliche eine permanente, sehr unkontrollierte Wertebildung statt. Das bedeutet zwar, dass der wertebildende Einfluss der Schule begrenzt ist, macht es aber umso notwendiger, das Bemühen um Wertebildung an den Schulen zu intensivieren.
Genau hier setzt unser Buch an. Es ist unsere zentrale These, dass der Wertediskurs in der Schule nur vor dem Hintergrund der Erfahrbarkeit, also im Rahmen einer bestimmten Schulkultur, erfolgreich sein kann. Zu dieser Schulkultur gehören wichtige Bereiche wie das Bemühen um Bildungsgerechtigkeit, die Hilfe zur Selbstentfaltung, eine Schulgestaltung, die Akzeptanz ausstrahlt und zu einer Willkommenskultur beiträgt, die Beziehungskultur und die Fehlerkultur. Es geht also primär gar nicht um didaktische Methoden, sondern um das Setting, die Kultur einer Schule. Auch die Lehrer*innen einer Schule sind sehr vielfältig und sind durchaus auch von unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen und Werten geprägt. Umso dringlicher im Interesse einer konsistenten Lernkultur ist der Dialog im Kollegium im Hinblick auf Werte und eine gemeinsame Schulkultur.
Es geht primär gar nicht um didaktische Methoden, sondern um das Setting, die Kultur einer Schule.Johannes Baumann
Rudolphina: Ab welchem Alter sollte man mit Kindern über Werte sprechen?
Thomas Götz und Johannes Baumann: Wertebildung findet bereits in sehr frühen Jahren statt, zunächst und natürlicherweise in der Familie. Den Eltern kommt in der Tat eine Schlüsselrolle zu, weniger in dem Sinn, wie sie über Werte reden oder ob überhaupt ein Wertediskurs stattfindet, sondern in der Form, wie sie ihren Kindern Geborgenheit und Sicherheit vermitteln, ihren Kindern Vertrauen schenken und ihnen Neugierde und ein positives Gespanntsein auf die Welt vermitteln. Im Vorschulbereich sollte die Wertebildung im Sinne von Werteorientierung – damit meinen wir insbesondere die Erfahrbarkeit von Wertschätzung unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, sozialem Status, körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung etc. – das selbstverständliche Erfahrungslernen prägen. In unserem Buch beschäftigen wir uns mit der Rolle des Raums Schule: Hier kann mit zunehmendem Alter auch explizit über Werte gesprochen werden, also ein Wertediskurs stattfinden.
Tipps für Eltern: Mit Kindern über Werte sprechen
Zunächst – im Kleinkindalter – ist die Erfahrung von Geborgenheit und Vertrauen wichtig. Später, insbesondere dann auch während der Pubertät, spielt in zunehmender Weise auch der Diskurs eine Rolle. Hier ist wichtig für Eltern:
- Nehmen Sie sich Zeit, mit Ihrem Kind über Werte zu sprechen.
- Definieren Sie vorab, welche Werte Ihnen wichtig sind.
- Führen Sie mit Ihrem Kind ein offenes Gespräch.
- Fragen Sie Ihr Kind, welche Werte ihm in einer konkreten Situation wichtig sind.
Hier finden Sie weitere "Elterntipps aus der Forschung in den Alltag" der Fakultät für Psychologie.
Rudolphina: Leider gehören auch Mobbing und Cybermobbing zum schulischen Alltag. Kann auch hier die Wertebildung eine Rolle spielen?
Thomas Götz und Johannes Baumann: Mobbing hängt insbesondere auch mit der Gruppen- und Sozialdynamik zusammen, die das Zusammenleben von Heranwachsenden prägt. Manche Schüler*innen bieten dafür mehr Angriffsflächen (durch Herkunft, Aussehen, Sozialprestige etc.) als andere. Eine konsequent erlebbare Werteorientierung an einer Schule kann hier präventiv wirken. Darüber hinaus braucht jede Schule eine Strategie, wie sie mit Mobbingfällen umgeht. Hier geht es darum, die Opfer schnell und wirkungsvoll zu schützen und zu stärken, und mit den Täter*innen so niederschwellig wie möglich zu arbeiten, um Einsicht herzustellen und Wiederholungen zu vermeiden. Auch das fällt leichter, wenn zwischen Eltern und Lehrer*innen ein wertebasierter Konsens besteht. Schulen sind also gut beraten, wenn sie mit den Eltern über Werteorientierung und Wertebildung reden und reflektieren.
Rudolphina: Hat die Schule hier in Zeiten von Social Media und Co. überhaupt eine reelle Chance?
Thomas Götz und Johannes Baumann: Die digitale Dynamik stellt die Schulen vor große Herausforderungen, keine Frage. Aber, trotz aller absehbaren oder im Augenblick noch unabsehbaren Entwicklungen, sind Schulen für die Schüler*innen ein Ort der realen und personalen Begegnung untereinander und mit den Lehrer*innen geblieben. Dahinter verbirgt sich keine konservative Einstellung, sondern die Erkenntnis, dass elementare soziale Erfahrungen und Werte nur im unmittelbaren Miteinander und auch in der Art und Weise, wie Konflikte ausgetragen und Gespräche geführt werden, erlebt und erfahren werden können.
Das DOCK: Workshops für Schulklassen
Das DOCK des Kinderbüros der Uni Wien am Wiener Donaukanal versteht sich als urbaner Ort für ko-kreative Prozesse: Kinder und Jugendliche arbeiten hier mit Expert*innen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Bildung und Politik an innovativen Lösungen. Im Fokus stehen Klimabildung, digitale Bildung, Demokratiebildung sowie Wirtschafts- und Finanzbildung. Das Programm umfasst Schulworkshops, offene Nachmittagsformate, Familienprogramme, Veranstaltungen, Diskussionsrunden, Exkursionen und Ferienwochen.
Rudolphina: Wie können Schulen zur Förderung der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern beitragen?
Thomas Götz und Johannes Baumann:
Schulen sind ein wichtiger Begegnungsraum für Jugendliche unterschiedlicher Herkunft und Prägung – und natürlich auch der Geschlechter. Das bedeutet, dass das Zusammenleben und miteinander Lernen eine einzigartige Chance ist und über großes Potential verfügt. Wie schon angedeutet, findet die Wertebildung in erster Linie eben nicht über den Wertediskurs statt. Es ist also nicht damit getan, eine Problematik angesprochen, etwas thematisiert zu haben. Werteorientierung findet über eine entsprechende Schulkultur statt. Das bedeutet aber auch, dass es keine schnellen Lösungen und im Einzelfall auch keine Erfolgsgarantie gibt.
Eine in Sachen Werteorientierung und Wertebildung hervorragend aufgestellte Schule erhöht Wahrscheinlichkeiten. Dafür braucht sie sehr viel Zeit in dreierlei Hinsicht: im Hinblick auf die Dauer der Schulzeit; im Hinblick auf die Frage, wieviel Zeit sich die Schule angesichts des Leistungsdrucks und der immer präsenten Stofffülle für das soziale Miteinander und die Beziehungspflege nehmen möchte; und im Hinblick auf die Verweildauer pro Tag (Frage des Ganztags). Nutzt eine Schule die Zeit im Sinne von Werteorientierung und Wertebildung, trägt das nachhaltig zur Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern bei.
Rudolphina: Vielen Dank für das Gespräch!
Videotipp: Forschung über Jugendradikalisierung
- Arbeitsbereich für Bildungspsychologie am Institut für Psychologie der Entwicklung und Bildung der Universität Wien
- Webseite von Thomas Götz
- Webseite von Johannes Baumann
- Buch "Werteorientierung und Wertebildung in der Schulentwicklung"
- Weiterbildung für Lehrer*innen an der Uni Wien
- Tipp: UniClub der Universität Wien - Lernhilfe in allen Schulfächern
- Tipp: Kostenloser Online-Selbstlernkurs (iMOOX) zum Thema Demokratie und Digitale Revolution