Der Pflege gerecht werden
Aktuell arbeiten in Österreich rund 127.000 Menschen in der Pflege – das sind etwa 70.000 Personen zu wenig, prognostiziert Pflegewissenschafter Martin Nagl-Cupal. Schätzungen zur Folge kann schon 2025 der steigende Bedarf nach Pflege nicht gedeckt werden – und die Situation wird sich mit dem demografischen Wandel noch weiter zuspitzen, weiß der Uni Wien-Experte.
Mehr Wertschätzung für den Pflegeberuf
Während gezielte Imagekampagnen versuchen, junge Menschen für den Pflegeberuf zu begeistern, denkt rund ein Viertel des aktiven Pflegepersonals darüber nach, ihre Tätigkeit an den Nagel zu hängen. Der Grund: hohe Belastung, Stress, fehlende Wertschätzung, fehlende Dienstplansicherheit und unangemessene Bezahlung. Die Finanzierung sei eine Stellschraube, an der die öffentliche Hand dringend drehen muss, betont Nagl-Cupal, der vor seiner akademischen Laufbahn selbst in der Krankenpflege tätig war: "Pflege heißt mehr als nur dafür zu sorgen, dass die Patient*innen satt und sauber sind. Es bedeutet auf komplexe Pflegesituationen eine evidenzbasierte, an den individuellen Bedürfnissen ausgerichtete Antwort zu haben. Wer einmal versteht, welche verantwortungsvollen Entscheidungen tagtäglich von Pfleger*innen getroffen werden, erkennt schnell, warum dieser Beruf wertgeschätzt – und damit auch höher bezahlt – gehört."
Pflegen lernen, Pflegen reflektieren
Am Institut für Pflegewissenschaft wird sowohl Grundlagenforschung betrieben, als auch anwendungsorientiert geforscht – mit dem Ziel, praktische Lösungen für die Pflegepraxis bereitzustellen. "Immer wenn wir Personalmangel haben, kommt automatisch das Thema Professionalisierung auf. Wir erleben eine Infragestellung des aktuellen Ausbildungssystems. Eine Aufweichung der Ausbildung bringt möglicherweise einen quantitativen Anstieg in der Pflege, qualitativ hingegen verlieren wir an Expertise, um auf die komplexen Herausforderungen in der Pflege zu reagieren", so Nagl-Cupals Einschätzung.
Pflegewissenschaft an der Universität Wien studieren. (Ein Bachelorstudium Gesundheits- und Krankenpflege wird an der Universität Wien nicht angeboten.)
Von der Pflege in die Altersarmut
Gepflegt wird nach wie vor primär von Frauen: In Österreich sind rund 90 Prozent des Pflegepersonals weiblich. Ähnliche Zahlen finden wir im in der familiären Pflege, erklärt Nagl-Cupal, der seit 2021 das Institut für Pflegewissenschaft an der Uni Wien leitet. Rund 80 Prozent aller Pflegeleistungen stemmen die Angehörigen – und auch hier sind die Hauptpflegepersonen mehrheitlich weiblich. Wenn Männer pflegen, dann meistens erst in der Pension. Frauen hingegen tendieren deutlich stärker dazu, ihre Erwerbsarbeit an die Pflege anzupassen. "Frauen, die pflegen, sind seltener berufstätig oder arbeiten in Teilzeit, um ihren Job mit der Pflege vereinbaren zu können. In der Folge bekommen sie weniger Pension und sind mit zunehmendem Alter häufiger von Armut bedroht", gibt der Pflegewissenschafter zu bedenken.
"Pflegen bedeutet auf komplexe Pflegesituationen eine evidenzbasierte, an den individuellen Bedürfnissen ausgerichtete Antwort zu haben"Martin Nagl-Cupal
Pflegende Kinder und Jugendliche
Dass pflegende Familienmitglieder strukturell benachteiligt sind, zeigt sich schon in jungen Jahren. Nagl-Cupal und sein Team haben großangelegte Studien zu einer oftmals unsichtbaren Gruppe der pflegenden Angehörigen durchgeführt – den Young Carers (hier geht es zum Projektendbericht). Allein in Österreich pflegen rund 42.000 Kinder und Jugendliche ihre Eltern, ihre Großeltern oder ihre Geschwister – für eine längere Zeit, mal mehr, mal weniger intensiv. "Young Carers übernehmen schon sehr früh Aufgaben, die klassischerweise mit der Erwachsenenpflege assoziiert sind. Und da wir diese Rolle im kindlichen Umfeld nicht erwarten, schauen wir da viel zu wenig hin. Pflegende Kinder werden oftmals übersehen", ergänzt Nagl-Cupal.
Das hat häufig dramatische Folgen: Young Carers sind auf psychischer, sozialer, aber auch auf physischer Ebene stärker belastet. Das zeigt sich insbesondere bei dem Übergang vom Jugendlichen- zum Erwachsenenleben. "Viele Betroffene treffen Entscheidungen vor dem Hintergrund ihrer Pflegeerfahrung. Wir sehen eine strukturelle Benachteiligung und tendenziell geringere Bildungschancen. Zum Beispiel studieren Young Carers seltener, da sie formale Bildung und Pflege nicht gut vereinbaren können. Aus deutschen und britischen Studien wissen wir, dass die Drop-Out-Quote Studierender, die pflegen, höher ist."
Bis zu einem gewissen Ausmaß sei es vollkommen normal, dass Kinder in schwierigen Situationen helfen und Verantwortung übernehmen. "Das gehört ein Stück weit dazu. Wichtig ist aber, das richtige Ausmaß zu finden, sodass Kinder in ihrer Entwicklung nicht negativ beeinflusst werden", lenkt Nagl-Cupal ein. Dafür muss die kindliche Pflege verstärkt ins Bewusstsein gerufen werden. Und daran arbeiten er und sein Team bereits seit Jahren: mit Aufklärungsarbeit an Schulen, im Kinder- und im Jugendbereich. "Pflegende Kinder werden nicht von alleine um Hilfe bitten. Es ist wichtig, dass Menschen aus ihrem Umfeld auf sie zugehen – vertrauensvoll und ohne Verurteilung."
Leseempfehlung: Schwer erreichbar?
Wie können Menschen am Lebensende gut begleitet und betreut werden? Wie kann Gesellschaft dazu beitragen, dass marginalisierte Gruppen nicht vergessen werden? Solche und andere Fragen stellen sich – auch – an der Schnittstelle von Palliative Care und Community Care. Im Buch "Schwer erreichbar?" von Elisabeth Reitinger, Katharina Heimerl, Gert Dressel, Ilona Wenger reflektieren Praktiker*innen und Wissenschafter*innen aus verschiedenen Bereichen ihre Erfahrungen. Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie Wege aufzeigen möchten, mit denen soziale Teilhabe von besonders verletzlichen Menschen unterstützt wird.
Hier finden Sie das Buch in der Universitätsbibliothek.
Wenn pflegende Eltern altern
Eine weitere Gruppe, die vom jetzigen System schlichtweg übersehen wird, sind pflegende Eltern, die selbst altern. "Ein pflegebedürftiges Kind zu haben ist ein lebenslanger Job – doch wer verrichtet diesen, wenn die Eltern mit ihrer eigenen Endlichkeit konfrontiert sind? Für jene Fälle haben wir in Österreich aktuell keine Lösung". Nagl-Cupal und seine Forschungsgruppe haben es mit Menschen zu tun, die teilweise über 70 Jahre alt sind und seit bis zu 50 Jahren pflegen. Für jene Personen fehlt es an gesunden Ausstiegsszenarien. Schätzungsweise pflegen rund zwei Prozent der Österreicherinnen, die bereits selbst Pflegeleistungen benötigen würden, noch ihre erwachsenen Kinder (hier geht es zum Forschungsprojekt).
Pflegende Kinder oder pflegende Eltern, die vor einer lebenslangen Aufgabe stehen, sind keine Phänomene, die der Pflegenotstand hervorgebracht hat, fasst Nagl-Cupal zusammen. Es sind aber Phänomene, auf die unser System aktuell keine adäquaten Antworten hat – und auf die wir daher umso genauer schauen müssen, um die Pflege gerechter zu machen. (hm)
Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Familienorientierte Pflege, Häusliche Pflege, Kinder- und Jugendlichenpflege sowie das Leben mit chronischer Erkrankung.