"Mehr Babys, bitte!" Ist Technologie die Lösung?
Stellen Sie sich vor, Sie sind eine 60-jährige Großmutter in China im Jahr 2024.
„Während viele unter der Ein-Kind-Politik Hetze und Verfolgung erlebt haben, und mitunter sogar zwangssterilisiert oder zu Abtreibungen gezwungen wurden, animiert die chinesische Regierung Frauen heute explizit, mehr Kinder zu bekommen“, sagt Ayo Wahlberg, Anthropologe und Autor von „Good Quality-The Routinization of Sperm Banking in China“. Die staatlichen Abtreibungskliniken wurden quasi über Nacht zu Kinderwunschzentren im Sinne der Zwei- und mittlerweile Drei-Kind-Politik. „Man kann sich ungefähr vorstellen, wie sich das anfühlen muss“, so der Professor von der Universität Kopenhagen und Gastprofessor an der Universität Wien.
Geburtenrückgang ruft weltweiten "Pronatalismus" auf den Plan
Die drastische Kehrtwendung Chinas ist eine Reaktion auf eine prophezeite kinderarme Zukunft. „Die Fruchtbarkeit der Bevölkerung geht weltweit zurück, nicht nur in der westlichen Welt oder in Ostasien, wo Südkorea für seine niedrige Geburtenrate bekannt ist. Auch in Lateinamerika und Subsahara-Afrika gibt es einen Rückgang“, so Wahlberg.
Laut dem World Population Prospects-Bericht der UNO aus dem Jahr 2024 sank die weltweite Fertilitätsrate seit den 1960er-Jahren um mehr als die Hälfte und steht jetzt bei 2,3 anstelle von 5 Kindern pro Frau. In Afrika liegt die Rate aktuell bei 4 Kindern pro Frau, im Vergleich zu noch 7 Kindern pro Frau in den 1970ern. Laut den neuesten OECD-Sozialindikatoren lag die Rate 2022 in den Mitgliedstaaten bei gerade mal 1,5 Kindern pro Frau.
In vielen Ländern kommt ein Geburtenrückgang einer nationalen und wirtschaftlichen Krise gleich (oft als „Babykrise“, „Geburtenkrise“ und manchmal als „Bevölkerungskollaps“ betitelt). Dahinter steckt die Folgerung, dass ein Rückgang der erwerbstätigen Bevölkerung es verunmöglicht, eine alternde Gesellschaft dauerhaft zu unterstützen. Industrien und Schulen, die für eine jüngere oder wachsende Bevölkerung ausgelegt sind, können der Situation langsam nicht mehr gerecht werden.
Damit ist der Pronatalismus im Vormarsch, mit Rufen nach Einschränkungen, Regulierung oder Sozialhilfe, um die nationale Geburtenrate zum Steigen zu bringen. Immer mehr Länder lassen verlauten, dass mehr Kinder geboren werden sollen. So beispielsweise die dänische Regierung, die verspricht, das „Problem der ungewollten Kinderlosigkeit“ zu lösen, indem die Kosten für künstliche Befruchtung vom öffentlichen Gesundheitswesen getragen werden, oder Putins aktuell angestrebtes Verbot von so genannter „Kinderlosigkeits-Propaganda“. Im jüngsten US-Präsidentschaftswahlkampf heizten die Behauptungen extremer Pronatalisten über das angebliche Aussterben von Bevölkerungsgruppen und "race wars" den Diskurs zur Geburtenkontrolle an. Das bisherige Schreckgespenst der weltweiten Überbevölkerung scheint dabei in den Hintergrund getreten zu sein.
IVF, Leihmutterschaft, Eizellspenden und Samenbanken als DIE Lösung?
Um die Fortpflanzungsanforderungen zu erfüllen, entwickelt sich ein wachsender Markt rund ums „Kinder kriegen“. Die zumeist private Industrie rund um Fruchtbarkeitsbehandlungen setzt vielfach auf medizinisch unterstützte Technologien, wie IVF (In-vitro-Fertilisation), Leihmutterschaft, sowie Eizell- und Samenspenden. Zudem ist aus dem Geschäft mit der Fortpflanzung mittlerweile ein globaler Markt geworden. Personen mit Kinderwunsch reisen ins Ausland, um Spender*innen und Leihmütter zu finden oder um die Einschränkungen in ihren eigenen Ländern zu umgehen (beispielsweise sind IVF-Behandlungen für alleinstehende Frauen oder gleichgeschlechtliche Paare in vielen Ländern verboten).
Könnte ein vereinfachter Zugang zu Fruchtbarkeitsbehandlungen eine direkte Lösung für den Geburtenrückgang sein? Die Anthropologin Veronika Siegl, die sich mit dem kommerziellen Leihmutter-Markt in Russland und der Ukraine befasst hat, um die moralischen Realitäten von Leihmüttern zu verstehen, und Anthropologe Ayo Wahlberg, der sich seit mehr als einem Jahrzehnt mit Familienpolitiken und den Akteuren in staatlich kontrollierten Kinderwunschzentren in China beschäftigt, sind skeptisch.
Eine Fixierung auf technokratische Lösungen würde den vielschichtigen Ursachen für den weltweiten Fertilitätsrückgang nicht gerecht werden. Zudem schreibt solch ein Fokus die Schuld häufig der einzelnen Frau und ihrer Unfruchtbarkeit zu.
Jedes Land hat eine "reproduktive Szene"
„Fruchtbarkeitsbehandlungen als die Wunderlösung zu preisen ist dasselbe, wie ein komplexes Problem mit einem Pflaster verdecken zu wollen.“ Um die Herausforderungen im Zusammenhang mit Fertilität zu verstehen, so Wahlberg, müssen wir zuerst einen Schritt zurücktreten und zur Kenntnis nehmen, dass „jedes Land seine eigene 'reproduktive Szene' hat, also staatliche Strukturen zur Förderung der Reproduktion. In der englischen Fachsprache sprechen wir von der 'fertility scene'." Gemeint sind Rahmenbedingungen und rechtliche Grundlagen sowie Richtlinien und Moralvorstellungen, die Fortpflanzung gestatten und legitimisieren. Sie legen fest, was warum erlaubt ist.
Die Ziele der medizinisch unterstützten Fortpflanzungstechnologien fügen sich in die Regeln und Zwänge der jeweiligen fertility scene eines jeden Landes ein. So war das Ziel der fertility scene im China der Ein-Kind-Politik, einer Überbevölkerung entgegenzuwirken. „Aber sogar damals, in den 1980ern, hat es die weltweit größte Kinderwunschklinik geschafft, die für Familienplanung verantwortlichen Akteure davon zu überzeugen, dass Fruchtbarkeitsbehandlungen doch ihre Berechtigung haben. Nicht nur, um zeugungsunfähigen Paaren zu helfen, sondern auch damit der Staat allen ermöglichen kann, ihr eines Kind zu bekommen“, erzählt Wahlberg, der Interviews mit dem Leiter von Chinas ältester Kinderwunschklinik in Hunan geführt hat.
In Russland propagieren kommerzielle Akteure im Bereich der Leihmutterschaft ebenfalls, dass Reproduktionstechnologien ein wesentlicher Faktor im Kampf gegen den Bevölkerungsrückgang seien, so Siegl, Autorin des neuen Buchs "Intimate Strangers: Commercial Surrogacy in Russia and Ukraine and the Making of Truth". „Das kürzliche Verbot der Leihmutterschaften für ausländische Wunscheltern in Russland unterstreicht, dass nur der russische Staat und seine (heterosexuellen) BürgerInnen davon profitieren sollen“, erklärt die Anthropologin, die Teil der Forschungsgruppe "Health Matters" an der Universität Wien ist. „Vor einiger Zeit behauptete der Leiter der größten Leihmutteragentur Russlands sogar, dass die Leihmutterschaft aufgrund der hohen Kosten die ‚Fortpflanzung der Elite‘ fördere.“
Während die Existenz einer nationalen "fertility scene" in Ländern wie China vielleicht nicht überrascht, „nimmt die überkommerzialisierte Fruchtbarkeitsindustrie sogar im Marktkapitalismus der Vereinigten Staaten Einfluss auf diesen ganz intimen Lebensbereich der einzelnen Amerikaner*innen“, erklärt Wahlberg. Sie entscheidet, wer Zugang bekommt und wer diskriminiert wird. „In jedem Land gibt es so eine Szene.“
„Fruchtbarkeitsbehandlungen als Allheilmittel zu sehen ist dasselbe, wie ein komplexes Problem mit einem Pflaster verdecken zu wollen. Um Fruchtbarkeit zu verstehen, müssen wir erkennen, dass jedes Land seine eigene 'fertility scene' hat.“Ayo Wahlberg
Die Forschungsgruppe Health Matters
Health Matters ist eine Forschungsgruppe am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien. An der Schnittstelle zwischen kritischer medizinischer Anthropologie, globalem Gesundheitswesen und feministischer Wissenschaft- und Technikforschung wollen die beteiligten Wissenschafter*innen verstehen, welche Rolle Gesundheit spielt und wie man ihr zu mehr Bedeutung verhilft. Eines der Projekte – Less is More? – befasst sich mit der Verschreibung, dem Umlauf und dem Einsatz von Antibiotika und Benzodiazepinen, mit dem Ziel, einen evidenzbasierten Ansatz für die nachhaltige Verschreibung bzw. das “De-Prescribing” zu entwickeln. Nähere Informationen zur Forschungsgruppe und ihren Projekten finden Sie auf der Website von Health Matters.
Der Forschungsverbund "Gesundheit in Gesellschaft" unter der Leitung von Janina Kehr und Robert Böhm wurde vor Kurzem an der Universität Wien eingerichtet. Veronika Siegl ist eine der Koordinator*innen. Der offizielle Launch des Forschungsverbundes und seiner Website folgt – wir halten Sie auf dem Laufenden!
Save the Date: MAE Konferenz 2025
Die Forschungsgruppe Health Matters veranstaltet gemeinsam mit dem EASA Medical Anthropology Europe Network die 2025 Medical Anthropology Europe Conference: Redefinitions of Health and Well-Being, die von 16. bis 19. September 2025 an der Universität Wien stattfindet.
"Ethische Arbeit" im Geschäft mit der Fruchtbarkeit
In jeder nationalen fertility scene sind selektive Abtreibungen, die Auswahl von Leihmüttern und Samenspenden Teil der dort üblichen Praktiken und Entscheidungen. Diese Strukturen, so Wahlbergs Argumentation, prägen die intimen Erfahrungen Einzelner, die versuchen, sich darin zurecht zu finden.
Diese Erfahrungen führen manchmal in moralische Grauzonen. Siegl untersucht die "intime Arbeit", der sich russische und ukrainische Leihmütter beim Einstieg in den kommerziellen Markt verschreiben – eine Praxis, die eng mit moralischen Tabus, Rechtswidrigkeit und Geheimhaltung verbunden ist.
Die hohe Kommerzialisierung der Leihmutterschaft ermöglicht ein distanziertes, ja „steriles“ Geschäft. Siegl erinnert sich an ein Interview mit einer Frau aus Russland, die „einfach froh war, dass sie bezahlt wurde und dass die Klinik die gesamte Kommunikation übernahm. Sie hatte keinen Kontakt zu den Eltern und wollte es auch nicht.“ Dies entspricht dem allgemeinen Verständnis von Leihmutterschaft als Geschäftsbeziehung, was Russland und die Ukraine eindeutig von Ländern wie den USA unterscheidet, in denen Altruismus und Liebe gängige Narrative rund um Leihmutterschaft sind. „Während intime und emotionale Verbindungen in erstem Fall als gefährlich und unethisch betrachtet werden, gelten in letzterem finanzielle und wirtschaftliche Aspekte als verwerflich“, sagt Siegl.
Verschiedene sozio-historische Zusammenhänge beeinflussen unsere Einstellung dazu, was an Leihmutterschaft richtig oder falsch ist. Leihmütter und Eltern mit Kinderwunsch leisten infolgedessen "ethische Arbeit", wie es Siegl nennt, wenn sie sich mit der moralischen Kritik zum Thema beschäftigen und ihr begegnen. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen ‚Wahrheiten‘ zu Leihmutterschaft, die oft vereinfacht werden und sich stetig ändern, „hilft den Leihmüttern und Auftragseltern, ihre Rollen in diesem reproduktiven Markt zu navigieren“, erklärt Siegl. „Und gleichzeitig fördern sie im größeren Maßstab die Ausbreitung des Marktes“. Beispielsweise erleichtert das Framing von Leihmutterschaft als bezahlte Arbeit, wie etwa in Russland üblich, einen "reibungslosen" Austausch von Baby und Geld. Dieses Geschäft lässt sich als Rettung der so genannten "traditionellen Familie" darstellen und legitimieren.
Lesetipp: "Intimate Strangers" von Veronika Siegl
Intimate Strangers: Commercial Surrogacy in Russia and Ukraine and the Making of Truth (2023) von Veronika Siegl ist ein Open-Access-Buch, herausgegeben von Cornell University Press.
„Intimate Strangers befasst sich mit der Ausbreitung des Marktes in die intimen Lebensbereiche, die auf den Körpern von Frauen als Mütter und Arbeiterinnen ausgetragen werden. Veronika Siegl ... diskutiert diese Themen vor dem Hintergrund des Ultrakonservatismus und der moralischen Staatsführung in Russland, der steigenden internationalen Beliebtheit des ukrainischen Leihmutterschaftsmarktes und der Verbreitung neoliberaler Ideologien und individualisierter Vorstellungen von reproduktiver Freiheit." (Auszug aus dem Klappentext)
Das Buch ist als kostenloses E-Book auf der Website des Herausgebers verfügbar.
Frauen sind schlichtweg erschöpft
Wahlberg arbeitet an einem neuen Konzept. Der Diskurs zum Geburtenrückgang konzentriert sich häufig auf Frauen und ihre Entscheidungen. Beispielsweise darauf, dass immer mehr von ihnen ins Erwerbsleben eintreten, ein höheres Bildungsniveau haben und mehr persönliche Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit und Ehe. Solche Erklärungen legen jedoch zu viel Gewicht auf die einzelne Frau, ohne die fertility scene zu berücksichtigen, in der sie sich befindet.
Um die vielfältigen Faktoren, die hier eine Rolle spielen, besser erfassen zu können, bringt Wahlberg das Konzept der "reproduktiven Erschöpfung" ‒ auf Englisch "fertility exhaustion" ‒ ins Treffen. Dieses beschreibt, wie unsere kapitalistische Gesellschaft Frauen Kräfte raubt, indem sie verlangt, dass Frauen mehr arbeiten und sich mehr um die Erziehung kümmern; gleichzeitig ist unsere Gesellschaft frauenfeindlich, indem von Frauen mehr Arbeit im Haushalt und Care-Arbeit für weniger Lohn und niedrigere Pensionen verlangt wird. Dieses Konzept zeigt auf, welchen Einfluss die strukturelle und alltägliche Diskriminierung von Frauen auf die Fertilitätsrate hat ‒ aber auch die Sorge um eine Zukunft, die von Klimawandel, wirtschaftlicher Unsicherheit und Konflikten überschattet ist.
Selbst in Sozialstaaten verpflichtet ein impliziter gesellschaftlicher Vertrag Frauen zu vielerlei, so Wahlberg: "Sie müssen natürlich Steuern zahlen, aber Sie müssen sich auch fortpflanzen, da es sehr bald viele alte Menschen geben wird, die Betreuung brauchen." Nach einer Pause ergänzt er: "Aber wer würde einen solchen Vertrag unterzeichnen? Wir müssen den Pronatalisten Kontra geben, die der Frau die Schuld in die Schuhe schieben möchten."
„Die 'fertility exhaustion' ist stark geschlechtsspezifisch“, so Siegl, „sie wird sich nicht verbessern, solange Männer nicht bereit sind, sich stärker in die Kinderbetreuung oder andere Formen reproduktiver Arbeit einzubringen“. Unter den europäischen Ländern liegt Österreich mittlerweile an letzter Stelle, was die Inanspruchnahme von Väterkarenz angeht.
Leihmutterschaft und IVF gehören zu einem Technologiepaket, mit dem das soziale Problem des Geburtenrückgangs nicht gelöst werden kann, ohne gleichzeitig auch die Schwächen unserer heutigen Gesellschaft und die Ungleichbehandlung von Frauen zu berücksichtigen. „Was auch immer Ihre Meinung zum Geburtenrückgang sein mag, vielleicht ist die global niedrige Geburtenrate ein Symptom, ein Signal, Warnschuss, der etwas viel Problematischeres in unseren Gesellschaften zeigt“, schließt Wahlberg.
Zum Nachschauen: Reproductive futures: Shifting the limits of late fertility? How will technology change reproduction?
Fünf Podiumsteilnehmer*innen diskutierten am 21. November 2024 um 16:30 unter der Moderation von Journalistin Anna Wallner (Die Presse) zur Zukunft des Kinderkriegens. Hier geht‘s zur Nachschau auf Uni Wien live:
- Website von Ayo Wahlberg an der Universität Kopenhagen
- Website von Veronika Siegl am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie
- Institut für Kultur- und Sozialanthropologie
- Forschungsgruppe Health Matters
- Buchtipp: Intimate Strangers ‒ Commercial Surrogacy in Russia and Ukraine and the Making of Truth
- Buchtipp: The New Reproductive Order ‒ Technology, Fertility, and Social Change around the Globe