Warum Impfungen auch politisch sind
scilog: Frau Paul, in Ihrem START-Projekt beschäftigen Sie sich mit mit der Frage, welchen Stellenwert verschiedene Akteursgruppen der Gesellschaft Impfungen und Impfprogrammen zumessen...
Katharina Paul: Meine Annahme ist, dass sich darin auch eine Bewertung der Governance, also der politischen Steuerung, widerspiegelt. Bisherige sozialwissenschaftliche Forschungen sind hauptsächlich auf impfkritische Haltungen eingegangen. Parallel dazu weisen Entscheidungsträger*innen vor allem auf den epidemiologischen Wert von Impfungen hin – zum Beispiel gemessen an Impfraten. In meinem Projekt schaue ich mir an, welche anderen Wertevorstellungen gesamtgesellschaftlich bestehen. Diese Werte können wissenschaftlich, wirtschaftlich, ethisch, sozial oder persönlich sein und können nicht immer in Zahlen erfasst und ausgedrückt werden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Vater steht vor der Entscheidung, sein Kind gegen Windpocken impfen zu lassen. Die Ärztin sagt ihm, wenn das Kind an Windpocken erkrankt, wird es zehn Tage krank sein. Als Elternteil berechnet er, dass auch er zehn Tage von der Arbeit zuhause bleiben muss, wenn sein Kind erkrankt. Er bezieht also nicht nur den persönlichen Wert – den Schutz des Kindes – mit ein, sondern auch einen ökonomischen Wert. Genauso wie die Politik ökonomische Werte miteinbezieht, wenn es etwa um Kosteneffektivität neuer Impfungen geht oder den Erhalt von Arbeitskräften.
Das START-Programm des Wissenschaftsfonds FWF richtet sich an junge Spitzenforschende, denen die Möglichkeit gegeben wird, auf längere Sicht und finanziell weitgehend abgesichert ihre Forschungen zu planen. Das Förderungsprogramm ist mit bis zu 1,2 Millionen Euro dotiert und zählt neben dem Wittgenstein-Preis zur prestigeträchtigsten und höchstdotierten wissenschaftlichen Auszeichnung Österreichs.
scilog: Welche Methoden wenden Sie an?
Paul: Das Projekt ist in fünf Arbeitspakete aufgeteilt: nationale Kinderimpfprogramme, Primärversorgung, Pharmaindustrie, Impfforschung und soziale Medien. Ich werde mich auf Interviews, ethnografische Beobachtungen und Inhaltsanalysen von Twitter-Daten stützen. Ein Beispiel für eine ethnografische Beobachtung wäre ein Impfberatungsgespräch zwischen Ärztin und Erziehungsberechtigten. In erster Linie geht es um das nationale Impfkonzept für Kinder, aber auch Covid-19-Impfungen werden Teil meiner Forschung sein.
scilog: Wie sehen die ersten Schritte aus?
Paul: Derzeit schließe ich mein Elise-Richter-Projekt ab, das ich durch eine FWF-Förderung realisieren konnte. In naher Zukunft nehme ich allerdings Urlaub! Dann werde ich ein Team rekrutieren, mich mit internationalen Kooperationspartner*innenzusammensetzen und noch einmal das Forschungsdesign zuspitzen, da sich in Impfprogrammen ja einiges getan hat.
scilog: Was bedeutet der START-Preis für Ihre Forschungstätigkeit insgesamt?
Paul: Zum einen bedeutet der Preis eine Anerkennung von viel Arbeit, auf der dieses Projekt basiert. Er ist auch eine persönliche Bestätigung dafür, dass ich gute Entscheidungen getroffen habe. Es war richtig, meinem Interesse und den Forschungsfragen zu folgen, die mich neugierig gemacht haben. In der Politikwissenschaft beschäftigt sich ja kaum jemand mit dem Thema Impfen. Und natürlich bedeutet der Preis für mich, dass ich unabhängig forschen kann. Diese Auszeichnung gibt mir eine langfristige Zukunftsperspektive für mein Forschungsprogramm.
scilog: Was motiviert Sie im Forschungsalltag?
Paul: Sicherlich meine Neugier. Und es ist motivierend, ein Thema zu erforschen, das so nahe mit grundlegenden gesellschaftlichen Fragen und Wertevorstellungen verbunden ist. Motivation finde ich auch im Dialog mit Kooperationspartner*innen. Wenn einmal etwas nicht gleich gelingt, motiviert der Austausch, trotzdem dranzubleiben.
scilog: Haben Sie Vorbilder?
Paul: Es fällt mir schwer, konkrete Personen zu nennen. Mich inspirieren Kolleginnen, die vorzeigen, dass man einen sehr anspruchsvollen Beruf mit guter Lebensqualität verbinden kann, und Kolleg*innen, die einander unterstützen. Ich habe die Solidarität unter Frauen in der Wissenschaft sehr zu schätzen gelernt. Vorbilder sind für mich auch jene Frauen, die sich in der Wissenschaftsgeschichte noch unter ganz anderen Bedingungen durchgesetzt haben.
Das Interview führte Magdalena Meergraf; es ist am scilog des FWF erschienen.
Paul hat Politikwissenschaften in Tel Aviv, Wien, Essex und Amsterdam studiert. Danach war sie als Assistenzprofessorin an der Erasmus-Universität Rotterdam tätig. Für ein Lise-Meitner-Stipendium des Wissenschaftsfonds FWF ist sie schließlich 2013 nach Wien zurückgekehrt.