Rätsel der Physik

Vom Allergrößten zum Allerkleinsten

28. Mai 2025 von Sebastian Deiber
Die Physik strebt danach, die Natur mit höchster Präzision zu beschreiben ‒ und doch spießen sich manche ihrer Theorien. Die Suche nach den fehlenden Puzzleteilen führt an die Grenzen der Wissenschaft. Drei Forscher*innen aus Quantenforschung, Teilchenphysik und Mathematik erzählen von ihrem Versuch, den Rätseln des Universums Wissen abzuringen.
Sowohl in der Teilchenphysik als auch in Einsteins Gravitationstheorie gibt es nach wie vor Wissenslücken, die der Physik einige ihrer größten Rätsel aufgeben: die Beschaffenheit der Dunklen Materie, die Frage der Quantengravitation und die Geometrie "ungewöhnlicher" Raumzeit. © Adobe Stock

Auch wenn so manche WG-Küche nicht danach aussieht: der menschliche Verstand strebt nach Ordnung. Indem wir Muster im Chaos erkennen, erklären wir uns die Welt. So versuchen Wissenschafter*innen Phänomene, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, in Zusammenhang zu bringen. Im 17. Jahrhundert stellte Isaac Newton fest, dass dieselbe Schwerkraft, die Regentropfen vom Himmel fallen lässt, auch für die Umlaufbahn des Mondes um die Erde verantwortlich ist.

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Podiumsdiskussion zur Semesterfrage
Zum Abschluss der Semesterfrage diskutieren internationale Wissenschafter*innen sowie Alumni der Universität Wien gemeinsam mit dem Publikum im Großen Festsaal über das Zukunftspotenzial der Quantenforschung. Die Veranstaltung richtet sich an alle Interessierten.

Das Standardmodell bringt Naturkräfte unter ein Dach

In ihrem Bestreben, die Naturkräfte in ein umfassendes wissenschaftliches Weltbild einzuordnen, feierte die Physik später noch weitere Erfolge. Rund 200 Jahre nach Newtons Durchbruch vereinte James Maxwell die Elektrizität und den Magnetismus, welche bis dahin völlig unabhängig voneinander schienen. Seine Beschreibung des Elektromagnetismus gilt bis heute als Musterbeispiel dafür, wie sich scheinbar getrennte Naturkräfte zu einer gemeinsamen Erklärung zusammenführen lassen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Physik auf den Kopf gestellt. Einsteins Relativitätstheorien und die Quantentheorie zeigten die Grenzen von fest etablierten Konzepten auf, wie etwa dem Determinismus der klassischen Mechanik Newtons.

Physiker*innen versuchten, auch diese Theorien zusammenzuführen. Die Verbindung Einsteins spezieller Relativitätstheorie mit der Quantenphysik brachte die Quantenfeldtheorie hervor. Diese beschreibt Teilchen als Störungen in einem Feld, vergleichbar mit Wellen im Ozean. Die Quantenfeldtheorie bildet die Grundlage dessen, was heute als "Standardmodell der Teilchenphysik" bekannt ist – eine extrem genaue Theorie, die die Bausteine der Materie, ihre Wechselwirkungen und die Kräfte zwischen ihnen beschreibt.

Josef Pradler, theoretischer Teilchenphysiker an der Universität Wien, betont den Stellenwert dieser bis dato umfassendsten Theorie. "Das Standardmodell erlaubt, alle beobachtbaren nicht-gravitativen Phänomene zu beschreiben", so Pradler. Ob Kernfusion in Sternen, der Zerfall radioaktiver Atome oder das Aussenden von Photonen durch eine Glühbirne – das Standardmodell ist die zentrale Theorie, um eine Vielzahl physikalischer Prozesse zu verstehen. Es sagte sogar das Higgs-Boson voraus, ein Teilchen, das allen anderen Teilchen durch Wechselwirkung mit ihm ihre Masse verleiht und 2012 nachgewiesen wurde.

Und trotzdem ist das Standardmodell alles andere als vollkommen. Unser begrenztes Verständnis des Allerkleinsten offenbart sich dann, wenn wir das Allergrößte betrachten.

Ein "Quäntchen" Wissen: Was ist überhaupt eine Theorie?

In diesem Artikel begegnen uns viele "Theorien", die bestimmte Phänomene "erklären". In der Wissenschaft ist eine Theorie nicht einfach eine Vermutung. Sie ist vielmehr eine fundierte Erklärung von Aspekten der Welt, die auf handfesten experimentellen Belegen fußt.

Mit einer guten Theorie sollte es möglich sein, überprüfbare Ereignisse vorherzusagen. Im Jahr 1758 konnte mithilfe des Newtonschen Gravitationsgesetzes die Wiederkehr des Halleyschen Kometen korrekt vorhergesagt werden. Bis heute können mithilfe dieser Theorie nahezu alle Bewegungen von Himmelskörpern im Sonnensystem berechnet werden. Eine gute Theorie folgt also dem Motto: Wenn du etwas genau vorhersagen kannst, hast du die zugrundeliegenden Prinzipien verstanden.

Dunkle Materie: Mehr als das Auge fassen kann

Zum einen scheint es mehr Materie im Universum zu geben, als die moderne Physik erklären kann, erklärt Pradler. "Es gibt eine Diskrepanz zwischen der Menge an Materie, die wir sehen können, und jener, die wir basierend auf den Bewegungen der Himmelskörper im Weltraum erwarten würden. Egal, ob wir Sterne betrachten, die durch Galaxien kreisen, oder Galaxien, die sich in Galaxienhaufen bewegen – in Summe geht es sich nicht aus." Auch die Struktur des Universums und seine beschleunigte Expansion kann nur dadurch erklärt werden, dass da mehr ist, als wir derzeit messen können. Es müssen also unbekannte Arten von Materie und Kräften im Spiel sein.

Computergeneriertes 3D-Modell der Verteilung von Dunkler Materie im All
"Es gibt viele stichhaltige Hinweise für Dunkle Materie", so der theoretische Physiker Josef Pradler. "Beispielsweise führt Dunkle Materie zur Krümmung von Raumzeit, wodurch Bilder von astronomischen Objekten, wie etwa Galaxien, verzerrt werden (Gravitationslinseneffekt)." Basierend auf solchen Beobachtungen errechneten Wissenschafter*innen die Verteilung Dunkler Materie im beobachtbaren Universum. Die Abbildung zeigt ein 3D-Modell der NASA basierend auf Daten des Hubble-Weltraumteleskops (2007). © NASA, ESA and R. Massey (California Institute of Technology)

Es gibt zwei logische Lösungen des Rätsels. Entweder ist die Einsteinsche Gravitationstheorie, die allgemeine Relativitätstheorie, fehlerhaft oder es gibt im Universum eine unbekannte Form von Materie. Physiker*innen nennen sie "Dunkle Materie". "Unser gegenwärtiges Verständnis lässt eher letzteres annehmen", so Pradler. 

Man nimmt an, dass rund 85 Prozent der Materie im Universum Dunkle Materie ist. Woraus diese besteht, ist völlig unklar. "Wir können allerdings Vermutungen anstellen, wie diese Teilchen beschaffen sein sollten: Sie brauchen eine Masse und müssen elektrisch neutral sein. Sie sind bisher aber noch nicht entdeckt worden", erklärt der Physiker. 

Josef Pradler und seine Forschungsgruppe versuchen, die theoretischen Grundlagen für neue Entdeckungen in der Erforschung Dunkler Materie zu schaffen. "Durch behutsame Erweiterungen des Standardmodells entwickeln wir neue theoretische Modelle für Dunkle Materie und vergleichen diese mit vorhandenen Daten. Etwa von Teleskopen oder unterirdischen Detektoren, wo wir hoffen, Spuren Dunkler Materie zu entdecken. So verfeinern wir die Vorhersagen für Experimente, die die Bestandteile Dunkler Materie nachweisen sollen", erklärt Pradler. Aus welchen Teilchen auch immer Dunkle Materie besteht, sie wären Neuzugänge im "Teilchenzoo" des Standardmodells. 

© Markus Tordik
© Markus Tordik
Josef Pradler ist Associate Professor an der Fakultät für Physik der Universität Wien und Gruppenleiter an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sein zentrales Forschungsinteresse gilt den mikrophysikalischen Eigenschaften Dunkler Materie und "Neuer Physik" jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik.

Seine Forschungsgruppe entwickelt theoretische Modelle, testet, ob diese mit kosmologischen Beobachtungen konsistent sind und erarbeitet Methoden und Vorhersagen für experimentelle Nachweise.

Die Grenzen der Quantenwelt ausloten

Ein anderes Beispiel für die Lücken des Standardmodells ist die Frage der Quantengravitation. Während die anderen Naturkräfte über das quantenbasierte Standardmodell erklärbar sind, passt die Gravitation nicht dieses Bild. Solange wir nicht wissen, ob auch die Gravitation quantenphysikalisch erklärbar ist, bleibt unser Verständnis der Naturgesetze lückenhaft.

Die Notwendigkeit, die beiden Theorien zu vereinen, zeigt sich Josef Pradler zufolge beispielsweise bei der Betrachtung extremer kosmischer Objekte: "Nehmen wir mal Schwarze Löcher: Sie sind durch die Allgemeine Relativitätstheorie beschreibbar und wurden von ihr sogar vorhergesagt. Aber wir haben keine Ahnung, was in einem Schwarzen Loch im kleinsten Maßstab, auf der Ebene der Quanten, vor sich geht. Um dies zu beschreiben, braucht es eine Theorie, die die Gravitation und die Quantenphysik vereint." 

Eine solche Theorie müsste experimentell überprüft werden. Allerdings ist es unmöglich, die extremen Bedingungen, die in einem Schwarzen Loch vorherrschen oder kurz nach dem Urknall vorhanden waren, im Labor zu simulieren. Auf der Erde kommen sich Gravitation und die winzigen Quantenobjekte normalerweise nicht in die Quere, erklärt Salambô Dago, Postdoc in der Forschungsgruppe von Markus Aspelmeyer. "Um die kleinsten Teilchen zu beschreiben, wie Elektronen und Photonen, braucht man die Quantenphysik. In dieser Größenordnung ist die Gravitation vernachlässigbar." Daher ist es extrem schwierig, ein Experiment zu entwickeln, in dem sowohl Quanten- als auch Gravitationseffekte beobachtbar sind ‒ etwa, wenn Gravitation die Verschränkung zweier Teilchen verursacht. Um einen solchen Vorgang zu verstehen, wäre eine vereinheitlichte Theorie der Gravitation und der Quantenphysik erforderlich.

Mit genau solchen Fragen beschäftigen sich Salambô Dago und ihre Kolleg*innen – ihre Arbeit kommt dabei einem Balanceakt gleich. Sie versuchen, Quantenzustände in Objekten zu kreieren, die groß genug sind, dass sie der Schwerkraft unterliegen, aber gleichzeitig klein genug, um noch Quantenzustände unter Laborbedingungen zu zeigen. "Die Arbeit mit Quantenzuständen ist bei Atomen einfach, weil sie zur Quantenwelt gehören", so Dago. "Aber wir versuchen es mit Teilchen im Nanometerbereich, die um ein Vielfaches größer sind als Atome."

Quantenforschung unter Tage: Wir begleiteten Markus Aspelmeyer und Hans Hepach ins unterirdische Conrad-Observatorium am Trafelberg in Niederösterreich. Hier tüftelten die Quantenphysiker ein ganz besonderes Experiment aus, das dazu beitragen soll, den Widerspruch zwischen Gravitation und der Quantenwelt aufzulösen. © Universität Wien/DLE Kommunikation

In einer hochempfindlichen Versuchsanordnung versucht das Forschungsteam, ein winziges Teilchen aus Glas in einen Quantenzustand zu versetzen. Das Teilchen muss vollständig isoliert sein, da jeglicher Kontakt mit der Umgebung den Quantenzustand zerstören würde. Dafür wird ein Ultrahochvakuum mit einer Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt erzeugt, in dem das Teilchen platziert und nur durch elektromagnetische Felder festgehalten wird. Mithilfe hochpräziser optischer Analysen überprüfen die Forscher*innen, ob sich das System in einem Quantenzustand befindet.

Und dann stellt sich die große Frage: Bleibt der Quantenzustand auch dann erhalten, wenn Schwerkraft auf das System wirkt? "Lautet die Antwort 'nein', würde das nahelegen, dass die Gravitation und die Welt der Quanten nicht vereinbar sind", erklärt Dago. Das würde eine Reihe spannender Folgefragen aufwerfen, wie zum Beispiel: Gibt es eine klare Grenze zwischen den beiden? "Es könnte aber auch sein, dass die Gravitation oder die Quantentheorie, oder sogar beide unvollständig oder falsch sind", so die Physikerin. 

"Wenn die Antwort aber 'ja' ist, würde das bedeuten, dass die Gravitation in irgendeiner Form mit der Quantentheorie vereinbar sein muss. Dann wären die theoretischen Physiker*innen gefragt, ein Modell zu entwerfen, dass das unser Resultat erklärt."

Dies wäre ein entscheidender Schritt. Zwar gibt es einige vielversprechende Theorien, die die Gravitation und die Quantentheorie unter einen Hut bringen könnten, aber bisher konnte keine davon experimentell belegt werden. "Manche Physiker*innen denken, dass die Quantentheorie einfach unvollständig ist und die Gravitationstheorie gar nicht angepasst werden muss", erklärt Gruppenleiter Markus Aspelmeyer im Rudolphina-Podcast "An der Quelle". Aber auch dieser Ansatz konnte bisher weder bestätigt noch widerlegt werden. "Es ist derzeit wirklich eine anything goes-Situation", so der Quantenphysiker. Indem Aspelmeyer und seine Kolleg*innen in Experimenten die Grenzen von Quantenphysik und Gravitation ausloten, suchen sie nach dem entscheidenden Hinweis, der die Verwirrung auflösen könnte. 

Forschungsverbund TURIS: Quanten und Gravitation zusammenbringen

Die Teams von Josef Pradler und Markus Aspelmeyer sind Teil des interdisziplinären Forschungsverbunds Quantum Aspects of Spacetime (TURIS). Darin forschen theoretische Physiker*innen, experimentelle Physiker*innen und Astrophysiker*innen an der Schnittstelle von Quantenphysik und Gravitation. Der im Jahr 2017 an der Universität Wien gegründete Forschungsverbund umfasst mittlerweile auch Forschende der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. "Dieser Austausch ist für unsere Arbeit maßgeblich, da das Zusammenbringen unterschiedlicher Herangehensweisen oft zu tollen neuen Ideen und Resultate führt", sagt Pradler.

© Kiesel Group
© Kiesel Group
Salambô Dago ist Postdoc an der Fakultät für Physik der Universität Wien. Als Mitglied der Forschungsgruppen von Markus Aspelmeyer und Nikolai Kiesel erforscht sie die Feedback-Kontrolle von Quantenteilchen.

Sie studierte Physik in Frankreich und promovierte in Lyon über statistische Physik von Nano-Objekten. 2022 erhielt Dago für ihre weitere Forschungsarbeit ein hochkarätiges Marie-Skłodowska Curie Postdoctoral Fellowship, mit dem sie an die Universität Wien wechselte.

Neue Mathematik für die "Pixel" der Raumzeit

Ein Gespräch mit Roland Steinbauer, Mathematiker und mathematischer Physiker an der Universität Wien, führt uns zurück zum Kernproblem der Quantengravitation. "Alle theoretischen Ansätze für die Quantengravitation gehen davon aus, dass alles, sogar die Raumzeit selbst, quantenbasiert ist", erklärt Steinbauer.

Das widerspricht unserer Intuition in gleich zweierlei Hinsicht. Erstens ist die Raumzeit keine unbewegliche "Bühne" im Hintergrund, auf der sich Teilchen bewegen und Ereignisse passieren. Einstein fand heraus, dass die Raumzeit selbst dynamisch ist – sie krümmt sich unter dem Einfluss von Masse und Energie und beeinflusst so, wie sich Objekte im Raum bewegen. "Es gibt keinen absoluten, fixen Hintergrund", so der Mathematiker. "Und wenn wir eine Theorie der Quantengravitation finden wollen, müssen wir einen Schritt weiter gehen und ein weiteres merkwürdiges Konzept einführen: die dynamische Bühne selbst – die Raumzeit – ist zusätzlich 'quantisiert'." Demnach ist die Raumzeit nicht kontinuierlich, sondern besteht aus einzelnen, unteilbaren "Punkten" – diese sind so etwas wie die "Pixel von Raum und Zeit".

Steinbauer und sein Forschungsteam haben einen Ansatz entwickelt, eine solche gepixelte Realität mathematisch zu beschreiben. Darin stellen sie die Krümmung der Raumzeit ins Zentrum ihrer Überlegungen. Krümmung ist nämlich das grundlegende Konzept der Gravitationstheorie nach Einstein. 

Das kann man sich so vorstellen: eine schwere Kugel, die auf ein gespanntes Tuch gelegt wird, erzeugt eine Delle, krümmt das Tuch also. Kleinere Kugeln, die sich auf dem Tuch bewegen, folgen den durch diese Delle vorgegebenen Bahnen – in etwa so, wie Planeten der Krümmung der Raumzeit um einen Stern folgen. Je größer die Masse, desto stärker wird die Raumzeit lokal gekrümmt und desto stärker ist die Gravitation. Schwerkraft ist also die Folge der Krümmung der Raumzeit durch eine Masse. Es erfordert also ein solides mathematisches Verständnis der Raumzeitkrümmung, um über Gravitation nachzudenken.

Es zeigt sich, dass der Begriff der Raumzeitkrümmung der Allgemeinen Relativitätstheorie in bestimmten Situationen zu kurz greift. "Nehmen wir das Beispiel eines Sterns. Er hat eine sehr hohe Dichte, aber an seiner Oberfläche sinkt die Dichte schlagartig auf Null. Diese abrupte Veränderung führt zu einer ungewöhnlichen Geometrie der Raumzeit, sie hat dort quasi eine 'Ecke'. Wir sprechen dann davon, dass die Raumzeit nicht mehr 'glatt' ist, sondern 'rau'. Für solche ungewöhnlichen Geometrien der Raumzeit gibt es kein etabliertes mathematisches Konzept von Krümmung", erklärt Steinbauer.

Das ist ein altes geometrisches Problem in unserem Verständnis der Raumzeit. Um es zu lösen, verfolgt das Forschungsteam einen vielversprechenden Ansatz. "Wir beschreiben die Raumzeitkrümmung auf eine viel allgemeinere Art und Weise als es bisher möglich war. Unser mathematisches Konzept von Raumzeitkrümmung funktioniert nicht nur für 'normale' glatte Raumzeitgeometrien, sondern auch für 'raue'", erklärt Steinbauer. 

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100 Jahre Quantenforschung an der Uni Wien
Sie ist die erfolgreichste Theorie der Gegenwart: Quantenforschung ist überall. Anlässlich des hundertjährigen Bestehens dieser Disziplin blickt Rudolphina zurück, wie Forscher*innen der Uni Wien die Quantenforschung prägten – und weiterhin prägen.

Der Durchbruch dabei, so der Forscher, sei die Tatsache, dass diese Mathematik außerdem sowohl für die klassisch-kontinuierliche Raumzeit als auch für die gepixelte Raumzeit funktioniert. Diese neue Geometrie ist damit für Physiker*innen interessant, die an theoretischen Ansätzen der Quantengravitation arbeiten, wie der Causal Set Theory (siehe Bild in der Galerie). "Mit unserer Geometrie können wir die Raumzeitkrümmung auch für die kleinsten Größenordnungen der Quantenwelt genau beschreiben. Und sie funktioniert auch dann noch, wenn wir zu den Größenordnungen der klassischen Welt übergehen. Wir können also dasselbe mathematische Modell für die Betrachtung beider Welten nutzen."

Auf ähnliche Weise sollte eine stichhaltige Theorie der Quantengravitation die klassische Welt mit der Quantenwelt verbinden – es wäre ein weiterer Erfolg der Physik auf ihrem Weg, die Natur mit wenigen eleganten Theorien zu beschreiben.

Auf die Frage, ob er glaubt, dass dieser Tag kommen wird, hält Steinbauer inne und überlegt. "Ich glaube, dass Physiker*innen mit solchen Versprechen vorsichtiger geworden sind. Es ist durchaus realistisch, dass wir vielleicht niemals eine vollständige Theorie der Quantengravitation haben werden. Aber dass wir noch nicht so weit sind, bedeutet nicht, dass unsere bestehenden Theorien falsch sind – sie haben sich lange bewährt. Ich würde sagen, das zeigt vor allem eines: je genauer wir hinsehen, desto mehr gibt es zu entdecken."

Hochdotiertes Emerging Fields Projekt: Eine neue Geometrie für die Relativitätstheorie und mehr

Roland Steinbauer koordiniert ein Team von fünf Projektleiter*innen im Projekt A New Geometry for Einstein's Theory of Relativity and Beyond, das eine hochdotierte FWF Emerging Fields-Förderung erhielt. Das Team hat sich zum Ziel gesetzt, eine neue Geometrie zu entwickeln, um ungelöste Probleme der Physik anzugehen ‒ wie beispielsweise die Beschaffenheit von Raumzeit-Singularitäten in der Allgemeinen Relativitätstheorie und darüber hinaus. Dazu entwickelt das Forschungsteam eine einheitliche mathematische Sprache zur Beschreibung von Krümmung in verschiedenen Kontexten, insbesondere für Ansätze zur Quantengravitation, die fundamental diskret sind.

© kunstfotografin.at
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Roland Steinbauer ist Professor an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien. Er hat in Wien Physik und Mathematik studiert und als Forscher in Großbritannien, den USA, Japan, Korea und Serbien gearbeitet.

2016 wurde er mit dem Ars Docendi ausgezeichnet, dem Staatspreis für exzellente Lehre an den öffentlichen Universitäten Österreichs. Zusammen mit Hermann Schichl ist er Autor des Lehrbuchklassikers "Einführung in das mathematische Arbeiten".