Rudolphina-Experts: Quantenforschung

Wie uns die Quantenforschung lehrt, mit Unsicherheit zu rechnen

27. Mai 2025 Gastbeitrag von Nikolai Kiesel
Ein Experiment zeigt, wie Quantenphysik unsere Vorstellung von Realität herausfordert – und was sie für neue Technologien bedeutet. Nikolai Kiesel, Leiter der Forschungsgruppe für Quantensysteme an der Uni Wien, erklärt, wie unsichtbare Quantenprozesse unsere Welt messbar machen – und wie daraus neue, hochempfindliche Sensoren entstehen könnten.

Haben Sie einen gut gespitzten Bleistift zur Hand? Versuchen Sie einmal, ihn genauso hinzustellen, dass er auf seiner Spitze stehen bleibt. Vermutlich ist Ihr Stift nicht von selbst stehengeblieben. Aber ist die Aufgabe denn prinzipiell unmöglich?

Das Experiment entführt uns auf verblüffende Weise in die Welt der Quantenmechanik und der Quantensensoren – und damit in unser Labor an der Universität Wien.

Was würde Sir Isaac Newton dazu sagen?

Wenn der Stift nicht exakt gerade und ruhig steht, fällt er durch die Schwerkraft um – er steht instabil. Jede kleinste Störung, wie etwa leichte Luftbewegungen oder minimale Vibrationen, können einen unaufhaltsamen Sturz auslösen. Doch was unser Experiment scheitern lässt, kann in der Praxis sogar nützlich sein: Manche Seismometer nutzen ein ähnliches Prinzip, um äußerst empfindlich Bodenbewegungen zu messen, was z.B. der Vorhersage von Erdbeben dienen kann.

Die oben genannten Störungen können wir in einem Labor stark reduzieren. Aus Sicht der klassischen Mechanik, wie sie schon Newton formuliert hat, müsste der Stift ohne Störungen und bei idealer Ausgangsposition beliebig lange stehen bleiben. Die klassische Mechanik war über Jahrhunderte hinweg ein Pfeiler unseres physikalischen Weltbilds – und bis heute bauen wir damit erfolgreich komplexe Maschinen. Doch bei der Beschreibung mancher Phänomene, vor allem wenn es um die kleinsten Bausteine der Welt geht, versagt sie.

Neue Beschreibung der Welt durch Quantenmechanik

Anfang des 20. Jahrhunderts zwangen experimentelle Beobachtungen Wissenschaftler zu einem radikalen Umdenken und einer neuen Beschreibung der Welt: die Quantenmechanik. Sie hat sich seither in zahllosen Experimenten bestätigt und ist Grundlage vieler etablierter und neu entstehender Technologien vom Laser bis zum Quantencomputer.

Die Quantenmechanik bringt dabei faszinierende Einsichten mit sich, die sich nicht immer mit unserer Alltagserfahrung decken. Wir sind zum Beispiel gezwungen zu akzeptieren, dass wir niemals Ort und Geschwindigkeit eines Objekts – hier unseres Stifts – gleichzeitig beliebig genau kennen oder festlegen können. Das verbietet die sogenannte Heisenbergsche Unschärferelation. Diese Beschränkung ist nicht praktischer sondern fundamentaler Natur, denn die Quantenphysik beschreibt die Position des Stiftes nicht wie einen Punkt, eher wie einen Tintenkleks.

Experimentaufbau im Quantenlabor
In ihrem Labor an der Universität Wien greifen die Quantenmechaniker*innen zu einer vereinfachten Version des Bleistift-Experiments. © Nikolai Kiesel

Wie fällt der Stift?

In dieser Beschreibung fällt der Stift entsprechend auch nicht einfach – vielmehr breitet sich die Unschärfe seiner Position rasant aus: Der „Tintenkleks“ wird größer. Das bedeutet aber auch, dass die Frage, ob der Stift nach links oder rechts fällt, bedeutungslos ist. Erst eine Beobachtung legt fest, wo sich der Stift befindet (Lesen Sie auch Es gibt keine Realität jenseits der Beobachtung). Ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Was nahezu philosophisch klingt, hat jedoch praktische Auswirkungen: Zum Beispiel können Sensoren Störungen die kleiner als die ursprüngliche Unschärfe sind prinzipiell nicht messen.

Sollen wir nun wirklich glauben, dass nicht nur kleine Atome sondern auch ein Alltagsobjekt wie unser Stift sich so verhält? Im Experiment nachgewiesen sind bisher die große Unschärfe sehr leichter Objekte und eine sehr kleine Unschärfe massereicher Objekte. Doch nur ein Experiment kann zeigen, ob ein Objekt der Größe unseres Stifts im oben beschriebenen Sinn nach links und rechts „gleichzeitig“ fällt. Falls nicht, müssten wir unser Weltbild noch weiter verbessern.

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Die Prinzipien der Quantenphysik lassen sich oft anhand einfacher Beispiele – wie oben – veranschaulichen. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, wie tief sie mit unserer modernen Welt verwoben ist. Wussten Sie, dass Technologien wie LEDs, medizinische Bildgebung (etwa die Magnetresonanztomografie) oder selbst die Grundlagen der Chemie ohne Quantenphysik nicht zu verstehen sind? Sind Sie ihr im Alltag schon einmal bewusst begegnet? 

Was fasziniert Sie am meisten: Die Quantenwelt als Schlüssel zum Verständnis der Natur – oder die Technologien von morgen, die daraus entstehen? Oder vielleicht beides? 
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Quantenbalance im Labor

In unserem Labor an der Universität Wien greifen wir zu einer vereinfachten Version des Bleistift-Experiments. So große Objekte können wir auf Quantenebene heute noch nicht gut genug kontrollieren. Statt eines Stifts verwenden wir eine winzige Glaskugel – nur 50 Nanometer groß, was etwa einem Tausendstel eines Haardurchmessers entspricht. Sie besteht aus etwa einer Billion Atomen und ist damit aus Sicht der Quantenmechanik bereits ein riesiges Objekt.

Die Kugel balanciert auf einer „Bergspitze“, die wir mit Laserlicht formen. Grundlage für diese Technik ist die sogenannte optische Pinzette, für die Arthur Ashkin 2018 den Nobelpreis erhielt: Ein stark fokussierter Lichtstrahl zieht eine Glaskugel in seine Mitte – das entspricht unserem „Tal“, in das die Kugel fällt.

Positionieren wir zwei solche Lichttäler nebeneinander, entsteht dazwischen ein instabiler Punkt – unsere Bergspitze. Ein Demonstrationsexperiment haben wir bereits gebaut und vor wenigen Jahren ist es uns auch gelungen, Ort und Geschwindigkeit mit der nötigen Präzision der Heisenbergschen Unschärfe zu präparieren. Wir arbeiten nun daran, die Kugel präzise auf der Bergspitze abzulegen, um dann zu beobachten, wie sich die Quantenunschärfe in beide Richtungen ausbreitet, ganz im Sinne unseres Stift-Experiments.

Sensoren am Quantenlimit

Die experimentellen Herausforderungen, vor die uns die Grundlagenforschung stellt, führen auch zu Ideen für neue Technologien: Experimente, die so empfindlich auf kleinste Störungen reagieren, sind ideal geeignet, um winzige Signale zu detektieren. So werden schwebende Nano- und Mikroteilchen als Sensoren für elektromagnetische Felder, Seismometer und als Gyroskope zur Navigation weiterentwickelt. Ihre Empfindlichkeit ist so hoch, dass selbst Stöße mit einzelnen Gasmolekülen detektiert werden können – ein vielversprechender Ansatz für Druckmessungen im Ultrahochvakuum. Auch der Rückstoß beim Zerfall radioaktiver Isotope konnte gemessen werden – mit möglichen Anwendungen in der Teilchen- und Astrophysik. Gerade die hier beschriebene instabile Konfiguration könnte – wie bei dem eingangs erwähnten Seismometer - zum Schlüssel für noch bessere Sensoren werden.

Der Stift kann also nicht einfach stehenbleiben. Doch auch nach 100 Jahren Quantenphysik bleibt die Frage faszinierend: Wohin fällt der Stift, wenn niemand hinschaut?

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© Nikolai Kiesel
© Nikolai Kiesel
Nikolai Kiesel ist Assoziierter Professor an der Fakultät für Physik der Universität Wien. Nach dem Studium und der Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching – betreut von Harald Weinfurter zum Thema verschränkter Photonen – kam er 2009 mit einem Feodor-Lynen-Stipendium nach Wien, um mit Markus Aspelmeyer an makroskopischen Quantensystemen zu forschen.

2016 wurde er mit dem renommierten START-Preis des FWF ausgezeichnet. Seither leitet er eine Forschungsgruppe, die neue Methoden zur Kontrolle der Bewegung makroskopischer Quantensysteme über einfache Schwingungsbewegungen hinaus entwickelt. Gemeinsam mit seinem Team untersucht er, wie sich Quantensuperpositionen zunehmend massereicher Objekte gezielt manipulieren und nachweisen lassen, und erforscht die thermodynamischen Grenzen von Speicherprozessen, Nanomaschinen und quantenbasierten Sensoren. Ziel seiner Forschung ist es, zu einem tieferen Verständnis der Physik an der Schnittstelle zwischen klassischem und quantenmechanischem Regime beizutragen.

Dieser Artikel erschien im Rahmen der Kooperation zur Semesterfrage auch auf derStandard.at.