Wahlanalyse

Nationalratswahl 2024: Vorhersehbares Ergebnis mit unerwarteten Überraschungen

1. Oktober 2024 Gastbeitrag von Markus Wagner
Das Ergebnis der Nationalratswahl 2024 entspricht weitgehend den vorab ermittelten Umfragewerten. Bei näherem Hinsehen lassen sich doch einige Überraschungen entdecken – welche, erklärt Politikwissenschafter Markus Wagner im Gastkommentar.

Der Ausgang der Nationalratswahl hat niemanden, der die Politik in Österreich einigermaßen gut verfolgt, besonders überrascht: Die Stimmenverteilung lag recht nah an der, die in den Umfragen vor der Wahl ermittelt wurde. Leichte Abweichungen – etwas mehr Stimmen für die FPÖ und ÖVP als erwartet, etwas weniger für die Neos und die Bierpartei – ändern nichts daran, dass die Umfragen diesmal das Ergebnis gut vorhergesagt haben.

In einer Situation, wo die Regierung unbeliebt ist und die wirtschaftliche Lage herausfordernd, ist eine Stärkung der Oppositionsparteien und der politischen Ränder die erwartete Konsequenz. Wenn Migrationsthemen die Politik beherrschen, schneiden radikal-rechte Parteien wie die FPÖ oft gut ab. Der Wahlsieg der FPÖ passt auch in europaweite Trends: in Deutschland, Frankreich, Italien oder den Niederlanden schneiden radikal-rechte Parteien derzeit gut ab. Österreich, mit der FPÖ ein Miterfinder der modernen radikalen Rechte, ist da keine Ausnahme.

Stabile Parteienlandschaft trotz europaweitem Trend zur Fragmentierung

Trotzdem gibt es bei näherem Hinsehen einiges, das dann doch überrascht. Erstens die Umfragen: Es wird immer schwieriger, gute Umfragen durchzuführen. Klassische Methoden wie Telefonumfragen funktionieren immer weniger, da jüngere Menschen keinen Festnetzanschluss haben und bei unbekannten Nummer am Handy nicht antworten. Onlineumfragen sind zwar in vielen Ländern von sehr hoher Qualität, genießen aber in Österreich immer noch wenig Vertrauen. Umso interessanter ist es, dass auch die reinen Onlineumfragen kurz vor der Wahl ziemlich nahe am Endergebnis lagen. Dass dieses klassische Tool zur Ermittlung der politischen Stimmung, trotz der massiven Veränderung der Umfrageforschung der letzten Jahrzehnte, immer noch gut funktioniert, ist beruhigend.

Eine zweite Überraschung ist die geringe Fragmentierung des Parteiensystems. Es ist ein europaweiter Trend, dass immer mehr Parteien im Parlament vertreten sind und dadurch die Fragmentierung des Parteiensystems steigt. Nach dieser Wahl sind aber wieder nur fünf Parteien im Nationalrat vertreten. KPÖ und Bierpartei haben den Einzug nicht geschafft, andere Kleinparteien waren noch weiter entfernt von einem Einzug. Das überrascht deshalb, weil in Österreich oft kleine und neue Parteien gut abschneiden: Seit 2006 haben es das BZÖ, die NEOS, das Team Stronach und die Liste Pilz bei ihrer ersten Wahl gleich ins Parlament geschafft. Auch bei dieser Wahl hätten kleine, neue Parteien an sich gut abschneiden können. Bei den unzufriedenen Wähler*innen der ÖVP und der Grünen gab es auch einiges an Stimmen zu holen. Daher ist es in der Tat etwas überraschend, dass es im Nationalrat dieses Mal bei den bekannten fünf Parteien bleibt.

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Was die Umfragen vorausgesagt hatten, ist eingetreten: Die FPÖ hat die Wahl klar für sich entschieden. Politikwissenschafterin Carolina Plescia von der Uni Wien analysiert: Wie konnte die Partei so viele Stimmen mobilisieren? Und lässt sich daraus wirklich auf eine Radikalisierung in der Wählerschaft schließen?

Enttäuschendes Ergebnis für die SPÖ trotz günstiger Ausgangslage

Die dritte Überraschung ist, dass die SPÖ nicht besser abschneiden konnte. Eine Oppositionspartei sollte normalerweise an Popularität gewinnen, wenn die Regierung unbeliebt ist. Trotz der klaren linken Positionierung der SPÖ gab es dennoch einiges an Wettbewerb von links, nicht nur von den Grünen, sondern auch von der KPÖ und von "Keine von denen", und auch die Bierpartei vertrat vor allem linke Positionen. Für das schlechte Abschneiden gibt es noch andere mögliche Erklärungen. Einerseits hat die Partei einen zum Teil zerstrittenen Eindruck abgegeben, und das schadet Parteien erwiesenermaßen. Andererseits regiert die SPÖ in Wien auf Landesebene, wodurch die SPÖ von vielen Wähler*innen vielleicht nicht als tatsächliche Oppositionspartei wahrgenommen wird. Insgesamt ist das für die SPÖ enttäuschende Ergebnis eine Überraschung, wenn man die eigentlich günstigen Rahmenbedingungen betrachtet.

Politische Vorurteile benennen, Polarisierung gegensteuern

Markus Wagner leitet das vom Europäischen Forschungsrat geförderte Projekt PARTISAN (Partisan Prejudice: Origins, Consequences and Remedies in European Multiparty Democracies), das noch bis 2027 läuft. Ziel ist es besser zu verstehen, wie Menschen sich gegenseitig politisch einschätzen und evaluieren, und wie man gesellschaftliche Polarisierung im Zaum halten kann. Dazu führen der Politikwissenschafter und sein Team vergleichende Umfragen in 12 Ländern sowie Umfrage- und Feldexperimente durch. 

Offene Regierungsbildung trotz starker FPÖ – Rolle der ÖVP entscheidend

Eine letzte Überraschung könnte die Regierungsbildung beinhalten. Für Politikwissenschafter*innen war es vorhersehbar, dass die ÖVP nach der Wahl starke Karten bei den Koalitionsverhandlungen haben würde. Als große Partei in der Mitte des Parteiensystems kann sie zwischen verschiedenen Partnern entscheiden, aber diese können keine Koalition gegen sie bilden. Überraschend ist aber, dass die FPÖ, also eine Partei, die die meisten Stimmen bekommen hat und noch dazu stark zugelegt hat, nicht Teil der Regierung sein könnte.

In einer repräsentativen Demokratie ist es aber wichtig, von mehr als 50 Prozent der Abgeordneten unterstützt zu werden. Aus einem europaweiten Blickwinkel ist daher interessant, wie klar auch am Wahlabend die ÖVP eine Koalition mit der FPÖ unter Herbert Kickl abgelehnt hat. Mit anderen, ähnlichen Parteien haben konservativen Parteien anderswo schon Koalitionen gebildet – zum Beispiel in Italien oder den Niederlanden. Auch hier wird erneut die von Politikwissenschafter*innen betonte Schlüsselrolle der Mitte-Rechts-Parteien sichtbar, wenn es darum geht, ob radikal rechte Parteien an die Regierung gelangen können. Die bevorstehenden Koalitionsverhandlungen versprechen daher auch aus politikwissenschaftlicher Perspektive spannend zu werden.

© derknopfdruecker.com
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Markus Wagner ist Professor für Quantitative Parteien- und Wahlforschung am Institut für Staatswissenschaft. Hauptsächlich forscht er zu der Rolle von politischen Themen und Ideologien im Parteienwettbewerb und in der Wahlentscheidung. Ein weiteres Forschungsinteresse betrifft die Erwartungen von Wähler*innen an ihre Abgeordnete.

Er ist Teil des Teams der österreichischen Wahlstudie (AUTNES).