US-Wahl 2024

"We're not going back!": Kamala Harris' Antipopulismus

16. Oktober 2024 Gastbeitrag von Dorit Geva
Im Gegensatz zu anderen Spitzenpolitikerinnen unserer Zeit hat sich die US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris überraschenderweise gegen eine populistische Kampagne entschieden. Dorit Geva, Professorin für Politik und Gender an der Uni Wien, analysiert diese – möglicherweise riskante – Strategie.
Kamala Harris will die Wählerschaft überzeugen, indem sie ihren beruflichen Erfolg betont. Bisher widerstand sie der populistischen Versuchung. Diese Strategie berge jedoch auch Risiken, so Politikwissenschafterin Dorit Geva. © Gage Skidmore (CC BY 2.0)

Der Parteitag der US-Demokraten (Democratic National Convention DNC) im August 2024 strotzte vor Frauenpräsenz. Die "New York Times" erklärte das Event, in dessen Rahmen Kamala Harris offiziell die Nominierung ihrer Partei für die Präsidentschaftswahl im November annahm, zur "Convention of the Woman" (Kongress der Frau); bei Reden von Michelle Obama, Hillary Clinton und Alexandria Ocasio-Cortez geriet das Publikum vor Begeisterung geradezu außer sich.

Im Rahmen der DNC wurde auch Harris' Wahlkampfmotto, "We're Not Going Back!" lanciert. Der Slogan spielt darauf an, eine zweite Präsidentschaft Trumps zu verhindern. Es ist auch eine eindringliche Mahnung, dass Errungenschaften und neue Vorstöße im Bereich Gleichstellung auf dem Spiel stehen, nämlich aufgrund eines zutiefst konservativen Rechtsrucks in mehreren staatlichen Gesetzgebungsorganen und am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Diese Bedrohungen betreffen die Wahlrechte von Afroamerikaner*innen, die reproduktiven Rechte von Frauen bis hin zu LGBTQ+-Rechten. 

In einer populistisch geprägten Zeit, in der Donald Trump in seiner Selbstdarstellung auf derbe Männlichkeit setzt, welche seinen Anti-Elitarismus widerspiegelt, schlägt Kamala Harris im Wahlkampf einen überraschenden Weg ein, indem sie populistische Politik weitestgehend vermeidet. Populismus bedient sich einer einfachen Formel: Im Kern geht es darum, sich selbst als Vertreter*in des Volkes darzustellen und gegen die Eliten zu sein. 

Die Biografie von Kamala Harris könnte durchaus auch als populistische Geschichte gelesen werden. Die Tochter hochgebildeter indischer und jamaikanischer Einwanderer stammt weder aus einer besonders wohlhabenden, einflussreichen oder vernetzten Familie, noch besuchte sie eine Ivy-League-Eliteuniversität. Ihre Lebensgeschichte fügt sich gut in den amerikanischen Glauben an die Leistungsgesellschaft, wo Talent und Ehrgeiz den Weg vom multiethnischen "Einwandererkind" zur Vizepräsidentschaft und sogar zur Präsidentschaft ebnen können. Harris erlebte ihren politischen Aufstieg im liberalen San Francisco, gefördert von sehr wohlhabenden Familien, die ihr Potenzial erkannten und auf sie setzten. Vor diesem Hintergrund – und wenn man sich vor Augen führt, dass sich ein reicher Immobilienunternehmer in New York als Mann des Volkes ausgeben kann – wäre es ein Leichtes für Harris gewesen, sich für ein populistisches Narrativ zu entscheiden.

Darstellungen von Hypermaskulinität und Hyperfemininität beeinflussen das Wahlverhalten

In früheren Forschungsarbeiten habe ich die zunehmende Popularität von Marine Le Pen als Anführerin der populistischen radikalen Rechten in Frankreich untersucht. Frauen der radikalen Rechten sind als Populistinnen immer gut gefahren. Ein besonders hervorstechendes Beispiel sind die US-Präsidentschaftswahlen von 2008, als die Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin die nationale Bühne betrat, die Tea-Party-Bewegung belebte und den Weg zum Aufstieg Donald Trumps ebnete. Palin und Marine Le Pen haben vieles gemeinsam. Palin berief sich auf ihre Weiblichkeit, ihre Körperlichkeit und das Bild der beschützenden Mutter – etwa beschrieb sie sich selbst als "Mama-Grizzly" – um sich als "Vertreterin des Volkes" zu präsentieren, als Kontrast zu den liberalen und "abgehobenen" Eliten in Washington, D.C. 

In meiner Ethnographie der radikalen populistischen Rechten Frankreichs stellte ich fest, dass populistische Darstellungen von Hypermaskulinität oder Hyperfemininität, wie jene der Grizzlybär-Mutter oder des beschützenden Vaters, bei Wähler*innen und Anhänger*innen sehr wirksam sein können, weil sie tief sitzende Gefühle von Begehren, Anziehung, Liebe oder Abneigung wecken. In meinen Forschungsarbeiten zu populistischen rechten Politikerinnen konnte ich auch zeigen, dass sie in der Lage sind, eine Männlichkeit zu verkörpern, die bei den Anhänger*innen auf Bewunderung stößt. Bis in die nahe Vergangenheit wurden Frauen, die für ein gewähltes Amt kandidierten und sich dabei entweder als zu weiblich oder zu männlich gaben, von den Wähler*innen abgestraft. Heute hingegen profitieren populistische rechtsextreme Politikerinnen sowohl von Hyperfemininität als auch von Hypermaskulinität.

Harris versucht, mit beruflichen Erfolgen zu punkten

Im Gegensatz dazu hat Kamala Harris der populistischen Versuchung bisher widerstanden. Stattdessen stellt sie im Wahlkampf ihre Erfahrung und ihre lange Karriere im öffentlichen Dienst in den Vordergrund. In ihrer Rede beim Parteitag der Demokraten betonte sie: "Mein ganzes Leben lang habe ich nur einen Auftraggeber gehabt: das Volk." Diese Berufung auf "das Volk" klingt zwar nach populistischem Diskurs, ist aber kein ausgeprägter Populismus. 

Stattdessen schlägt Harris Kapital aus ihrer spektakulären Karriere, in der sie in vielen Bereichen "die Erste" war: 2003 war sie die erste Frau in der Bezirksstaatsanwaltschaft der Stadt San Francisco und vertrat den Bundesstaat in Strafsachen. 2010 wurde sie zum ersten weiblichen und ersten afroamerikanischen Attorney General von Kalifornien gewählt, also zur obersten Rechtsvertreterin des Bundesstaates. 2016 wurde sie als Vertreterin Kaliforniens in den Senat der Vereinigten Staaten gewählt. 2020 folgten weitere "Firsts": erste Vizepräsidentin, erste amerikanisch-indische Vizepräsidentin und erste afroamerikanische Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten.  

Harris hat keine leiblichen Kinder und bedient sich nicht dem populistischen Repertoire der Mutterschaft, wie dem bereits erwähnten Bild der Bärenmutter oder der Herausforderung, als berufstätige Mutter über die Runden zu kommen, wie es Politikerinnen wie die Italienerin Giorgia Meloni tun. Am ehesten klang Harris noch wie Sarah Palin, als sie kürzlich überraschend eingestand, eine stolze Waffenbesitzerin zu sein, wohl mit dem Ziel, Wechselwähler*innen anzusprechen.

Aber das entspricht kaum der Selbstdarstellung der Trump-Unterstützerinnen in der Republikanischen Partei heute, wie beispielsweise der republikanischen Gouverneurin von South Dakota, Kristi Noem, die ich auf der jährlichen Conservative Political Action Conference (CPAC) im Februar 2024 als Sprecherin beobachten konnte. Noem hat sich extrem gewandelt und wirkt mittlerweile wie ein weibliches Mitglied der Trump-Familie. Sie veröffentlicht regelmäßig Pressefotos von sich mit einer Schrotflinte bei der Jagd, und gab sich beim CPAC betont militäraffin, als sie sich mit den Truppen der Nationalgarde ihres Bundesstaates an der US-mexikanischen Grenze präsentierte.

Die republikanische Gouverneurin von South Dakota, Kristi Noem
Für ihre Forschung zu rechtsextremer Politik besuchte Dorit Geva die Conservative Political Action Conference (CPAC) im Februar 2024. Bei dem Event präsentierte die Gouverneurin von South Dakota Kristi Noem Bilder von einem Treffen mit den Truppen der Nationalgarde an Grenze zwischen den USA und Mexiko. © Dorit Geva

Nicht zurück zu Trump, aber zurück zu "vor Trump"

Das Wahlkampfmotto von Kamala Harris lautet zwar "We're Not Going Back", aber mit dem Vermeiden des populistischen Elements knüpft es an die Politik vor dem Zeitalter von Sarah Palin und Donald Trump an. Das ist eine riskante Strategie. Diese steht für den Kampf für Chancengleichheit und Gleichstellung der Ethnien und Geschlechter, aber gleichzeitig auch für den Versuch, in eine vergangene Ära der amerikanischen Politik zurückzukehren.

Save the date: Antrittsvorlesung von Dorit Geva am 4. Dezember

In ihrer öffentlichen Antrittsvorlesung The New Ethic of Patriarchy: A Global Ethnography (4.12., 17.30 Uhr, Großer Festsaal der Universität Wien) widmet sich Dorit Geva dem Wiederaufleben patriarchaler Politik in Europa und den USA und deren Verbindung zum Neoliberalismus. Am Beispiel ethnographischer Beobachtungen von Veranstaltungen wie dem Jordan Peterson-Treffen in Budapest oder der Conservative Political Action Conference 2024 in Maryland (USA) beschreibt Dorit Geva den Einfluss der rechtsextremen Politik auf die heutige politische Landschaft. Zur Einladung (PDF)

© Irene Graf Fotografie
© Irene Graf Fotografie
Dorit Geva ist Professorin für Politik und Gender an der Universität Wien. Ihre Forschung konzentriert sich auf den Aufstieg und die Normalisierung der radikalen Rechten in Europa und den USA, besonders im Hinblick auf weibliche Führung.

Sie ist bekannt für ihre Arbeiten zu den Verbindungen zwischen Gender, rechter Politik und den Transformationen des Neoliberalismus. Derzeit untersucht sie die Wechselwirkungen zwischen Konservatismus und der radikalen Rechten sowie deren Einfluss auf den modernen Neoliberalismus.