Wahlverhalten

Nationalratswahl: Unzufriedenheit oder Radikalisierung?

30. September 2024 Gastbeitrag von Carolina Plescia
Was die Umfragen vorausgesagt hatten, ist eingetreten: Die FPÖ hat die Wahl klar für sich entschieden. Politikwissenschafterin Carolina Plescia von der Uni Wien analysiert: Wie konnte die Partei so viele Stimmen mobilisieren? Und lässt sich daraus wirklich auf eine Radikalisierung in der Wählerschaft schließen?

Eine 450 Quadratmeter große Wandbemalung in der Hollandstraße in Wien trägt die Aufschrift: "Wähl für was, wähl gegen was, aber wähl was!" – Dies ist vor allem ein Aufruf, sich durch Wählen an der Demokratie zu beteiligen. Beginnen wir also mit der Wahlbeteiligung: Mit 78 % lag diese 2024 leicht über den 75,6 % von 2019, jedoch unter den 80 % von 2017 und auf einem ähnlichen Niveau wie 2006 und 2008. Obwohl im Durchschnitt höher als in vielen anderen etablierten Demokratien, was erfreulich ist, handelt es sich nicht um eine außergewöhnlich hohe Beteiligung für Österreich: Im Vergleich zu 2002 und den Jahren zuvor nahmen weniger Menschen ihr Wahlrecht wahr.

Politik zum Anhören
Podcast An der Quelle #5: Laurenz Ennser-Jedenastik
Kurz vor der Nationalratswahl 2024 haben wir mit Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik gesprochen. Er nimmt Karriereverläufe von Politiker*innen in ganz Europa unter die Lupe und erkennt darin Muster – zum Beispiel, dass es immer mehr politische Quereinsteiger*innen gibt.

"Dafür" oder "dagegen" wählen

Kommen wir zum "Wählen für etwas" (positives Wählen) im Vergleich zum "Wählen gegen etwas" (negatives Wählen). Im Allgemeinen geben Wähler*innen in Umfragen ungerne an, dass sie gegen etwas gestimmt haben. Werden sie jedoch konkret gefragt, ob sie mit ihrem Wahlverhalten eine Partei verhindern oder für ihre Regierungsarbeit abstrafen wollten, geben dies mehr Menschen zu.

Um sicher zu sein, müssen wir noch einige Wochen auf die kommende Austrian National Election Study (AUTNES) warten, doch es scheint, dass die FPÖ sowohl vom positiven als auch vom negativen Wählen am meisten profitiert hat. So konnte die FPÖ potenzielle FPÖ-Wähler*innen, die 2019 wegen des Ibiza-Skandals nicht gewählt hatten, für positives Wählen mobilisieren. Gleichzeitig zog die FPÖ auch enttäuschte ÖVP-Wähler*innen an, die mit der Regierungsarbeit unzufrieden waren und entsprechend "negativ" wählten.

Wie andere Oppositionsparteien profitierte die FPÖ davon, in schwierigen Zeiten nicht in der Regierung gewesen zu sein.
Carolina Plescia

FPÖ-Wahlsieg ein "Zeichen für wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Unzufriedenheit mit der Regierung"

Kommentator*innen dieser Wahl heben den Rechtsruck im österreichischen Wähler*innenverhalten hervor: Die extreme Rechte gewann, die Mitte-Rechts-Partei kam auf den zweiten Platz, und die linken Parteien erhielten einen historisch geringen Zuspruch. Viele sehen den Sieg der FPÖ als Ausdruck (oder sogar als Vorreiter) eines allgemeinen Trends zur Radikalisierung des politischen Diskurses, wie er auch in Ländern wie Frankreich, Deutschland, Italien und den Niederlanden zu beobachten ist, wo extrem rechte Parteien weiterhin außergewöhnlich erfolgreich sind.

Betrachten wir Gewinne und Verluste der einzelnen Parteien, sehen wir jedoch, dass das sogenannte "retrospektive Wählen" (Wahlentscheidung auf Basis der bisherigen Leistung der Partei) das Ergebnis erklären könnte: Die Regierungsparteien verloren Stimmen (-11,2 % für die ÖVP und -5,6 % für die Grünen), während die Oppositionsparteien gut abschnitten (+12,6 % für die FPÖ und +1,1 % für die NEOS). Die SPÖ, ebenfalls in der Opposition, war eine Ausnahme und erhielt nahezu denselben Stimmenanteil wie bei der letzten Wahl. Die FPÖ konnte hauptsächlich enttäuschte ÖVP-Wähler*innen für sich gewinnen, während die SPÖ einige ehemalige Grün-Wähler*innen anzog.

Dies ist ein häufiges Muster: Wähler*innen bestrafen Regierungsparteien innerhalb ideologischer Blöcke (also von der ÖVP zur FPÖ und von den Grünen zur SPÖ), aber nicht zwischen den Blöcken (enttäuschte Wähler*innen der Grünen würde beispielsweise niemals die FPÖ wählen).

Wie andere Oppositionsparteien profitierte die FPÖ davon, nicht in der Regierung gewesen zu sein ‒ besonders in schwierigen Zeiten, wie wir es während der Flüchtlingskrise 2015, der Corona-Pandemie 2020 und nun in Zeiten extremer Inflation gesehen haben. Da die meisten FPÖ-Wähler*innen ideologisch nicht besonders extrem sind und die FPÖ nicht als sehr extrem wahrnehmen (AUTNES-Daten), ist der Wahlsieg der Partei weniger Ausdruck einer zunehmend radikalisierten österreichischen Wählerschaft, sondern mehr ein Zeichen für wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Unzufriedenheit mit den Regierungsparteien.

Herausforderungen der Regierungsbildung

Jedenfalls stehen die Parteien in Österreich nun vor der Herausforderung, eine Regierung zu bilden. In Verhältniswahlsystemen ist der Sieger der Wahl nicht unbedingt die Partei, die als erste ins Ziel geht, sondern jene, die in der Lage ist, eine Regierung zu führen. Das wird schwierig, da keine der Parteien bereit ist, mit FPÖ-Chef Herbert Kickl zu regieren. ÖVP-Chef Nehammer hat während des Wahlkampfs aber angedeutet, offen für eine ÖVP-FPÖ-Koalition ohne Kickl zu sein.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen machte am Wahlabend deutlich, dass er eine stabile, demokratische und EU-freundliche Regierung möchte. Dies scheint zwar mit Herbert Kickl unvereinbar, ist jedoch mit einer ÖVP-FPÖ-Koalition ohne Kickl oder sogar ohne Nehammer und Kickl denkbar. Eine ÖVP-SPÖ-Koalition ist vielleicht schwerer vorstellbar, aber rechnerisch möglich, insbesondere mit Unterstützung der NEOS und/oder der Grünen, die beide ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit bekundet haben. Alles andere wird sich als instabil erweisen und würde wahrscheinlich eher früher als später zu Neuwahlen führen.

Unabhängig vom Ausgang der Regierungsbildung und unabhängig davon, ob in den kommenden Tagen Proteste stattfinden werden, ist es gefährlich, den Willen der Wähler*innenschaft zu ignorieren: Die FPÖ hat die Wahl gewonnen und es gibt einen unbestreitbar gefährlichen weiteren Ruck nach rechts in Österreich, der nicht so schnell an Momentum verlieren wird. Allerdings liegt der Schluss nahe, dass der Sieg der FPÖ mehr mit der Unzufriedenheit der Wähler*innen zu tun hat als mit ideologischer Radikalisierung.

Was bedeutet Wählen für Sie?

Im EU-Projekt DeVote – The meanings of 'voting' for citizens",   das vom Europäischen Forschungsrat ERC gefördert wird, untersucht Carolina Plescia, Assistenzprofessorin für Digitale Demokratie am Institut für Staatswissenschaft der Uni Wien, was Wählen für Bürger*innen bedeutet. Dabei spielen die Wähler*innen selbst eine wichtige Rolle: DeVOTE lädt jede*n ein, sich zu beteiligen und  (eigenen) Meinungen zu Abstimmungen zur Verfügung zu stellen. Jetzt mitmachen – alle Infos finden Sie hier .

© Parente Antonietta
© Parente Antonietta
Carolina Plescia ist Assoziierte Professorin für Digitale Demokratie am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien. Sie leitet das ERC Starting Grant-Projekt DeVOTE, in dem sie untersucht, was Wählen für Bürger*innen bedeutet. Zusammen mit Prof. Sylvia Kritzinger ist sie auch am H2020-Projekt RECONNECT beteiligt, das die Wahrnehmung der Bürger*innen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der EU sowie mögliche Reformszenarien erforscht.

Für ihre Doktorarbeit, die sie am Trinity College Dublin abschließ, wurde sie mit dem ECPR Jean Blondel PhD Preis für die beste politikwissenschaftliche Doktorarbeit 2014 ausgezeichnet. 2021 wurde sie zum Mitglied der Jungen Akademie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gewählt. Ihre vielfältigen Forschungsinteressen reichen von der Erforschung der öffentlichen Meinung, Wahlverhalten und experimenteller Sozialforschung bis hin zur Rolle von der Digitalisierung in demokratischen Prozessen.