Klimawandel und Migration
Der aktuelle IPCC Report (Intergovernmental Panel on Climate Change) macht deutlich: Die Folgen des Klimawandels bedrohen Menschen in weiten Teilen der Erde. Extremereignisse wie Dürre oder Überschwemmungen häufen sich, die Klimavariabilität steigt, und die konkreten Auswirkungen zeigen sich besonders in Ländern des globalen Südens. Menschen aus den betroffenen Regionen spüren nicht nur die Folgen der Klimakrise unmittelbarer, oftmals fehlen ihnen auch Ressourcen und staatliche Sicherungssysteme, um mit den Umweltauswirkungen umzugehen.
Von Klimamigration betroffen
Geograph Patrick Sakdapolrak blickt in HABITABLE, einem groß angelegten EU-Projekt mit 21 Partnern aus 18 Staaten, auf genau diese Regionen. Er und sein Projektteam möchten verstehen, welche Strategien Menschen finden, wenn die Auswirkungen des Klimawandels stärker werden: "Wir untersuchen ländliche Regionen in Äthiopien, Ghana, Mali, im Sudan und in Thailand. Diese Länder sind stark von Umweltveränderungen betroffen, und wir wollen herausfinden, welche Rolle Migration in diesem Kontext spielt."
In HABITABLE kommt ein Methodenmix aus Panel-Umfrage, semi-strukturierten Interviews und Diskussionen in Fokusgruppen zum Einsatz. Die Geschichten von Kleinbäuerinnen und -bauern, die mit Ernteausfall konfrontiert sind, Menschen, die in der Vergangenheit migriert sind, oder Personen, die nicht migrieren wollen oder können, aber von Migrant*innen abhängig sind, tragen gleichermaßen zu einem fundierten Verständnis von Klimamigration bei. "Medien und Policy Maker suggerieren oftmals eine einfache Beziehung zwischen Klimawandel und Migration. Tatsächlich gibt es keinen monokausalen Zusammenhang: Migration wird von vielen Faktoren, etwa dem finanziellen Status, dem Geschlecht oder Alter einer Person, bestimmt", so Migrationsexperte Sakdapolrak.
(Gescheiterte) Anpassung?
Das Projektteam nähert sich dem Thema Migration im Kontext des Klimawandels unter dem Aspekt der Anpassung. Dabei zeigt sich, dass Migration einerseits ein Zeichen gescheiterter Anpassung sein kann: wenn die Lebenssicherung trotz Anpassungsmaßnahmen vor Ort durch Umweltveränderungen zusammenbricht und Flucht die einzige Option ist. Anders verhält es sich, wenn Menschen zum Beispiel in die Stadt gehen und dort Geld verdienen, mit dem sie ihre zurückgebliebenen Familien versorgen. Damit einher geht ein Transfer von Ideen, der in den Heimatorten zu Innovationen führen kann. Migration im Kontext von Klimawandel kann – wie in diesem Beispiel – also auch ein Weg sein, um Stresssituationen erfolgreich zu bewältigen.
Wussten Sie, dass ...?
... der Terminus "Umweltflüchtling" Mitte der 1980er Jahre von Wissenschafter*innen geprägt wurde – obwohl der Flüchtlingsbegriff klar definiert ist und Umweltfaktoren laut Genfer Flüchtlingskonvention kein Fluchtgrund sind. Sie wollten damals aufzeigen, dass "Flucht" ein Indikator für die Umweltkrise ist.
Klimamigration reproduziert Ungleichheit
Dass Migration kein "Allheilmittel" ist, stellte Sakdapolrak in einem Vorgängerprojekt fest: Haushalte, die ohnehin schlecht situiert sind, können häufig auch durch Migration ihre Lage nicht wesentlich verbessern. Migrant*innen aus jenen Familien sind schlechter ausgebildet, arbeiten in schlechter bezahlten Jobs und müssen sich teilweise sogar verschulden und Kredite aufnehmen, um ihren Familien in Herkunftsgebieten zu helfen. "Migration reproduziert Ungleichheit", so die Bilanz des Uni Wien-Geographen.
Personen, die vor einem Wohngebäude auf dem Boden sitzen
Laut Schätzungen ist die internationale Migration in OECD-Ländern zu Beginn der Coronakrise um 46 Prozent zurückgegangen. Patrick Sakdapolrak hat mit seiner Arbeitsgruppe eine Datenbank (Covid Migration News Database) gestartet, die Berichte über die Auswirkungen von COVID-19 auf Migrationsbewegungen sammelt. Lesen Sie mehr dazu im uni:view-Artikel (© TransRe Project/Simon A. Peth)
Problematisch – aber für wen?
Die Probleme rund um Klimamigration werden in der öffentlichen Debatte oftmals aus eurozentristischer Perspektive behandelt, kritisiert Sakdapolrak: Thematisiert und gefürchtet werden vor allem Migrationsbewegungen gen Europa. Die empirischen Daten zeigten jedoch, dass von Klimawandel betroffene Menschen überwiegend innerhalb eines Landes blieben und nicht international migrierten.
Die eigentlichen Probleme ergeben sich für die betroffenen Menschen, die nicht über die Möglichkeiten zum Schutz gegen Umweltrisiken verfügen, so Sakdapolrak: "Klimawandel ist dort ein Problem, wo Menschen verwundbar sind. Wir müssen die Anpassungsmöglichkeiten dieser Menschen stärken, damit sie über eine größere Handlungsfreiheit verfügen und selbst entscheiden können, ob sie migrieren möchten oder nicht."
Migration ist Teil der Lösung
Patrick Sakdapolrak und sein Projektteam setzen sich dafür ein, der negativen, einseitigen Diskussion rund um Migration eine Perspektive entgegenzustellen, die auch die Potenziale von Migration in den Blick nimmt. Das Projektteam der Universität Wien arbeitete zuletzt mit Care International zusammen, einer NGO, die im Bereich Ländliche Entwicklung und Anpassung an den Klimawandel tätig ist. Entstanden ist ein Guidebook, das die Mitarbeiter*innen in ihrer alltäglichen Arbeit unterstützt.
Auch in HABITABLE suchen Sakdapolrak & Co. den Dialog mit Entscheidungsträger*innen, gesellschaftlichen Akteur*innen und der Öffentlichkeit, beispielweise im Rahmen der COP-26 – um das Bewusstsein für Klimamigration zu schärfen und auf die vielschichtigen Zusammenhänge hinzuweisen: "Migration ist nicht nur Problem, sondern auch Teil der Lösung".
Nachschau Semesterfrage-Podiumsdiskussion mit Achim Steiner
An dem EU-Projekt HABITABLE sind 21 Partnerinstitutionen aus 19 Ländern beteiligt, die Laufzeit beträgt vier Jahre (2020 bis 2024). Es ist das größte bisher von der EU bewilligte Projekt zum Thema Klimawandel und Migration. Im Projektteam an der Fakultät für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie der Universität Wien arbeiten Univ.-Prof. Dr. Patrick Sakdapolrak, Dr. Marion Borderon MSc und Dr. Harald Sterly mit.