Long Covid und ME/CFS

Stigmatisiert und ignoriert: Die stille Krise hinter dem #Frauenticket

10. September 2024 Gastbeitrag von Monika Pietrzak-Franger
Unter dem Hashtag #Frauenticket teilen tausende Frauen ihre Erfahrungen, bei Arztbesuchen nicht ernst genommen worden zu sein. Monika Pietrzak-Franger von der Universität Wien erklärt, warum Betroffene chronischer Erkrankungen häufig mehrfach stigmatisiert werden.

Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Long Covid, ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom) und postviralen Erkrankungen wird durch drei Narrative (Erklärungsmodelle) beeinflusst, die zu ihrer Stigmatisierung beitragen: Krankheit als Eigenverantwortung, psychische Erkrankungen als vermeintliche Einbildung und Frauenleiden als Hysterie.

Wer krank ist, ist selbst schuld

In unserer neoliberalen Welt ist Krankheit zum Problem der bzw. des Einzelnen geworden. Selbstoptimierung, Effizienz und Produktivität gelten als zentral für das Regime des Glücks. Hier ist Krankheit etwas, das eliminiert und versteckt werden muss. Etwas, das wir so schnell wie möglich überwinden müssen, um den Anforderungen einer vom freien Markt bestimmten Gesellschaft gerecht zu werden. Kranksein wird hierbei schnell mit Ineffizienz und Sozialschmarotzertum gleichgesetzt. Kranksein heißt für viele, sich der sozialen und wirtschaftlichen Verantwortung zu entziehen. Wer krank ist, mache sich schuldig, denn schließlich sind Prävention und Schutz vor Krankheit individuelle Verpflichtungen. Gesundwerden wird somit zu einer Frage der persönlichen Verantwortung, unabhängig davon, ob und welche Ressourcen überhaupt zur Verfügung stehen und zugänglich sind.

Keine "echte" Krankheit

Krankheiten wie Long Covid und ME/CFS lassen sich genau in dieses Bild einordnen. Es handelt sich um langfristige Erkrankungen, über deren Mechanismen gesellschaftlich und auch medizinisch noch recht wenig bekannt ist. Sie lassen sich nicht durch die Einnahme eines Schmerzmittels behandeln. Sie sind multisystemisch, beeinträchtigen verschiedene Organe und haben eine Vielzahl von Symptomen. Sie können sich bei verschiedenen Menschen unterschiedlich äußern und lassen sich nicht immer messen. Das macht sie anfällig für eine Psychologisierung – sprich die Tendenz, sie als psychologisch bedingt oder psychosomatisch zu betrachten. In solchen Fällen liegt die Beweislast bei den Erkrankten.

Oft gelten psychische Erkrankungen als "Erkrankungen zweiter Klasse". Sie sind noch immer besonders schambehaftet. Dazu werden psychosomatische Krankheiten häufig als "unecht" abgetan, als Pseudo-Erkrankungen, deren Symptome sich Betroffene nur einbilden. Wie psychische Störungen werden somit auch Long Covid und ME/CFS stigmatisiert. Diese doppelte Stigmatisierung geht Hand in Hand mit einem dritten Narrativ – jenem des Frauenleidens als Hysterie.

Interviewsituation, Forscherin spricht mit Betroffener
Long Covid-Betroffene Dini (30, ehem. Lehrerin) erzählt im Interview mit Monika Pietrzak-Franger von der Uni Wien für das Projekt "Post Covid-19 Care" von ihren Erfahrungen, nicht verstanden zu werden und dass ihr oft nicht geglaubt wird. © Peter Mayr

Buchtipp: "Scheinbar Genesen" von Monika Pietrzak-Franger

Jetzt vormerken: Ende 2024 erscheint das neue Buch "Scheinbar Genesen. Leben mit Long Covid" von Monika Pietrzak-Franger. Fünf thematische Kapitel werden mit sechs persönlichen Krankheitserzählungen verwoben. Jedes Kapitel wird von ausgewählten Fotografien begleitet. Aufgegriffen werden (populär-)wissenschaftliche Debatten um Long Covid und insbesondere die medial wenig beachteten Erfahrungen der "Long Haulers" (Personen, die nach einer COVID-19-Infektion langfristige Symptome oder gesundheitliche Beeinträchtigungen erleben). Nähere Infos finden Sie demnächst hier.

Die Erfindung der Hysterie

Historisch gesehen hatten Frauen es schon immer schwer, wenn es um ihre Gesundheit ging. Lange Zeit wurde Medizin von Männern und für Männer gemacht. Forschung und Behandlungen basierten auf männlichen Körpern. Erst in jüngster Zeit beschäftigt sich die geschlechterspezifische Medizin damit, wie Frauen auf bestimmte Medikamente und deren Dosierung reagieren oder damit, wie unterschiedlich sich Symptome zeigen können (z. B. Herzinfarkt). Gleichzeitig wurden die gesundheitlichen Probleme von Frauen häufig nicht ernst genommen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Hysterie. Vom späten 19. Jh. und noch bis in die 1960er Jahre war Hysterie eine echte medizinische Diagnose. Jedes weibliche Verhalten, das nicht der Norm entsprach, wurde als Symptom der Hysterie gesehen.

Dieses Narrativ ist im öffentlichen Bewusstsein verhaftet geblieben und beeinflusst noch heute die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft mit Frauen und ihren Beschwerden umgehen. Die Geschichten, die Frauen unter dem Hashtag #Frauenticket teilen, belegen dies sehr gut: Patientinnen werden belächelt, ihre Geschichten nicht gehört, Fehldiagnosen gestellt. Aber medizinisches Gaslighting betrifft nicht nur Frauen. Auch Herkunft und soziale Schicht können beeinflussen, wie mit Menschen im Medizinbetrieb umgegangen wird.

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Vom Umgang mit chronischen Erkrankungen

Die Gesundheits- und Sozialsysteme sind auf die Versorgung chronisch Kranker kaum ausgelegt und brauchen Reformen, um die Last chronischer Krankheiten tragen zu können. Dazu gehört u.a. das Neubemessen der Dauer von Krankenständen oder die Vereinfachung von Antragsverfahren. Neben der Förderung der Erforschung chronischer Erkrankungen ist auch die Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten ein wichtiger Punkt: Sie stehen unter finanziellem und unter Zeitdruck. Sie sind den Krankenkassen für die Therapien, die sie verschreiben, rechenschaftspflichtig – das schränkt ihre Handlungsmöglichkeiten ein. 

Auch Arbeitgeber werden umdenken müssen, damit Menschen mit Long Covid und ME/CFS leichter in den Arbeitsalltag integriert werden können. Das Gleiche gilt für Schulen und Universitäten, damit es genügend Angebote für Kinder und junge Erwachsene gibt, deren körperliche und kognitive Fähigkeiten eingeschränkt sind. Dies sind nur einige Beispiele. 

Gesund aussehen heißt nicht immer gesund sein

Krankheiten sind vielschichtige Gebilde: Sie sind biologisch, psychosomatisch, sozial und kulturell bedingt und brauchen komplexe Erklärungsmodelle. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem neuen sozialen Bewusstsein liegt darin, Betroffenen zuzuhören und ihnen Glauben zu schenken. Es ist nicht leicht, über Krankheiten zu sprechen. In unserer Kultur gibt es kaum gute Rahmen, um die eigene Krankheitserfahrung auszudrücken. Wir können versuchen, neue Narrative, Sprachen und Bildwelten zu finden, um dies zu erleichtern. Meine Aufgabe als Literatur- und Kulturwissenschafterin ist es unter anderem, den Studierenden beizubringen, bestehende Erklärungsmodelle und Erzählungen zu reflektieren und zu hinterfragen, welche Machtverhältnisse mit ihnen verwoben sind.

Als Gesellschaft aber müssen wir uns Solidarität auf die Fahnen schreiben: Weder Long-Covid-Erkrankte noch Frauenquote stellen eine Bedrohung für unseren Sozialstaat dar. Anders sieht es dagegen mit systemischer Ungerechtigkeit aus. 

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Im Wintersemester 2024/25 beschäftigen sich zahlreiche Expert*innen der Uni Wien im Rahmen der Semesterfrage mit dem Thema "Wie gerecht ist Gesundheit?". Ihre Antworten und  Diskussionsbeiträge finden Sie ab Oktober hier im Wissenschaftsmagazin Rudolphina.

© Marie Etchegoyen/Rice University
© Marie Etchegoyen/Rice University
Monika Pietrzak-Franger ist Professorin für Kultur- und Literaturwissenschaften. Zu ihren Fachgebieten gehören die Kulturgeschichte der Krankheit, Krankheitserzählungen, Gender und Medien.

Sie ist Co-Leiterin des interuniversitären Clusters Post-Covid-19 Care der Universität Wien und der MedUni Wien. Über ihre Forschung twittert sie unter @franger_monika sowie @MedHumUniVie.