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"Scheinbar genesen – Leben mit Long Covid und das Recht auf Hoffnung" von Monika Pietrzak-Franger

21. Jänner 2025 von Sebastian Deiber
Auch nach der Akutphase der Pandemie kämpfen immer mehr Patient*innen mit den gravierenden Folgen von Long Covid. Ausgehend von Interviews mit Betroffenen schuf die Kultur- und Literaturwissenschafterin Monika Pietrzak-Franger ein einfühlsames Porträt einer Krankheit ‒ und hinterfragt unsere Einstellung gegenüber chronischen Gesundheitsproblemen.
Foto von Monika Franger im Videostudio der Uni Wien mit Buch
"Scheinbar genesen" zeigt das Leben mit Long Covid in eindrucksvollen Bildern: "Die Betroffene auf dem roten Cover trägt mehrere Schlafmasken übereinander, weil sie kein Licht verträgt. Durch die Wohnung bewegt sie sich tastend", erzählt Autorin Monika Pietrzak-Franger. © Barbara Mair

Rudolphina: Frau Pietrzak-Franger, worum geht es in Ihrem Buch und warum haben Sie es geschrieben?

Monika Pietrzak-Franger: Das Buch handelt von den alltäglichen Herausforderungen im Leben mit Long Covid: Welche körperlichen und psychischen Veränderungen erleben Betroffene? Was bedeutet es, nur mühsam die Kraft für einen Arztbesuch aufzubringen, nur um danach einen "Crash" (Verschlimmerung der Beschwerden nach körperlicher oder geistiger Anstrengung, Anm.) zu erleben, der einen um Wochen zurückwirft? Darum kämpfen zu müssen, in einer desinteressierten, in vielerlei Hinsicht, überforderten Gesellschaft ernst genommen zu werden und ständig eine Beweislast mit sich herumzuschleppen? Ärzt*innen, Freund*innen und Bekannten eine Krankheit erklären zu müssen, die man selbst nicht ganz versteht? Was bedeutet das Fehlen unterstützender Strukturen? Das Buch behandelt diese Fragen aus erster Hand, ausgehend von Gesprächen mit Betroffenen.

 

Portraitfoto der Autorin (Mitte) und Grafiker und Fotograf
"Scheinbar genesen" erscheint im Magazin-Format, gestaltet von Autorin Monika Pietrzak-Franger (Mitte), Grafiker Roman Breier (links) und Fotograf Peter Mayr (rechts). © Peter Mayr

Was ist Long Covid?

Long Covid beschreibt gesundheitliche Langzeitfolgen, die mehr als vier Wochen nach einer Covid-19-Erkrankung fortbestehen oder neu auftreten. Die Symptome können die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Da die Symptome vielfältig sind und nicht alle Betroffenen diagnostiziert werden, gibt es keine genauen Zahlen zur Häufigkeit von Long Covid. Frauen sind überproportional häufiger betroffen als Männer.

Zur FAQ-Seite des Öffentlichen Gesundheitsportals Österreich

Zur Website der Betroffeneninitiative Long Covid Austria.

Rudolphina: Was an dem Buch direkt auffällt: Es wirkt eher wie ein Lifestyle-Magazin als ein Sachbuch. Es betrachtet das Leben mit Long Covid aus einer journalistischen Perspektive.

Monika Pietrzak-Franger: Ja, denn ein Ziel des Buches ist, Erkrankte und ihre Geschichten in den Vordergrund zu stellen, ihnen eine Stimme und ein Gesicht zu geben. Dafür haben wir im Rahmen eines interuniversitären Clusterprojekts mit der Medizinischen Universität Wien Interviews mit Betroffenen geführt. Bei den Fotoshootings haben wir möglichst wenig eingegriffen und ließen uns von ihren Gedanken und Wünschen leiten – insbesondere davon, welche Aspekte ihres Lebens mit der Krankheit sie mit der Öffentlichkeit teilen wollen.

 

Clusterprojekt Post-Covid Care: Translational Health Economics and Medical Humanities

Ziel des interuniversitären Clusterprojekts ist es, den Ursachen für Ungleichheiten in der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen auf den Grund zu gehen. Dabei stehen die Zusammenhänge zwischen soziokulturellen, sozioökonomischen und medialen Faktoren im Fokus. Das durch die Universität Wien und die Medizinische Universität Wien geförderte Forschungsprojekt steht unter der Leitung von Monika Pietrzak-Franger (Kulturwissenschaft, Uni Wien), Susanne Mayer und Agata Łaszewska (beide Gesundheitsökonomie, MedUni Wien).

Alle Infos über das Clusterprojekt Post-Covid Care: Translational Health Economics and Medical Humanities

In Medienberichten über Long Covid wurde sehr lange nur mit Stockfotos gearbeitet, also mit Bildern, die mit den eigentlichen Lebensgeschichten hinter der Krankheit nichts zu tun haben. Es ist aber sehr wichtig, diese zu erzählen, denn Long Covid als "diagnostisch unklare" Krankheit wird in unserer Gesellschaft unsichtbar gemacht. Das Magazinformat soll neugierig machen, um dieses Tabuthema einer breiten Öffentlichkeit näher zu bringen. Dabei liegt der Fokus nicht nur auf der Leidensgeschichte der Patient*innen, sondern auch auf ihrem Alltag, der sich von unserem sehr stark unterscheidet.

Das Stigma chronischer Krankheiten: Im Interview zur Semesterfrage "Wie gerecht ist Gesundheit?" spricht Monika Pietrzak-Franger darüber, wie wichtig es ist, die Erfahrungen von Betroffenen ernst zu nehmen und Stereotype in medialen Darstellungen zu hinterfragen. © Universität Wien/DLE Kommunikation

Rudolphina: Wie sieht denn der Alltag mit Long Covid aus? Welche Strategien und Routinen entwickeln Betroffene?

Monika Pietrzak-Franger: Sie sind so individuell wie die Patient*innen. Wir haben mit Leuten gesprochen, die fünf Monate lang im abgedunkelten Zimmer gelegen sind, weil sie kein Licht vertragen, wie etwa die Betroffene auf dem Cover mit den Schlafmasken. Für viele Betroffene ist das sogenannte "Pacing" eine wichtige lindernde Alltagsstrategie. Das bedeutet, alle Dinge langsam anzugehen: Gerade in dem Tempo, mit dem der Organismus zurechtkommt. Eine Person, mit der wir gesprochen haben, ging nur mit einem Klappsessel aus dem Haus, damit sie sich alle 500 Meter darauf ausruhen konnte; eine andere wiederum hat Sessel in der Wohnung verteilt, damit sie es nach und nach bis zur Toilette schafft.

Auch kognitives Pacing kann notwendig sein, oder das bewusste Regulieren von Emotionen. Eine Patientin hat berichtet, dass sie einmal einen Crash erlitten hat, weil sie sich über einen Besuch zu sehr gefreut hat. Trotz aller Strategien gibt es viele Dinge, die Betroffene ohne Hilfe nicht schaffen können.

Rudolphina: Bewundernswert, dass sich trotzdem Betroffene gefunden haben, die Energie in die Interviews und Fotoshootings gesteckt haben.

Monika Pietrzak-Franger: Absolut, und ich bin ihnen sehr dankbar. Sie riskierten ihre Gesundheit, um nach außen zu tragen, wie schwierig es ist, mit dieser Krankheit zu leben.

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Unter dem Hashtag #Frauenticket teilen tausende Frauen ihre Erfahrungen, bei Arztbesuchen nicht ernst genommen worden zu sein. Monika Pietrzak-Franger von der Universität Wien erklärt, warum Betroffene chronischer Erkrankungen häufig mehrfach stigmatisiert werden.

Rudolphina: Welche gesellschaftlichen Narrative tragen dazu bei, dass Menschen mit Long Covid und vergleichbaren chronischen Erkrankungen häufig nicht ernst genommen werden?

Monika Pietrzak-Franger: Ich denke, es hat mit unserem Konzept von Krankheit und Gesundheit zu tun. In unserer Gesellschaft wird eine Erkrankung eher ernstgenommen, wenn klare biologische Ursachen zu finden sind. Wir wissen aber mittlerweile, dass die meisten Krankheiten auch psychologische und soziale Ursachen haben können, und dass man diese drei Dimensionen man nicht so einfach auseinanderhalten kann.

Grafik mit den Buchtipps der Autorin
"Scheinbar genesen" (1) von Monika Pietrzak-Franger und die Leseempfehlungen der Autorin. "Illness" (2) von Havi Carel ist eine Philosophie des Phänomens Krankheit ausgehend von der persönlichen Krankheitsgeschichte der Autorin. In "Being Ill" (3) thematisieren Neil Vickers und Derek Bolton, wie schwere Erkrankungungen das Verhältnis zwischen Betroffen und ihrem sozialen Umfeld verändern und diskutieren die essentielle Rolle von Empathie und Verbundenheit. Als Freizeit-Lektüre empfiehlt Monika Pietrzak-Franger "Herbst" (4) von Ali Smith ‒ ein Buch über die Notwendigkeit der Hoffnung in einer Gesellschaft im Umbruch. © Barbara Veit (Grafik) und die Verlage (Buchcovers)

Rudolphina: Haben Sie eine Empfehlung zum Weiterlesen für alle, denen Ihr Buch gefällt?

Monika Pietrzak-Franger: Da kann ich "Illness" von Havi Carel empfehlen, eine Mischung aus persönlichen Memoiren und philosophischen Überlegungen über Krankheit. Die Philosophin Havi Carel leidet selbst unter einer sehr seltenen Lungenerkrankung, die dazu führt, dass sie irgendwann ersticken wird. Ihre Erfahrungen mit der Krankheit bilden die Grundlagen für ihre Gedanken, was es bedeutet, krank zu sein – was es mit einem selbst macht und was es mit der Community um einen herum macht. Carel schreibt sehr empathisch und informativ über das Thema und vermittelt so ein Verständnis dafür, was es bedeuten kann, erkrankt zu sein.

Rudolphina: Welches Buch können Sie noch empfehlen, um sich weiter ins Thema zu vertiefen?

Monika Pietrzak-Franger: "Being Ill" von Neil Vickers und Derek Bolton. Hier geht es darum, was man in einer Gemeinschaft gemeinsam machen kann, um Krankheit erträglicher zu machen, sodass auch die Gesellschaft dadurch resilienter wird. Die Autoren gehen nämlich – so wie ich – davon aus, dass Krankheit keine Einzelerfahrung ist bzw. sein darf.

In unserer Welt heißt es für Erkrankte oft mehr oder weniger unterschwellig: Du bist selbst schuld, weil du dieses und jenes nicht gemacht hast und ach ja, für Genesung bist du auch verantwortlich. Was wir nicht bedenken ist, dass die Krankheit eines Einzelnen immer einen Einfluss darauf hat, wie eine Community funktioniert. Am Beispiel von Long Covid und anderen postviralen Krankheiten betrachtet: Die meisten Betroffenen sind Frauen, wovon viele in Sozialberufen arbeiten. Das bedeutet, wir werden irgendwann einmal einen noch stärkeren Mangel an diesen Berufen haben. Und das sieht aber fast niemand. Mit diesen Zusammenhängen setzt sich das Buch sehr gut auseinander.

Rudolphina: Welche Lektüre liegt gerade auf Ihrem Nachtkästchen?

Monika Pietrzak-Franger: Ali Smith's "Herbst" ‒ derzeit lese ich ihr Jahreszeitenquartett erneut. Ein Porträt einer zerrütteten Gesellschaft: müde, zerstritten, mit wenig Hoffnung und noch weniger Kraft, sich in Richtung einer hoffnungsvollen Zukunft zu bewegen. Eine wunderschön geschriebene Reflexion darüber, wer wir sind – und sein sollten oder müssten ‒ in Zeiten von Pandemie, Brexit, oligarchischen Machtstrukturen und der scheinbaren Unmöglichkeit sich eine bessere Zukunft vorstellen zu können. Aber gleichzeitig sind es Texte, die uns fast zum Handeln zwingen: Denn wenn wir es nicht tun, wird die Zukunft, die wir wollen, nicht kommen. Eine Zukunft, in der Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten weniger werden und in der wir träumen können.

"Scheinbar genesen" von Monika Pietrzak-Franger erscheint im Frühjahr 2025

Fünf Kapitel, die sich jeweils einem bestimmten Thema widmen, werden mit sieben persönlichen Krankheitserzählungen verwoben. Die begleitenden Fotografien unterscheiden sich vom medial vorherrschenden Bildmaterial, indem sie einen detaillierten Blick auf die Symptome, die neuen Routinen, die emotionalen Zustände und die alltäglichen Versuche der von Long Covid Betroffenen werfen, mit ihrer neuen Situation zurechtzukommen. Die gezeigte Patient*innenperspektive macht deutlich, welche gesellschaftlichen Veränderungen nötig sind, um die wachsende Zahl chronischer Erkrankungen bewältigen zu können.

(aus dem Exposé)

Verlag MedMedia. Erscheinungstermin Frühjahr 2025.

© Barbara Mair
© Barbara Mair
Monika Pietrzak-Franger ist Professorin für Kultur- und Literaturwissenschaften. Zu ihren Fachgebieten gehören die Kulturgeschichte der Krankheit, Krankheitserzählungen, Gender und Medien.

Sie ist Co-Leiterin des interuniversitären Clusters Post-Covid-19 Care der Universität Wien und der MedUni Wien und ist Mitglied im Forschungsverbund Gesundheit in Gesellschaft. Über ihre Forschung twittert sie unter @franger_monika sowie @MedHumUniVie.