Lockdown

"Familien fühlen sich in der Pandemie im Stich gelassen"

19. Februar 2021 von Barbara Wohlsein
Im März 2021 jährt sich der erste COVID-19-Lockdown. Bereits seit der ersten Lockdown-Woche befragt die Soziologin Ulrike Zartler Eltern zu ihren Erfahrungen mit der herausfordernden Situation. Ihre Erkenntnisse: Familien fühlen sich nicht gesehen, vor allem Frauen sind sehr erschöpft.
Für die Studie "Corona und Familienleben" von Ulrike Zartler werden seit März 2020 Familien mit Kindern im Kindergarten- und Volksschulalter befragt.

Rudolphina: Sie haben in der ersten Lockdown-Woche im März 2020 begonnen, Daten zum Thema Corona und Familienleben zu erheben. War Ihnen sofort klar, dass das Thema so bedeutend sein wird?

Ulrike Zartler: Vor einem Jahr hatte ich den Eindruck, dass es sich um eine völlige Ausnahmesituation handelt, allerdings muss ich gestehen, dass ich damals dachte, diese Situation würde wohl nur bis zu den Osterferien 2020 ein Thema sein und wir könnten dann wieder zur Normalität übergehen. Ich wurde Anfang März immer wieder nach Studienergebnissen zum Familienleben in Pandemien gefragt und dazu gab es nur sehr wenig Material. Deshalb fiel die Entscheidung, selbst Daten zu diesem Thema zu erheben, indem ich Eltern von Volksschul- und Kindergartenkindern befrage. Das war ein sehr abenteuerliches Unterfangen, weil alles unglaublich schnell gehen musste, um mit der ersten Lockdown-Woche starten zu können.

Rudolphina: Was waren zu Beginn des Lockdowns die größten Herausforderungen für Familien?

Ulrike Zartler: Familien standen vor der Herausforderung, ihren Alltag innerhalb kürzester Zeit neu zu organisieren. Viele Eltern mussten sich zuhause Arbeitsplätze einrichten, die Kinder brauchten einen Platz und technische Ausrüstung fürs Homeschooling. Das alles musste koordiniert werden. Hinzu kamen Existenzängste und auch die Versorgungssituation schien damals unsicher, Stichwort Hamsterkäufe. Auch die Kinder hatten Ängste und die Eltern mussten damit umgehen und sie angemessen über die Pandemie informieren. Am Anfang erlebten einige Familien, die sehr gute Rahmenbedingungen – ausreichend Platz, wenig Konflikte, keine Existenzängste – hatten, auch eine Art von Entschleunigung. Dieser Zustand hat aber nicht lange angedauert.

Rudolphina: Wie entwickelte sich die Situation bis zum Sommer 2020?

Ulrike Zartler: Wir haben bis Juni sehr häufig befragt, zunächst wöchentlich, dann alle zwei Wochen. Im Frühsommer fühlten sich die Eltern bereits zunehmend erschöpft, ausgelaugt und zermürbt. Auch immer mit Blick auf den Herbst, ganz nach dem Motto: "Wir schaffen keinen zweiten Lockdown." Man darf nicht vergessen, dass viele Familien im Sommer aufgrund der Kinderbetreuungssituation nicht die Möglichkeit hatten, einfach mal durchzuatmen. Auch Urlaubstage und Pflegefreistellungen waren oft bereits aufgebraucht. Als es dann im Herbst tatsächlich wieder zum Lockdown kam, waren immer öfter Resignation, Lethargie und auch Verzweiflung zu spüren.

Rudolphina: Zusammenfassend: Welche Schwächen hat die Pandemie in Bezug auf Familien offengelegt?

Ulrike Zartler: Die Pandemie hat deutlich gezeigt, dass Eltern – und ganz besonders Frauen – unglaubliche Leistungen für die Gesellschaft erbringen. Die Gruppe, die wir beforschen, ist jene der Familien mit Kindern im Kindergarten- und Volksschulalter, das sind 900.000 Familien mit 1,6 Millionen Kindern. Es wurde sichtbar, welche enorme Verantwortung die Familien hier tragen. Gleichzeitig fühlten sich die Eltern über einen langen Zeitraum völlig unsichtbar und nicht wahrgenommen in dem, was sie täglich leisten. Es wurde gerade am Beginn der Pandemie viel über die Wirtschaft gesprochen, aber wenig über Kinderbetreuung, Pflege oder die Situation von Familien, Kindern und Jugendlichen. Das hat großen Unmut erzeugt.

Rudolphina: Wie sieht laut Ihren Befragungen die Situation für Frauen in der COVID-19-Pandemie aus?

Ulrike Zartler: Wir sehen, dass die Pandemie für Frauen sehr anstrengend war und ist. Das liegt daran, dass sie viele der zusätzlich entstandenen Aufgaben übernommen haben und gleichzeitig ihre eigenen Bedürfnisse zurückstecken mussten. Viele Frauen bekamen wenig Unterstützung in der Kinderbetreuung, mussten sich vor allem auf sich selbst verlassen und haben Unglaubliches geleistet – allen voran die Alleinerzieherinnen. Bei Paarfamilien wurde zuhause oft ein "Schichtbetrieb" eingerichtet, in dem sich die Eltern die Betreuungs- und Arbeitszeiten aufteilen. Hier sind es häufig die Frauen, die am Abend oder sehr früh am Morgen arbeiten. Kinder werden teilweise auch vor Arbeitgeber*innen "versteckt" und mit Filmen oder Fernsehen versorgt, damit die Eltern beispielsweise eine berufliche Telefonkonferenz führen können. Das ist durchaus kritisch, weil dadurch der Eindruck entsteht, dass sich die Vereinbarung der unterschiedlichen Tätigkeiten locker ausgeht. Dazu ein Beispiel im Umkehrschluss: Wir würden auch nicht wollen, dass Pädagog*innen neben der Arbeit laufend Mails schreiben und Telefonate führen – genau das wird aber wie selbstverständlich von den Eltern verlangt. Und: Wenn es in der Pandemie keine Bildungs- und Betreuungsprobleme gäbe, bräuchten wir weder Schulen noch Kindergärten.

Rudolphina: Welche Auswirkungen wird die Pandemie auf unsere Gesellschaft und auf die Familien haben?

Ulrike Zartler: Wichtig ist, die Coronakrise im Längsschnitt zu analysieren. Es wird wohl nachhaltige Veränderungen geben und wir haben als Wissenschafter*innen die Verantwortung, genau zu erforschen, was die Krise mit den Menschen gemacht hat. Eltern haben sich in der Pandemie unverstanden und im Stich gelassen gefühlt. Auch andere gesellschaftliche Gruppen hatten den Eindruck, zum Schutz einer anderen Gruppe Entbehrungen in Kauf nehmen zu müssen. Das ist eine gefährliche Tendenz, denn eine Gesellschaft sollte immer auf Kooperation und Solidarität bauen. Anzeichen für die Verstärkung sozialer Ungleichheit sind bereits deutlich. Ein großes Augenmerk sollte nach der Pandemie auf die Bildung gelegt werden. Dies betrifft direkt die Lebenschancen der Kinder und Jugendlichen, und hier besteht die große Gefahr, ganze Gruppen der Gesellschaft zu "verlieren".

Rudolphina: Vielen Dank für das Gespräch!

Die qualitative österreichweite Längsschnittstudie "Corona und Familienleben" unter der Leitung von Assoz.-Prof. Dr. Ulrike Zartler beschäftigt sich mit den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Familien. Diese Studie wird bereits seit der ersten Woche des Lockdowns (März 2020) durchgeführt. Befragt werden 98 Eltern mit insgesamt 181 Kindern im Kindergarten- oder Schulalter. Zwei Teilprojekte analysieren die Auswirkungen von COVID-19 auf Frauen in Wien (Fördergeber: MA 57) sowie auf Arbeit und Care-Tätigkeiten (Fördergeber: Arbeiterkammer Wien).

© citronenrot
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Ulrike Zartler ist seit September 2017 Assoziierte Professorin für Familiensoziologie am Institut für Soziologie der Uni Wien. Sie forscht u.a. zu den Themen Kindheits- und Jugendsoziologie sowie Soziale Medien im Kindes- und Jugendalter und lehrt im Universitätslehrgang Studium Generale am Postgraduate Center.