Mathematisches Denken

Die Geburtsstunde der modernen Mathematik

8. Mai 2019 von Jessica Richter
Wie ist die Mathematik zu dem geworden, was sie heute ist? Und wie dachten Philosoph*innen einst über Mathematik nach? In seinem EU-Projekt an der Uni Wien geht Wissenschaftsphilosoph Georg Schiemer auf die Suche nach den Ursprüngen des heutigen mathematischen Denkens.

"Wer Mathematiker*innen fragt, was ihre Wissenschaft ausmacht, bekommt vermutlich folgende Antwort: Mathematik beschreibt abstrakte Strukturen", sagt Georg Schiemer vom Institut für Philosophie der Universität Wien. Gerade Schüler*innen können ein Lied davon singen: In der Mathematik hat man es mit einem Regelwerk zu tun, das sich nur wenigen intuitiv erschließt. "Mathematisches Denken und Argumentieren basiert heutzutage auf Grundsätzen (Axiomen), die mathematische Objekte definieren. Ein Beispiel bilden die Axiome der Zahlentheorie: Diese besagen, was Zahlen überhaupt sind, welche Eigenschaften sie haben und wie sie zueinander im Verhältnis stehen", so der Philosoph.

In der Philosophie nennt sich dieser Zugang "mathematischer Strukturalismus" – ein Begriff aus den 1960er Jahren. Aber Georg Schiemer möchte zeigen, dass dieses Denken viel älter ist. In seinem interdisziplinären ERC-Starting Grant-Projekt "The Roots of Mathematical Structuralism" begibt sich der Projektleiter mit seinem Team auf eine Zeitreise ins 19. und beginnende 20. Jahrhundert – der Geburtsstunde der Mathematik, wie wir sie heute kennen.

Euklid von Alexandria
Euklid von Alexandria war ein wichtiger Mathematiker der griechischen Antike. Die "euklidische" Geometrie bzw. ihr ab dem 19. Jahrhundert existierender Gegenpart, die "nicht-euklidische" Geometrie, sind bis heute in der Mathematik ein Begriff. © Mark A. Wilson, The College of Wooster/Wikimedia Commons, Public Domain

Geometrie des Erfahrbaren

"Bis ins 19. Jahrhundert war die Mathematik oft am Erlebbaren orientiert, also an Räumen und Objekten, die Menschen durch ihre Sinne erfassen können", erklärt der Wissenschafter: "Nehmen wir etwa die Geometrie, die auf der Lehre Euklids fußt. Dessen geometrische Grundsätze lassen sich in der traditionellen Auffassung als systematische Beschreibung des Erfahrungsraums zusammenfassen."

Im 19. Jahrhundert bekam die euklidische Geometrie allerdings Konkurrenz. MathematikerInnen entwarfen schlüssige Modelle, die Euklid zwar widersprachen, ihn aber nicht widerlegten. Eine Krise der mathematischen Wissenschaft. Wie konnten widersprüchliche Auffassungen gleichermaßen wahr sein?

Alles neu macht der Strukturalismus

"Die nicht-euklidischen Ansätze des 19. Jahrhunderts haben die der Geometrie zugrundliegenden Vorstellungen stark erweitert. Geometrie wurde abstrakt und basierte zunehmend auf mathematischen Grundregeln, die vom Erfahrbaren losgelöst waren", erklärt Georg Schiemer.

Damit blieb die Geometrie nicht allein: Auch in anderen Bereichen wie der Algebra setzte sich das Verständnis von Mathematik als Wissenschaft der abstrakten Strukturen durch. "Die Mathematik als Wissensform wurde neu konzeptualisiert", erläutert der Philosoph: "In unserem Projekt untersuchen wir die unterschiedlichen methodischen Entwicklungen, die letztlich zu diesem Paradigmenwechsel geführt haben." Und mit der Neuerschaffung der Mathematik veränderte sich auch das Denken über sie. "PhilosophInnen reagierten auf die Entwicklungen in der Mathematik und entwarfen frühe Versionen des Strukturalismus." Dabei waren beide Wissenschaften im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch eng verbunden: "Führende MathematikerInnen verfassten philosophische Schriften, die auch heute noch relevant, aber oft unbekannt sind."

Hermann Helmholtz
Wichtige MathematikerInnen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts betätigten sich auch als PhilosophInnen und trugen zur Debatte um den Begriff und Gegenstand der Mathematik bei. Dazu zählen etwa Henri Poincaré (1854-1912) und der vor allem als Physiker bekannt gewordene Hermann von Helmholtz (1821-1894, im Bild) © W.J.S./Wellcome Images

Mathematikgeschichte interdisziplinär

Eine interdisziplinäre Untersuchung der unbekannten philosophischen und mathematischen Vorgeschichte bietet sich also an. Am ERC-Projekt sind mit Georg Schiemer und den NachwuchswissenschafterInnen John Wigglesworth, Francesca Biagioli und Henning Heller daher ForscherInnen aus der Mathematik, Philosophie, Mathematik- und Philosophiegeschichte sowie der Logik beteiligt.

Dabei sind die WissenschafterInnen nicht nur mit anderen laufenden ERC-Projekten am Institut für Philosophie eng verknüpft, sondern sie stehen auch in regem Kontakt mit Forschungseinrichtungen in den USA, Deutschland oder Frankreich. Durch im Projektrahmen initiierte internationale Austauschprogramme erhält das Wiener ForscherInnen-Team zudem regelmäßig Zuwachs von internationalen GastwissenschafterInnen, etwa aus Italien und Argentinien.

Das ERC-Starting Grant-Projekt "The Roots of Mathematical Structuralism" unter der Leitung von Ass.-Prof. Mag. Mag. Dr. Georg Schiemer am Institut für Philosophie, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft, läuft vom 1. März 2017 bis zum 28. Februar 2022. ProjektmitarbeiterInnen sind derzeit John Wigglesworth, BA PhD, Francesca Biagioli, PhD, Inger Bakken Pedersen, BA MA und Henning Heller, MA. Administrativ begleitet wird das Projekt von Florian Kolowrat.

Neue Blickwinkel, besseres Verständnis

"Die interdisziplinäre Zusammenarbeit eröffnet neue Perspektiven", freut sich Georg Schiemer, der bereits in München und Stanford an der historischen Schnittstelle der beiden Disziplinen gearbeitet hat. "Die Philosophie der Mathematik ist heute oft losgelöst von mathematischer Praxis. Wir erwarten uns eine historische Einbettung und eine klarere Sicht darauf, wie MathematikerInnen argumentieren." Was MathematikerInnen also meinen, wenn sie von abstrakten Strukturen sprechen, wird das Team um Georg Schiemer in seiner historischen und philosophischen Tiefenschärfe beantworten.

ERC Grants an der Universität Wien

Die Förderung von grundlagenorientierter Pionierforschung ist einer der Schwerpunkte der Europäischen Union. Dafür wurde der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) geschaffen. Gefördert werden Forschungsprojekte mit hohem Potenzial für Innovationen. Seit 2007 wurden insgesamt bereits 53 ERC Grants an ForscherInnen der Universität Wien vergeben: 14 Advanced Grants, zehn Consolidator Grants, 26 Starting Grants und drei Proof of Concept.

Neben dem Starting Grant-Projekt Georg Schiemers laufen am Institut für Philosophie der Universität Wien drei weitere Forschungsprojekte, die durch einen ERC-Advanced Grant finanziert und von Tarja Knuuttila, Martin Kusch und Herlinde Pauer-Studer geleitet werden.

© Barbara Mair
© Barbara Mair
Georg Schiemer ist außerordentlicher Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien. Seine derzeitigen Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte und Philosophie der Mathematik und die frühe analytische Philosophie.

Außerdem forscht Schiemer zu Logik, der Geschichte und Philosophie der Logik und formale Wissenschaftsphilosophie.