Der "Pandemie Gap" in der Bildung
Wie geht es Kindern und Jugendlichen mit Migrationserfahrungen und migrantischen Familienhintergründen im Bildungssystem? Diese Frage stellt das europäische Projekt MiCREATE, das von der Europäischen Kommission im Rahmen des Programms "Horizon 2020" finanziert wird, und an dem auch eine Forschungsgruppe der Uni Wien rund um Birgit Sauer vom Institut für Politikwissenschaft mitarbeitet.
Das Projekt läuft insgesamt drei Jahre, im ersten Schritt wurden die Integrationspraxen und -initiativen analysiert, die es aktuell in den jeweiligen Ländern gibt. "Das Besondere an unserem Projekt ist der kinderzentrierte Ansatz, das heißt, wir wollen verstehen, wie es den Schüler*innen aus ihrer Perspektive aktuell geht und wie man ihre Erfahrungen im österreichischen Bildungssystem verbessern könnte", erklärt Projektmitarbeiterin Alev Cakir.
Pandemie verstärkt Benachteiligungen
Die Feldforschung an sechs Wiener Schulen, die das Kernstück des Projekts darstellt, wurde im Frühling 2020 vom ersten Corona-Lockdown unterbrochen. Mit Schulbeginn 2020/21 wurde sie zwar fortgesetzt, das Thema Pandemie erweiterte aber auch den Forschungsschwerpunkt: So wurden speziell für die Corona-Krise Empfehlungen erarbeitet, wie man Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrungen und migrantischen Familienhintergründen gerade in dieser Zeit unterstützen kann.
"Jede Krise verstärkt bestehende Benachteiligungen", erklärt Projektmitarbeiterin Stella Wolter. "Das zeigt sich in der Corona-Pandemie auch in Bezug auf Bildung." Nachdem bereits in regulären Schuljahren ein sogenannter "Summer Gap" feststellbar ist, der darauf basiert, dass nicht alle Schüler*innen in den Ferien gleich gefördert und betreut werden, gebe es nun einen "Pandemie Gap", also eine Bildungslücke verursacht durch die Covid-19-Krise.
Empfehlungen fürs Online-Learning
Diese Bildungslücke ist einerseits auf fehlende Lerninfrastruktur zurückzuführen (Haben die Schüler*innen zuhause einen Computer mit Internet? Gibt es einen ruhigen Arbeitsplatz?) und andererseits auch eine Frage von Ressourcen: Haben die Eltern die Zeit, finanzielle Mittel, das entsprechende Wissen und die Sprachkenntnisse, um die Schüler*innen beim Online-Learning zu unterstützen?
Dementsprechend lautet die Empfehlung der Wiener Forscher*innen in ihrem Policy Brief, dass auf die Online-Lernsituationen von Schüler*innen besondere Rücksicht genommen werden sollte und Familien bei Bedarf mit Lernräumen, technischen Geräten und weiteren Angeboten (Peer-Mentoring, regelmäßige Treffen, Sprachangebote etc.) unterstützt werden sollten. "Hier geht es natürlich auch um größere, gesamtgesellschaftliche Fragen", so Alev Cakir.
Immer noch "die Anderen"
Neben den "Corona-Empfehlung" haben die Forscher*innen auch eine Reihe von allgemeinen wissenschaftlichen Empfehlungen an die nationalen Entscheidungsträger*innen erarbeitet. "Bildung wird in Österreich leider immer noch weitgehend vererbt, deshalb gilt es, schulische Strukturen langfristig so aufzubauen, dass sozioökonomisch schlechter gestellte Kinder und Jugendliche nicht auch noch in der Bildung 'bestraft' werden", so Alev Cakir. "Wir sind zwar erst am Beginn der Feldforschung, aber in den ersten Gesprächen haben uns Schüler*innen mit Migrationserfahrungen und migrantischen Familienhintergründen erzählt, dass sie in ihrer Eigenwahrnehmung immer noch die 'Anderen' sind. Das ist erschreckend und hat uns auch überrascht."
Grundsätzlich sei auch ein anderes Integrationsverständnis nötig, sagt Stella Wolter: "Bislang fehlt ein holistisches Verständnis von Integration." Dazu gehöre auch die Erkenntnis, dass es langfristige Maßnahmen und mehr Ressourcen in Form von Personal braucht, um Kindern und Jugendlichen mit Migrationserfahrungen und migrantischen Familienhintergründen gleichwertige Bildungschancen zu ermöglichen. "Hier geht es auch um eine bedarfsorientierte Verteilung – manche Schulen benötigen mehr unterstützende Angeboten als andere", so Wolter.
Im verbleibenden Drittel des MiCREATE-Projekts wird das Wiener Forschungsteam die Feldforschung an den Wiener Schulen auswerten, vergleichende Analysen mit anderen EU-Ländern erstellen und weitere wissenschaftliche Empfehlungen an die Entscheidungsträger*innen erarbeiten. Zudem werden Tools für Lehrer*innen entwickelt, um sie in der Kommunikation mit Schüler*innen zu unterstützen.