Das Labyrinth im Boden
Der Boden unter unseren Füßen zählt zu den komplexesten Ökosystemen auf unserer Erde. Der Kreislauf ist genial: In der Natur existieren keine Abfälle. Blätter und andere organische Materialen sind Nahrungsgrundlage für Kleinstlebewesen und Mikroorganismen im Boden. Ohne sie könnte der globale Kohlenstoffkreislauf nicht funktionieren und es wäre kein Pflanzenwachstum möglich. Die Mikroorganismen produzieren durch ihre Verdauung nicht nur Humus, sondern auch CO2 – und das wird wiederum von den Pflanzen für ihre Photosynthese benötigt.
"Dieses System ist weltweit im Gleichgewicht: Bodenmikroorganismen veratmen jährlich rund 60 Gigatonnen Kohlenstoff als CO2 und Pflanzen binden auch genau jene Menge wieder. Durch das Verbrennen fossiler Brennstoffe und andere menschliche Aktivitäten, die jährlich in etwa zehn bis zwölf Gigatonnen zusätzlich in die Atmosphäre bringen, wird dieses Gleichgewicht jedoch massiv gestört", erklärt die Ökologin Christina Kaiser, die derzeit das ERC Consolidator Grant-Projekt "Self-organization of microbial soil organic matter turnover" leitet. Gleichzeitig dient der Boden als weltweit größter Kohlenstoffspeicher; auch hier spielen die Bodenmikroorganismen eine Schlüsselrolle beim Auf- und Abbau dieser Reserven.
Neue Strukturen und neue Funktionen
Der große Kreislauf ist bekannt und gut erforscht, doch was auf der Mikroebene konkret passiert, z.B. zwischen zwei einzelnen Mikroorganismen, ist weniger bekannt. Genau auf diese Mikroebene begibt sich Kaiser in ihrem ERC-Projekt und untersucht die Arbeitsweise einzelner Mikroorganismen. Dabei wendet sie die sogenannte Wissenschaft komplexer Systeme an: "Komplexe Systeme bestehen aus vielen Einzelkomponenten, die miteinander interagieren und dadurch Strukturen mit neuen Funktionen bilden können – ein Systemverhalten mit eigener Dynamik. Anders gesagt: Auch wenn wir alles über jeden einzelnen Mikroorganismus im Boden wissen würden, würde das nicht ausreichen zu verstehen wie sich das System als Ganzes verhält."
Von der Makro- auf die Mikroebene
Kein leichtes Forschungsgebiet: In einem Gramm Erde leben tausende unterschiedlich spezialisierte Arten, darunter wiederum Millionen Individuen, die permanent Stoffwechselprodukte miteinander austauschen. "Um organisches Material abzubauen, müssen sie alle zusammenarbeiten. Genau diese Interaktionen interessieren mich", bringt es die Bodenökologin auf den Punkt.
Um diese zu erforschen hat Christina Kaiser, die beruflich auch einen Hintergrund in der Softwareentwicklung hat, ein eigenes Computermodell entwickelt. Ihr Modell simuliert einen hypothetischen 1x1 Millimeter kleinen Raum im Boden, in dem bis zu 10.000 Bodenmikroorganismen auf der Mikrometerskala miteinander interagieren und Stoffwechselprodukte austauschen können.
Die Modelle überprüfen
Ob das Modellsystem auch wirklich der Realität entspricht bzw. ob es hilft, die Bodenprozesse im Kleinen darzustellen, muss im Labor überprüft werden. "Dabei schaue ich mir zum Beispiel auf kleinster Ebene an, wie ein Stückchen Blatt zersetzt wird", so Kaiser. "Auf der nächsten Ebene untersuche ich die mikrobiellen Interaktionsnetzwerke in den Bodenproben, also welche Mikroorganismen miteinander interagieren."
Es kann durchaus vorkommen, dass zwei Bakterien auf einem Kubikmillimeter Erde zusammenleben, aber einander niemals treffen – und somit auch kein Enzymaustausch zwischen diesen beiden Arten stattfindet. "Böden sind auf der Mikroebene stark strukturiert. Sie bestehen aus sogenannten Aggregaten. Das sind verschiedene Konglomerate aus organischen Materialien, die relativ stabil sind und den Raum bilden, in denen Mikroorganismen interagieren."
Die Organisation der Mikroorganismen
Innerhalb dieser Aggregate leben die Bodenorganismen in einem Labyrinthsystem aus Poren. "Die einzelnen Mikroorganismen können sich dadurch nur auf bestimmten Wegen bewegen und so kann es eben sein, dass sich zwei Mikroorganismen auch auf engstem Raum nie begegnen", sagt Kaiser: "Wie diese Labyrinthe angeordnet sind, hat also großen Einfluss auf die Interaktion, die in ihnen stattfinden."
Um diese Prozesse zu beobachten, möchte Kaiser sowohl die physikalische Struktur als auch die räumliche Verteilung von Mikroorganismen in einzelnen Bodenaggregaten mit Hilfe verschiedenster Techniken, unter anderem einem räumlich hochauflösenden Sekundärionenmassenspektrometer (NanoSIMS), untersuchen. Das ist ein Instrument, das bis zu sieben verschiedene Elemente räumlich hochaufgelöst im Nanometerbereich sichtbar machen kann.
Mit der Verknüpfung dieser und anderer experimenteller Methoden mit mathematischer Computermodellierung hofft die Ökologin, ihre zentrale Frage des ERC-Projekts zu beantworten: Wie funktioniert die Selbstorganisation im mikrobiellen Ökosystem Boden? "Das Spannende an diesem Projekt ist es, den Kohlenstoffkreislauf im Boden von einem neuen, interdisziplinären Blickwinkel zu betrachten und es als komplexes System zu untersuchen."
Das ERC Consolidator Projekt "SomSOM: Self Organisation of microbial soil organic matter turnover" unter der Leitung von Ing. Mag. Dr. Christina Kaiser startete im Mai 2019 am Department für Mikrobiologie und Ökosystemforschung des neuen Zentrums für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft der Universität Wien. Mit ERC-Grants fördert der Europäische Forschungsrat Projekte mit hohem Potenzial für Innovationen. Seit 2007 wurden insgesamt 55 ERC Grants an ForscherInnen der Universität Wien vergeben: 14 Advanced Grants, zehn Consolidator Grants, 26 Starting Grants und drei Proof of Concept. ERC Grants an der Uni Wien im Überblick
Kaiser studierte Ökologie an der Universität Wien und promovierte 2010 im Bereich Stoffkreisläufe und mikrobielle Ökologie im Boden. 2011 ging sie für ein Postdoktorat an die University of Western Australia (UWA) in Perth, gefolgt von zwei Jahren als Postdoctoral Fellow am International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) in Laxenburg.