Schmerz ist individuell: Auf dem Weg zur personalisierten Therapie
Ein kleiner Ausrutscher beim Zwiebelschneiden, schon geht es los: Sensorische Neuronen im Bereich der Wunde werden aktiviert. Dann rast ein elektrisches Signal durch die Nervenbahnen des Arms entlang ins Rückenmark und von dort in den Thalamus, in den Kortex, und andere Teile des Gehirns. Innerhalb von Millisekunden hat das Schmerzsignal unser Bewusstsein erreicht und wir halten uns reumütig den blutenden Finger.
So unangenehm sie auch sind: Schmerzen sind lebenswichtig, betont Manuela Schmidt, Leiterin der Forschungsgruppe Systems Biology of Pain an der Uni Wien, die wir heute im Labor besuchen: "Wer keinen Schmerz kennt, lebt gefährlich: Menschen, die aufgrund einer seltenen genetischen Mutation von Geburt an schmerzunempfindlich sind, bemerken Verletzungen nicht und haben meist eine geringe Lebenserwartung." Akuter Schmerz ist also unser Freund: Er wirkt wie eine Alarmglocke, die uns dazu bringt, die Wunde zu versorgen und beim nächsten Mal vorsichtiger zu sein. Oder zum Arzt zu gehen.
Wenn der Schmerz aber nicht aufhört
Schrillt diese Alarmglocke allerdings durchgängig und das mehr als drei Monate lang, spricht man von chronischen Schmerzen. Beim Übergang vom akuten zum dauerhaften Schmerz, der sogenannten Chronifizierung, spielt der Körper sich selbst einen Streich, erklärt die Expertin: "Wenn das Nervensystem eine Zeitlang ständig von einem Schmerzreiz aktiviert wird, kommt es irgendwann zu einer Übersensibilisierung – der Schmerz wird in einer Art 'Gedächtnis' gespeichert und immer wieder abgerufen."
Meist sind zu diesem Zeitpunkt längst keine physischen Schäden oder Verletzungen mehr nachweisbar – einer der Gründe, warum Menschen mit chronischen Schmerzen oft zusätzlich von Stigmatisierung betroffen sind.
Die Biochemikerin Manuela Schmidt war Postdoc in der Forschungsgruppe des späteren Medizin-Nobelpreisträgers Ardem Patapoutian am Scripps Research Institute in La Jolla, Kalifornien. Dort forschte sie an Molekülen, die eine zentrale Rolle bei der Wahrnehmung von Schmerz und Berührung spielen. In dieser Zeit wurde ihre Faszination für die Biologie von Schmerzen geweckt. Aber es gibt auch eine Leidensgeschichte hinter dem Engagement der Forscherin: Ein Elternteil ist selbst an chronischen Schmerzen erkrankt und Manuela Schmidt weiß aus erster Hand, welcher Teufelskreis an Folgeproblemen mit dieser Diagnose einhergeht.
Gemeinsam mit ihrem hoch motivierten Team setzt sie nun alles daran zu verstehen, wie bestimmte Protein-Netzwerke die Schmerzwahrnehmung in verschiedenen Lebensphasen und insbesondere geschlechtsabhängig beeinflussen. Dabei verfolgen die Forscher*innen einen ganzheitlichen Ansatz: die Systembiologie, welche die komplexen biologischen Netzwerke und Wechselwirkungen ins Visier nimmt, anstatt sich nur auf einzelne Moleküle zu konzentrieren. Das eröffnet neue Wege für die Entwicklung gezielter und individueller Therapien.
Schmerzforschung im Überblick
Schmerz wurde lange als Begleiterscheinung anderer Krankheiten betrachtet und erst im 20. Jahrhundert als eigenständiges Forschungsgebiet ernst genommen. Da Schmerz ein komplexes und individuelles Phänomen ist, ist die Wirksamkeit universeller Medikamente stark begrenzt. Durch neue Erkenntnisse über spezialisierte Schmerzrezeptoren, genetische Faktoren und molekulare Mechanismen bei chronischen Schmerzen eröffnen sich heute Chancen für gezielte Therapien. Jedoch ist es ein langer Weg, bis heutige Forschung in ein marktreifes und sicheres Medikament umgesetzt werden kann.
Chronischer Schmerz ist eine Krankheit
Und auf diese Therapien warten viele: In Europa ist schätzungsweise eine von fünf Personen von chronischen Schmerzen betroffen – mehr als etwa von Diabetes oder Asthma. In Österreich sind es demnach um die 1,8 Millionen Menschen, die zum Beispiel an chronischen Rückenschmerzen oder Migräne leiden. Die dadurch entstehende Belastung kann so stark sein, dass "das Arbeits- und Sozialleben sowie die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen" beeinträchtigt ist: Man spricht von "high-impact chronic pain". Oft sind auch Depressionen die Folge.
"Chronische Schmerzen sind eine eigenständige Krankheit mit Folgen für die ganze Gesellschaft", betont Manuela Schmidt. Eine deutsche Studie geht davon aus, dass die volkswirtschaftlichen Schäden von Rückenschmerzen die reinen Behandlungskosten bei Weitem übersteigen. Und wie so oft sind Menschen, die auch in anderen Lebenslagen benachteiligt sind – einkommensschwache, bildungsferne Schichten – häufiger von chronischen Schmerzen betroffen als andere Bevölkerungsgruppen.
Österreichweit einzigartige Forschung am funktionellen Mikrobiom und Metaproteom
Der Wissenschafter David Gómez Varela forscht seit 2021 in der Forschungsgruppe "Systems Biology of Pain"; hier leitet er das neue Center of Excellence für Metaproteomics, eine Kooperation der Uni Wien mit dem Unternehmen Bruker. Bei unserer Tour durch die Labors des Departments für Pharmazeutische Wissenschaften der Uni Wien im 9. Bezirk präsentiert er stolz die neueste ‒ und teuerste ‒ Ergänzung des Teams, die aus der Partnerschaft mit Bruker hervorgegangen ist: "das timsTOF Ultra 2".
Es ist das modernste und leistungsfähigste Massenspektrometer seiner Art, "ein echter Game Changer für unsere Forschung." Diese Maschine erkennt und analysiert die einzelnen Bestandteile eines Stoffgemischs. So kann das Proteom einer biologischen Probe – also die Gesamtheit aller darin enthaltenen Proteine – entschlüsselt werden. Das ist wichtig, denn bestimmte Proteine spielen eine Schlüsselrolle bei der Entstehung von Schmerzen: Sie fungieren als molekulare Schalter, die ein Schmerzsignal auslösen und weiterleiten.
Proteomforschung als Schlüssel zu neuen Wirkstoffen
Mit dieser modernen Technologie können die Forscher*innen ein weiteres wichtiges Puzzlestück im komplexen System Schmerz in den Blick nehmen: das Mikrobiom. Das Team um Schmidt und Gómez Varela erforscht nicht nur die Mikroorganismen, die in und auf uns leben, sondern auch ihre Aktivitäten und Aufgaben (das funktionelle Mikrobiom) sowie alle Proteine, die diese Mikroben gemeinsam herstellen (das Metaproteom). Die Entschlüsselung des Metaproteoms verrät, wie diese Proteine zur Gesundheit oder Funktion eines Organismus beitragen, wie die Mikroben miteinander interagieren und welche Stoffwechselprozesse sie durchführen.
"Unsere neuesten Ergebnisse deuten stark darauf hin, dass Darmmikroben eine Schlüsselrolle dabei spielen, wie Proteine, Hormone und das Immunsystem im Körper zusammenarbeiten", erklärt Gómez Varela. "Dieses Wechselspiel zwischen Mikroorganismen und Wirt ist weitgehend unerforscht, verändert sich über die Zeit und lässt sich nicht allein durch Genetik erklären. Deshalb betreiben wir unsere Mikrobiom- und Schmerzforschung auf systembiologischer Ebene, um ein Big Picture zu zeichnen. Mit unserer Technologie und unserem Know-how können wir – auf Proteomebene – genauer als je zuvor untersuchen, wie die Funktionen dieser Mikroorganismen chronische Schmerzen und andere Krankheiten beeinflussen."
Kleine Bausteine, große Zusammenhänge
- Systembiologie: Die Systembiologie untersucht, wie verschiedene Teile eines Organismus – wie Gene, Proteine und Zellen – zusammenarbeiten, um Leben zu ermöglichen.
- Proteom: Das Proteom umfasst alle Proteine, die in einem Organismus, Gewebe oder einer Zelle zu einem bestimmten Zeitpunkt gebildet werden. Proteine steuern viele Lebensvorgänge.
- Mikrobiom: Das Mikrobiom beschreibt alle Mikroorganismen (z. B. Bakterien und Pilze), die in und auf einem Lebewesen leben, wie im Darm oder auf der Haut.
- Metaproteom: Das Metaproteom ist die Gesamtheit der Proteine, die von allen Mikroorganismen eines Mikrobioms produziert werden – quasi das "Proteom der Mikroben".
- Funktionelles Mikrobiom: Das funktionelle Mikrobiom beschreibt die gesamten Aktivitäten und Aufgaben der Mikroorganismen im Mikrobiom, wie die Produktion von Nährstoffen und die Unterstützung der Gesundheit ihres Wirts.
So hoffen die Forscher*innen, den Weg für neue Schmerzmittel zu ebnen. Denn gängige Substanzen wie Opioide haben – abgesehen vom Suchtpotential – viele Nebenwirkungen, weil Opioidrezeptoren an vielen verschiedenen Prozessen im Körper beteiligt sind. Das Ziel wären Arzneimittel, die nur solche Moleküle und Signalwege ins Visier nehmen, die für die jeweilige Schmerzsymptomatik spezifisch sind. Um solche passgenauen Therapien zu entwickeln, muss man die genauen molekularen Abläufe und Unterschiede zwischen akuten und chronischen Schmerzen verstehen.
Was das Forscherteam den Geheimnissen des Metaproteoms entlockt, könnte sich aber auch für andere medizinische Anwendungen als nützlich erweisen. "Wir finden regelmäßig Tausende neuer Peptide – kleine Proteine, die von Darmmikroben produziert werden und möglicherweise wie natürliche Antibiotika wirken", sagt Gómez Varela begeistert. "Diese Peptide müssen nun in weiteren Experimenten auf ihre Tauglichkeit als Wirkstoffe geprüft werden. Dafür sind Kooperationen zwischen Wissenschaft und Industrie, wie unsere Zusammenarbeit mit Bruker, entscheidend. Wien ist dafür ein idealer Standort: Hier gibt es führende Pharmaunternehmen und engagierte Förderstellen, die solche Innovationen vorantreiben können."
Personalisierte Schmerzmedizin ist die Zukunft
Nicht zuletzt ist es das Ziel der Forscher*innen, sich mehr denn je auf die individuellen Unterschiede zu konzentrieren. So ähnlich wie Privatpersonen schon heute ihr Genom analysieren lassen, arbeitet das Team an der Entwicklung einer Technologie zur Entschlüsselung von Veränderungen im individuellen funktionellen Mikrobiom anhand von Stuhlproben, die einfach zur Analyse eingesandt werden könnten. Dies wird präzisere Ergebnisse liefern als die bereits auf dem Markt befindlichen Mikrobiom-Tests.
Wenn es nach Manuela Schmidt geht, ist Personalisierung auch in der Schmerzmedizin die Zukunft. Bisher hat die Forschung Unterschiede zwischen den Menschen oft vernachlässigt. Zum Beispiel wurden lange Zeit zu wenig Erkenntnisse über frauenspezifische Symptome und Krankheitsverläufe gesammelt. Das hat unter anderem auch zu einer Datenlücke in der Gendermedizin geführt.
Und das obwohl Schmerz nachweislich eine höchst individuelle Angelegenheit ist: Jede*r von uns erlebt den Zwischenfall mit der Zwiebel und dem Küchenmesser anders. Das liegt an individuellen Unterschieden in Proteinen und Signalwegen, die als Schmerzempfänger oder -weiterleiter fungieren. Überdies schwanken deren Menge und Aktivität mit dem Alter, dem Hormonhaushalt, mit der psychischen Verfassung und sogar mit der Tageszeit.
Da jeder Mensch anders ist, überrascht es kaum, dass wir auch verschieden anfällig für chronische Schmerzen sind. Eine Tatsache, die auch in der Diagnostik berücksichtigt werden sollte. Die Forschenden hoffen, spezifische Proteine als Schmerz-Biomarker zu finden, die chronische Schmerzen auf molekularer Ebene messbar machen. Damit ließe sich verhindern, dass die Leiden vieler Patient*innen als rein psychisch bedingt abgetan oder trivialisiert werden.
Biochemie ist nicht alles
Klar ist jedoch auch, dass selbst die innovativste und engagierteste Forschungsgruppe es nicht ganz allein mit chronischen Schmerzen aufnehmen kann. "Proteine sind nicht alles", sagt Schmidt. "So richtig spannend wird es, wenn man verschiedene Komplexitätsebenen zusammen betrachtet, von der Genregulation über das Proteom und den Hormonhaushalt bis zu Metaboliten. Wir arbeiten eng mit der Medizin zusammen, u.a. mit internationalen klinischen Schmerzexpert*innen, haben aber auch Anknüpfungspunkte mit pharmazeutischer Forschung, Mikrobiolog*innen und der Netzwerkmedizin an der Uni Wien."
Eine einzige Pille gegen chronische Schmerzen werde es auch in Zukunft nicht geben, betont Schmidt. "Schmerzen und der damit verbundene Leidensdruck sind nämlich keine rein biologischen Phänomene, sie entstehen aus einem komplexen Zusammenspiel von körperlichen, emotionalen und sozialen Einflüssen." So haben etwa chronische Rückenschmerzen nicht nur physische Ursachen, auch psychologische Faktoren wie Zufriedenheit am Arbeitsplatz scheinen eine Rolle zu spielen. Diese Vielschichtigkeit gilt es, in einer integrativen Schmerztherapie zu berücksichtigen, die auch für alle zugänglich sein sollte, so Schmidt. Damit Schmerzpatient*innen in Zukunft nicht nur effizienter behandelt werden – sondern auch gerechter.
Sie forschte und lehrte in Würzburg, Kalifornien und Göttingen, bevor sie 2020 an die Universität Wien kam. Sie ist Vizedekanin der Fakultät für Lebenswissenschaften.
Er patentierte mehrere Techniken, die personalisierte Gesundheitstests durch molekulare Signaturen wie Proteine, Metaboliten und RNA ermöglichen. Seit seinem Wechsel an die Universität Wien hat er sich auf die Entwicklung und Anwendung von Technologien zur Untersuchung des Darmmikrobioms und der Reaktionen des Wirts spezialisiert.
- Forschungsgruppe Systems Biology of Pain am Department für Pharmazeutische Wissenschaften
- Pressemeldung anlässlich der Eröffnung des Center of Excellence für Metaproteomics an der Universität Wien in Kollaboration mit Bruker
- Website von Manuela Schmidt
- Website von David Gómez Varela
- Mehr Infos zur Teilnahme von Manuela Schmidt am NASA STAR Programm
- Publikation des Systems Biology of Pain Lab: Taxonomic and functional characterization of host-microbiome interactions by metaproteomics
- Publikation des Systems Biology of Pain Lab: Ultra-sensitive metaproteomics