Anthocyane: Die Krebstherapie sieht Rot
Bei der Diagnose Darmkrebs wird häufig versucht, den Tumorzellen mit Chemotherapeutika zu Leibe zu rücken. Oftmals schädigen die eingesetzten Medikamente aber nicht nur die kranken Zellen, sondern auch das umliegende, gesunde Darmgewebe. Für die Patient*innen bedeutet das häufig Unwohlsein, Probleme bei der Nahrungsaufnahme oder Schmerzen – manchmal so stark, dass die lebensrettende Therapie unterbrochen werden muss.
"Eine intakte Barriere im Magen- und Darmbereich trennt Stoffe, die wir oral aufnehmen, von unserer Blutbahn. So ist unser Körper z.B. gegen unerwünschte Mikroorganismen geschützt. Wenn diese Barriere – etwa durch Chemotherapeutika – geschädigt wird, gelangen Stoffe ins Blut, die dort nicht hingehören, zumindest nicht in dieser Konzentration", erklärt Doris Marko von der Universität Wien.
Wachstum in Krebszellen hemmen
Die Lebensmittelchemikerin beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Darmkrebs und Lebensmitteln – bereits 1995, kurz nach ihrer Dissertation, entdeckte sie, dass die Naturfarbstoffe Anthocyane in ihrer Struktur bestimmten Chemotherapeutika ähneln und untersuchte sie auf ihre Wirksamkeit in der Krebstherapie. "In unseren Zellen wird in jeder Sekunde DNA abgelesen und damit Zellwachstum angeregt. Damit die Informationen aber überhaupt lesbar werden, braucht es gewisse Enzyme, welche die DNA-Stränge 'entpacken' und anschließend wieder kontrolliert 'verpacken'. Wir waren auf der Suche nach Stoffen, die diese Enzyme hemmen – und damit auch das Wachstum von kranken Zellen stoppen können", so Marko.
Mehr Risiken oder weniger Nebenwirkungen
Sie entdeckte jedoch, dass Anthocyane sich an die Enzyme binden, bevor diese ihren Job machen, während die Chemotherapeutika erst aktiv werden, wenn die Enzyme schon an der DNA hängen. Aufbauend auf dieser Erkenntnis untersucht sie nun in übergreifender Teamarbeit mit Kolleg*innen der Medizinischen Universität Wien, ob das frühe Andocken der Anthocyane die Nebenwirkungen der Chemotherapie lindert.
"Wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die Anthocyane selbst als Chemotherapeutika wenig geeignet sind. Wir gehen der Frage nach, ob sie aber genutzt werden können, um das nicht-befallene Gewebe während einer Chemotherapie zu unterstützen – häufig sind es ja die Nebenwirkungen, die der Therapie im Wege stehen", so Marko: "Wir sehen hier durchaus Potenzial. Aber zuerst gilt es auszuschließen, dass sich Anthocyane negativ auf die Therapie auswirken und vielleicht nicht nur das gesunde Gewebe, sondern auch den Tumor schützen."
Anthocyane in Nahrungsergänzungsmitteln
Anthocyane kommen in vielen roten Naturprodukten vor – in Brombeeren, Himbeeren, roten Äpfeln, in Herbstblättern, im Rotwein, in der Melanzani (nicht aber in der roten Rübe, dort ist ein anderer Farbstoff am Werk). Abseits von natürlichen Lebensmitteln wird auch bei Nahrungsergänzungsmitteln mit den roten Farbpigmenten als antioxidativer Wunderwaffe geworben. "Anthocyane in konzentrierter Form sind frei verkäuflich – wir wissen aber noch nicht hinreichend, welchen Effekt sie auf die Krebstherapien haben. Wir benötigen mehr Datenmaterial, um die Wirkung abschätzen zu können."
Bis dato kein grünes Licht für die roten Farbstoffe
Marko und ihr Team arbeiten auf Hochtouren, um zu einer verbesserten Datenlage beizutragen. Sobald sie ihre Versuche an Modellorganismen abgeschlossen haben, werden sie ihre Ergebnisse in wissenschaftlichen Publikationen, im Rahmen von Kooperationen mit Spitälern und Pflegeeinrichtungen und – wenn nötig – auch mit internationalen Kommissionen für Lebensmittelsicherheit teilen. "Insbesondere in einer Zeit, in der das weltweite Angebot an Nahrungsergänzungsmitteln immer unübersichtlicher wird, ist Forschung im Bereich Lebensmittelchemie extrem wichtig." Solange Marko und ihr Forscher*innenteam kein grünes Licht geben, sind die roten Farbpigmente in konzentrierter Form mit Bedacht zu genießen.
Das FWF-Projekt "Protektiver Nutzen von Anthocyanen während der Chemotherapie" unter der Leitung von Doris Marko läuft von Mai 2019 bis April 2023 und ist an der Fakultät für Chemie der Universität Wien angesiedelt.