Bioinspirierte Materialien

Wo die Natur der Wissenschaft neue Wege aufzeigt

7. November 2023 Gastbeitrag von Jia Min Chin
Auf der Suche nach Inspiration für die Entwicklung neuer Materialien lohnt der Blick in die Natur. In ihrem Gastbeitrag verrät die Materialchemikerin Jia Min Chin, welche Tricks Flora und Fauna für die Materialien der Zukunft bereithalten.
Der Rosenkäfer beeindruckt durch seinen goldgrün glänzenden Panzer. Die Farben entstehen nur durch die Oberflächenstruktur des Panzers, es sind keine Pigmente vorhanden. © iStock

Warum sind Käfer so farbenprächtig? Weshalb perlt Wasser von den Federn einer Ente oder von den Blättern des Frauenmantels ab? Vielleicht können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie als Kind Ihre Umwelt voller Staunen und Faszination erforscht haben. Was wir von der Natur und der Art und Weise, wie sie Materialien hervorbringt, lernen können – und wie wir dieses Wissen für die Materialien der Zukunft nutzen können –, beschäftigt Materialwissenschafter*innen weltweit.

Welche Geheimnisse bergen die Materialien aus der Natur?

Wohin wir auch blicken, jedes Objekt um uns herum besteht in irgendeiner Form aus Materialien. Das gilt so ziemlich für alles – unsere Kleidung, unser Mobiltelefon und die Solarpaneele auf unseren Dächern. Mit dem Bewusstsein, dass die Ressourcen unseres Planeten begrenzt sind, versuchen Materialwissenschafter*innen kontinuierlich, die Grenzen dessen auszuloten, was Materialien leisten können – um mit weniger Ressourcen mehr Leistung zu erzielen. Angesichts der steigenden Bevölkerungszahlen und des ständigen Strebens nach technologischem Fortschritt ist dieses Vorhaben umso bedeutender.

Von den Besten lernen

Auf der Suche nach Inspiration wenden wir uns vermehrt der größten Architektin im Bereich der Materialien zu: der Natur. Im Gegensatz zu uns Wissenschafterinnen und Wissenschaftern haben Lebewesen wie Schalentiere oder Pflanzen nicht den Luxus, bei der Herstellung ihrer Materialien auf eine breite Palette von chemischen Stoffen und Bausteinen zurückgreifen zu können. Vielmehr verfolgen sie eine Vielzahl genialer Strategien, die über die Jahrtausende der evolutionären Selektion hinweg perfektioniert wurden, und entwickeln so Materialien mit unglaublichen Eigenschaften.
 

Harte Schalen, farbenprächtige Käfer und wasserabweisende Blätter

Die Muschelschale ist ein gutes Beispiel dafür: Wer mit Kreide im Klassenzimmer groß geworden ist, weiß, wie brüchig diese ist. Muscheln bestehen wie Kreide überwiegend aus Kalk und sind dennoch unglaublich robust – die Muschelschale hält Angriffen von Raubtieren stand und schützt den empfindlichen inneren Weichtierkörper. Das Geheimnis steckt in ihrer Struktur. Vergrößerte Aufnahmen von Muscheln enthüllen die mikroskopisch kleinen Kreidepartikel. Sie werden von Proteinen wie von einem Klebstoff zusammengehalten. Die Partikel sind wie bei einer Ziegelwand versetzt angeordnet, sodass keine durchgehenden Risse entstehen. Nach einem ähnlichen Prinzip legen Maurer*innen die Ziegelsteine einer Wand niemals direkt übereinander, vielmehr werden die Ziegel versetzt gemauert, um die mechanische Stabilität der Mauer zu erhöhen.
 

Bild der Muschelschale einer Nautilus mit inneren Spiralen
Viele Weichtiere, wie z. B. die Nautilus, verdanken die Widerstandfähigkeit ihrer Schalen der besonderen Anordnung der Kalkkristalle. Wie die Ziegelsteine einer Mauer sind die Partikel versetzt angeordnet. Zusammengehalten werden sie durch eine Proteinmatrix, die wie ein Klebstoff wirkt. Auf dem Mikroskopbild rechts sind sogenannte metallorganische Gerüste (MOFs) in ähnlicher Weise angeordnet. Jia Min Chin und ihre Gruppe untersuchen MOFs als Mittel zum Aufbau neuartiger Materialien.

Der Goldglänzende Rosenkäfer (Cetonia aurata) ist nicht nur ein Hingucker im Garten, das Insekt ist ein weiteres Beispiel für außergewöhnliche Materialeigenschaften: Die Farbe der metallisch-smaragdgrünen Käfer entsteht nämlich nicht durch einen Farbstoff, sondern durch mikroskopische Strukturen, die mit Licht interagieren. Diese Strategie, die wir auch von Pfauen und Kolibris (und tatsächlich auch von Regenbögen) kennen, hat Wissenschafter*innen zur Entwicklung von ausbleichsicheren Beschichtungen oder Displays inspiriert, die auf Basis von Strukturen anstelle umweltschädlicher Chemikalien entwickelt werden.

Auch bei Enten ist ein interessantes Phänomen zu beobachte: Sie tauchen nach Nahrung, bleiben dabei aber vollkommen trocken – sobald sie wieder auftauchen, perlt das Wasser schlichtweg von ihrem Federkleid ab. Ähnliches können wir auf den Blättern des Frauenmantels beobachten, wenn wir sie mit Wasser besprenkeln. Das Geheimnis hinter den wasserabweisenden Blättern und Federn verbirgt sich in ihren mikroskopischen Strukturen, die Luft einschließen und Befeuchtung verhindern. Diese Strukturen inspirierten die Entwicklung selbstreinigender Fenster, wasserdichter Stoffe und beschlagungsfreier Scheiben.

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Neue Materialien gelten als Hoffnungsträger für die akuten Herausforderungen unserer Zeit, stellen uns aber auch vor neue Probleme. Ein Blick auf Werkstoffe, die uns geprägt haben, und solche, die noch kommen.

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Welche alltäglichen Objekte überraschen Sie und könnten Inspiration für neue Materialdesigns bieten? Auf DerStandard haben Sie die Möglichkeit, mitzudiskutieren, Fragen zu stellen und die Antworten der Chemikerin Jia Min Chin zu lesen. Hier geht's zum Beitrag und zum Standard-Forum!

Molekulares Design

Die Steuerung von Materialstrukturen ist für Wissenschafter*innen und Ingenieur*innen eine Herausforderung, insbesondere dadurch, dass sich jeder Fachbereich mit anderen Größenordnungen beschäftigt. Molekularchemiker*innen können den Aufbau von Molekülen steuern, während Bauingenieur*innen die Struktur von Gebäuden und Infrastruktur gestalten. Herausforderungen entstehen jedoch dort, wo es um die gleichzeitige Steuerung all dieser Größenordnungen und der Bereiche dazwischen geht.

Am Institut für Funktionelle Materialien und Katalyse der Fakultät für Chemie an der Universität Wien lassen wir uns für die Arbeit im Labor von der Natur inspirieren und versuchen, molekulare Materialien über mehrere Größenordnungen hinweg herzustellen. Wir verwenden molekulares Design, um Nano- und Mikrokristalle zu bauen, die wir mithilfe elektromagnetischer Felder neu anordnen und zusammensetzen können. Indem wir die Kristalle auf unterschiedliche Weise zusammenstellen, können wir ihre Eigenschaften verändern. Wir nutzen auch Fertigungstechniken wie den 3D-Druck, um Objekte zu erzeugen, die groß genug sind, um sie in der Hand zu halten.

Unser Ziel ist die Entwicklung von Materialien mit verbesserten Eigenschaften, was beispielsweise ihre Festigkeit oder elektrische Leitfähigkeit betrifft. Wir forschen auch daran, Oberflächen herzustellen, die nicht nur Wasser, sondern auch Öl und sogar Eis abweisen. Diese sind beispielsweise für Solarpaneele und Windkraftanlagen, aber auch für die Luftfahrt essenziell. Ein besonderes Anliegen ist uns die Entwicklung neuer und effizienterer Materialien für eine nachhaltige Zukunft.

Materialforschung nach dem Baukastenprinzip

In ihrem aktuellen ERC-Projekt beschäftigt Jia Min Chin die Frage, wie man die vielversprechenden, kaum steuerbare Kleinstteilchen (MOFs) mit Hilfe von elektromagnetischen Feldern gezielt manipulieren kann - mit dem Ziel diese metallorganischen Gerüste als Basisbausteine für hochfunktionelle Materialien einzusetzen.

Mehr dazu im Videobeitrag

© Michael Reithofer
© Michael Reithofer
Jia Min Chin ist Tenure-Track-Professorin am Institut für Funktionelle Materialien und Katalyse der Fakultät für Chemie. Sie erforscht die hochkomplexe Struktur von Materialien über verschiedene Größenmaßstäbe hinweg: von der Molekular-, Nano- und Mikroebene bis hin zur Makroebene.

Ihr Ziel ist die Entwicklung neuartiger Materialien, indem sie von Vorbildern aus der Natur lernt, mit einem Schwerpunkt auf nachhaltigen und Energieanwendungen. Sie ist fasziniert von der wundersamen Eigenschaften von Alltagsgegenständen und möchte ihre Studenten mit ihrer Begeisterung für die Entwicklung neuer Materialien anstecken.

  • Dieser Artikel erschien parallel in Der Standard im Rahmen der Kooperation zur Semesterfrage.