Die Universität Wien im Austrofaschismus
Rudolphina: Frau Erker, Sie sind Zeithistorikerin und arbeiten u.a. an Projekten zur Universitätsgeschichte und zur Wissenschaftsmigration. Basierend auf Ihrer Forschung haben Sie ganz aktuell "Die Universität Wien im Austrofaschismus" publiziert. Was ist für Sie so spannend am Zeitraum von 1933-1938?
Linda Erker: Über 80 Jahre nach dem Ende des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes liegen zwar zahlreiche Studien über dieses Herrschaftssystem und viele seiner Aspekte vor. Die Entwicklungen in der Wissenschaft und an den Universitäten zwischen 1933 und 1938 blieben bisher aber weitgehend unerforscht – vor allem im Vergleich zur NS-Zeit. Dazu gibt es Dutzende Studien, und dieser Einschnitt nach dem "Anschluss" im März 1938 war zweifellos noch schwerwiegender. Doch man hat lange unterschätzt, wie sehr die Universitäten und die Wissenschaft bereits durch den Austrofaschismus zurückgeworfen wurden. Im Zentrum des Buchs stehen die Wechselbeziehungen zwischen der austrofaschistischen Regierung und der Universität Wien mit ihren Funktionären, Lehrenden und Studierenden. Ich rekonstruierte dabei auf Basis intensiver Archivrecherche die Veränderungen an der größten Hochschule des Landes von 1933 bis 1938 und analysiere die Auswirkungen der ersten österreichischen Diktatur auf die Universität und ihre Akteure, Akteurinnen gab es kaum.
Rudolphina: Welche wesentlichen Einschnitte erfuhr die Universität Wien in dieser Zeitspanne vor dem 2. Weltkrieg?
Linda Erker: Für die Jahre von 1933 bis 1938 lassen sich für die Universität Wien drei verschiedene Etappen der Vereinnahmung unterscheiden: Die erste Phase begann mit der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 und dauerte bis zur Proklamation der Verfassung im Mai bzw. bis zum Juliputsch 1934. In diesen Monaten erhielt die Studierendenvertretung eine autoritäre Struktur und vom Ministerium eingesetzte Vertreter, sogenannte Sachwalter. Einer der Sachwalter dieser Hochschülerschaft Österreichs (also der Vorläuferorganisation der ÖH) war der spätere Kanzler Josef Klaus, ein anderer der spätere Unterrichtsminister Heinrich Drimmel (beide ÖVP). Zudem wurden die Maßnahmen sowohl gegen nationalsozialistische wie auch linke Studierende verschärft und die Zahl der Disziplinarverfahren wegen illegaler parteipolitischer Betätigung stieg von 1933 auf 1934 um das Dreifache – der akademische Boden sollte mit allen Mitteln politisch beruhigt werden. Darüber hinaus wurde neben Forschung und Lehre, die in ihrer Freiheit eingeschränkt wurden, vor allem die patriotische Erziehung der Jugend zur Aufgabe der Alma Mater Rudolphina. Dieser autoritäre und totale Erziehungsanspruch war nicht genuin "ständestaatlich", sondern hatte ein faschistisch inspiriertes Ziel. Vor allem kam es aus Einsparungsgründen wie auch aus Gründen der politischen "Säuberung" ab 1933/34 zu nachhaltigen Eingriffen in den Lehrkörper der Universität. Insgesamt wurden rund 25 Prozent der Professorenstellen gestrichen, das war einer der tiefsten Einschnitte in der langen Geschichte der Universität Wien. Die von der Hochschule selbst zur (Früh-)Pensionierung vorgeschlagenen Professoren waren dabei zu einem überproportional hohen Anteil jüdischer Herkunft. Die nationalsozialistischen Lehrenden, die die Uni Wien verlassen mussten, gingen ins Deutsche Reich und machten dort Karriere. 1941 wurden sie von den Nationalsozialisten an der Uni Wien dann mit dem Titel "Ehrensenator" ausgezeichnet.
Buchtipp zum Thema:
Rudolphina: Was waren die Hintergründe bzw. "Vorbedingungen" für diese Einschnitte?
Linda Erker: Mein Buch zeigt auf, wie sehr die Universität Wien bereits vor 1933 und 1938 eine Bastion der Nationalsozialisten und Antisemiten war. Psychische und physische Gewalt sowie rassistisch motivierter Antisemitismus prägten bereits seit den 1920er Jahren den Universitätsalltag der Studierenden. Unter ihnen dominierte ab den frühen 1930er Jahre längst die NS-Bewegung – unterstützt von vielen antisemitischen Professoren, die nach dem Ersten Weltkrieg die Universität beherrschten und Karrieren jüdischer und linker Forscherinnen und Forscher systematisch hintertrieben. Hier kooperierten christlichsoziale, deutschnationale und später nationalsozialistische Wissenschafter sehr erfolgreich miteinander.
Rudolphina: Was waren die langfristigen Nachwirkungen?
Linda Erker: Meine Arbeit behandelt ganz bewusst auch die Entwicklungen an der Universität Wien nach dem "Anschluss" 1938 sowie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, um die Brüche, aber auch die Kontinuitäten zum Austrofaschismus aufzuzeigen. So etwa konnten die Nationalsozialisten bei der rassistisch und politisch motivierten Entziehung von Lehrberechtigungen ab März 1938 auf Gesetze aus dem Austrofaschismus zurückgreifen. Mit Beginn der Zweiten Republik 1945 knüpfte dann insbesondere die universitäre Personalpolitik an die Jahre vor dem "Anschluss" an. Ehemalige Funktionäre des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes kehrten umgehend nach Kriegsende in die bildungspolitischen Schlüsselpositionen an der Universität, an der Akademie der Wissenschaften und im Unterrichtsministerium zurück. Deshalb kann man für die Universität Wien überspitzt von einer bis in die 1960er Jahre "verlängerten Zwischenkriegszeit" mit katholisch-autoritärem Anstrich sprechen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der erste Rektor der Uni Wien nach Kriegsende war Ludwig Adamovich, letzter Justizminister unter Kurt Schuschnigg. Dieser "lange Schatten des Austrofaschismus" trug nicht zuletzt dazu bei, dass die Geschichte der Universität Wien zwischen 1933 und 1938 so lange unerforscht blieb.
Rudolphina: Vielen Dank für das Interview!