Österreichs Geschichte abseits der gekrönten Häupter
Die erste Staffel von "Österreich – die ganze Geschichte" war mit über einer Million Zuschauer*innen ein großer Erfolg. Sie umspannte in zehn Folgen etwa den Zeitraum von der ersten Erwähnung Österreichs im Jahr 996 n.Chr. bis ins späte 18. Jahrhundert. Im Weihnachtsprogramm von 27. Dezember 2024 bis 3. Jänner 2025 läuft die Ausstrahlung der zweiten Staffel, die den Zeitraum bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges abdeckt.
Historiker*innen des wissenschaftlichen Beirats standen dem ORF-Team mit ihrer Expertise zur Seite, haben die Produktion inhaltlich begleitet und bereichern die Serie auch als Interviewpartner*innen. Rudolphina sprach mit Christina Lutter, Professorin für österreichische Geschichte und derzeit Dekanin der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät, über den historischen Ansatz "von unten", das Ringen um Seriosität und schlussendlich eine Erfolgsgeschichte.
Rudolphina: Frau Lutter, Sie sind eine der führenden Expert*innen im ORF Mammutprojekt "Österreich – die ganze Geschichte". Wie ist die Zusammenarbeit überhaupt zustande gekommen?
Christina Lutter: Der ORF ist mit der Bitte dieses Projekt zu beraten Anfang 2023 an eine Reihe von Historiker*innen herangetreten, daraus hat sich zunächst eher informell ein Beirat konstituiert. Das Konzept für die Reihe wurde vom ORF III-Team erarbeitet, der wissenschaftliche Beirat hatte eine rein beratende Rolle.
Ein besonderer Zufall war Folge drei in Staffel eins "Die Meisterdiebin", wo es um einen kühnen Diebstahl der ungarischen Krone durch die Kammerfrau Helene Kottannerin geht – genau zu jenem Zeitpunkt habe ich mit einer Kollegin ein Buch über diese Frau geschrieben. Der ORF hat die Geschichte von sich aus als Thema gefunden ohne zunächst Kenntnis von der Entstehung des Buches zu haben. Die Folge ist wirklich sehr gut geworden, sicher auch weil hier aktuelle Forschungsergebnisse in Form des druckfertigen Manuskripts aus erster Hand genutzt werden konnten.
Rudolphina: Was sagen Sie als Historikerin zum Grundkonzept der Reihe, die Geschichte "von unten", also durch das Alltagsleben der Menschen heraus zu erzählen?
Christina Lutter: Das Grundkonzept finde ich sehr gut. Dass nicht die klassische Geschichte der gekrönten Häupter erzählt wird, sondern durch Alltagsgeschichten das Leben zahlreicher anderer Personen nachvollziehbar wird. Es wurde versucht, die Geschichten kleinere Akteur*innen aufzufinden, diese sichtbar zu machen und aus deren Perspektive größere historische Zusammenhänge zu erzählen. Das ist ein guter Ansatz, in dem man auch geschlechtergeschichtliche, umweltgeschichtliche, sozial- und alltagsgeschichtliche Perspektiven wirklich in den Vordergrund geholt hat.
Die klassische "männliche" Herrschergeschichte von großen Schlachten, Kriegen und Ereignissen existiert noch in vielen populären Erzählweisen, aber dominiert schon lange nicht mehr die Wissenschaft selbst.Christina Lutter
Rudolphina: Die Ansprüche von Medien und Wissenschaft decken sich ja nicht immer gänzlich. Wie haben Sie das erlebt?
Christina Lutter: Die Zusammenarbeit war gerade in der ersten Staffel herausfordernd, vor allem was den Zeitdruck und die Kommunikation anbelangte. In der zweiten Staffel konnte auf dieser Arbeit aufgebaut werden, wir Wissenschafter*innen wurden früher einbezogen, Konzepte wurden frühzeitig gemeinsam diskutiert und Korrekturen konnten dadurch zeitgerecht eingearbeitet werden.
Das Grundproblem war anfangs, dass viele Medienmacher*innen glauben, Wissenschaft mache die Dinge kompliziert. Aber gerade das Beispiel der Meisterdiebin Helene Kottannerin zeigt gut, dass sich die Zugänge der historischen Wissenschaft in den letzten 20 bis 30 Jahren teils sehr gut mit den Vorstellungen des Medienteams trafen: Geschichten von unten und von Ambivalenzen, Geschichten von Leuten, die spannende Dinge erleben, die man auch gut erzählen kann. Die klassische "männliche" Herrschergeschichte von großen Schlachten, Kriegen und Ereignissen existiert noch in vielen populären Erzählweisen, aber dominiert schon lange nicht mehr die Wissenschaft selbst.
Rudolphina: Wie können wir uns die Zusammenarbeit mit dem ORF-Team konkret vorstellen?
Christina Lutter: Die inhaltlichen Vorgaben kamen von der Redaktion, die Drehbuchteams haben diese dann ausgearbeitet und mit uns und der Redaktion Rücksprache gehalten. Dann haben wir uns zusammengesetzt und sind unsere Korrekturen und Vorschläge durchgegangen. Insgesamt war die Tendenz zu beobachten, die Dinge zunächst etwas zu plakativ zu erzählen. Zum Beispiel das rechtelose Mittelalter, wo Frauen immer und überall Männern unterworfen gewesen seien. Das stimmt so einfach nicht, hier muss man differenzieren. Oder die Vorstellung allzu getrennter Arbeitssphären von Männern und Frauen, etwa, dass Frauen nicht am Feld gearbeitet hätten. Solche Klischees haben wir in der Darstellung auch korrigiert.
Ich würde sagen, es war ein gemeinsames Ringen um wissenschaftliche Faktentreue, Differenzierung und Seriosität mit dem Anspruch, eine für unterschiedliche Zielgruppen attraktive Sendung zu produzieren. Zum Produkt der ersten Staffel können wir als Wissenschafter*innen letztlich gut stehen.
Es war ein gemeinsames Ringen um wissenschaftliche Faktentreue, Differenzierung und Seriosität mit dem Anspruch, eine für unterschiedliche Zielgruppen attraktive Sendung zu produzieren.Christina Lutter
Rudolphina: Welche Korrektur kam beispielsweise von Seiten der Wissenschaft?
Christina Lutter: Das ORF-Team hat wirklich breit recherchiert, da gab es nur manchmal bei faktenbasierten Grundlagen etwas Sand im Getriebe. Gerade die Recherchen von Kostümen waren zum Beispiel sehr gut. Manche "Fehler" haben sich dann auch recht leicht ausräumen lassen, wie zum Beispiel, wenn im falschen Jahrhundert eine Kutsche ins Bild fährt, die es in dieser Form erst im späten 18. Jahrhundert gegeben hat.
Rudolphina: Ist auch etwas "durchgerutscht"?
Christina Lutter: Ja, in wenigen Fällen – oft waren es Kleinigkeiten – war das Material bereits abgedreht, bevor es uns gezeigt wurde. Manches konnte gut neu geschnitten werden, aber eben nicht alles. Wie zum Beispiel die berühmte Schlacht bei Dürnkrut zwischen Rudolf I von Habsburg und Ottokar II. Přemysl von Böhmen 1278; Rudolf war damals bereits 60, aber in der Nachstellung der Schlacht wird er als junger Mann gezeigt. Hätten wir de Szene früher gesehen, wäre sie leicht mit einem älteren Darsteller zu korrigieren gewesen.
Die Kommunikation hat in der Produktion von Staffel 2 viel besser funktioniert: Wir konnten bereits seit Sommer 2024 alle Drehbücher mehrfach durchlesen und korrigieren und bekommen rechtzeitig die Termine für die Vorlage des Filmmaterials.
ORF-Podcast zur Dokureihe "Österreich – die ganze Geschichte"
Der Podcast zur großen History-Dokureihe von ORF III begleitet vertiefend die Serie. Historiker*innen – auch Christina Lutter ist als Expertin in vier Folgen zu hören – stehen Mariella Gittler Rede und Antwort über gegenwartsrelevante Themenkomplexe wie "Klima und Umwelt", "Gesellschaft und Frauen", "Ernährung und Gesundheit", "Migration und Minderheiten" oder "Demokratie und Menschenrechte". Zum Podcast
Rudolphina: Wie Sie eingangs erwähnt haben, waren Sie als Historikerin beratend und korrigierend tätig. Nun würde mich doch interessieren, ob und was Sie vielleicht da und dort erzählerisch anders gemacht hätten?
Christina Lutter: Was meiner Meinung nach etwas zu kurz kommt, ist die Einbettung in die jeweils größeren historischen Kontexte, also eine Rahmenerzählung, in die sich die Zuseher*innen auch mit ihrem Wissen hineindenken können. Sehr gut ist das zum Beispiel in der letzten Folge der ersten Staffel "Am Schafott der Freiheit" gelungen, wo der Revolutionsgedanke und die Aufklärung im Vordergrund stehen, aber auch Maria Theresia und ihr Sohn Joseph II im Hinblick auf das Reformgeschehen thematisiert werden. So lassen sich die erzählten Geschehnisse besser zeitlich einordnen.
Natürlich sollen hier die bereits bekannten Personen – pointiert "Sisi und Franz" – gerade nicht im Vordergrund stehen, aber man kann sie ja nicht einfach komplett auslassen. Ein vertrauter Referenzrahmen lässt neue Geschichten von unten sogar noch viel stärker wirksam werden.
Es wurde versucht, innerhalb der bekannten Geschichtsnarrative kleinere Akteur*innen sichtbar zu machen und aus deren Perspektive heraus größeres historisches Geschehen zu erzählen. Das ist ein guter Ansatz.Christina Lutter
Rudolphina: Was ist Ihrer Meinung nach besonders gut gelungen?
Christina Lutter: Generell finde ich die Auswahl der Locations für die Re-Enactments, die Nachstellungen der historischen Szenen, sehr stimmig. Besonders die Drohnenaufnahmen setzen die Landschaften sehr eindrucksvoll in Szene. Persönlich gefällt mir die Folge zum frühneuzeitlichen Höhepunkt der kleinen Eiszeit "Geiseln der Kälte" sehr gut. Die Rekonstruktion der Lebensbedingungen einer bäuerlichen Familie zu jener Zeit ist wirklich gelungen. Eine solche Familie ist zwar selten eins zu eins in den Quellen belegt, aber man kann ihr Leben aus vielen unterschiedlichen Dokumenten zu jener Zeit zusammensetzen.
Insgesamt bin ich mit dem Ergebnis sehr zufrieden und ich denke, die Fakultät und die Universität können stolz darauf sein.
Rudolphina: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Im Jahr 2027 wird sie den Distinguished Visiting Austrian Chair an der Stanford University innehaben. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. mittelalterliche und frühneuzeitliche Kultur- und Geschlechtergeschichte, insbesondere religiöse Reformbewegungen im hoch- und spätmittelalterlichen Europa sowie Verflechtung mittelalterlicher klösterlicher, städtischer und höfischer Kulturen.