Wolfgang Mueller über den Krieg in der Ukraine

"Eine der größten Invasionen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg"

25. Februar 2022 Gastbeitrag von Redaktion Rudolphina
Russland setzt seinen Angriffskrieg auf die Ukraine fort. Der Osteuropahistoriker Wolfgang Mueller von der Universität Wien zu den Hintergründen.
"Putin geht es offenbar um äußeres Großmachtstreben und die innere Absicherung seines Systems", so der Ostereuropahistoriker Wolfgang Müller. © Katie Godowski / Pexels

Rudolphina: Russland startete letzte Woche mit einem Angriff auf die Ukraine – wie schätzen Sie als Osteuropaexperte diese Militäraktion ein?

Wolfgang Mueller: Beim nicht provozierten Angriffskrieg der offiziellen Streitkräfte Russlands gegen die Ukraine handelt sich um eine der größten Invasionen auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Als Ziele hat Präsident Putin die völlige Entwaffnung der Ukraine genannt und den Sturz ihrer demokratisch gewählten Regierung angedeutet. Die zahlenmäßig unterlegenen ukrainischen Streitkräfte leisten gegenüber dem Aggressor starken Widerstand und die Kämpfe sind sehr schwer. Es sind bereits hunderte Tote zu beklagen, selbst Kinder sind unter den Opfern. Zivile Wohngebiete wurden mit Raketen beschossen und stellenweise schwer beschädigt. In den sozialen Netzwerken gibt es Hinweise auf mögliche Kriegsverbrechen an ukrainischen Zivilisten und Wehrpflichtigen. Präsident Putin droht mit Atomwaffen. Das ist ein Krieg.

Rudolphina: Der Konflikt schwelt ja schon länger – warum setzt Putin gerade jetzt seine Drohungen in die Tat um?

Mueller: Russische Experten vermuten, dass die Entwicklung auf den Finanzmärkten eine Rolle bei der Wahl des Zeitpunktes gespielt haben könnte. Feststeht, dass Präsident Putin bereits 2018, dann im Frühling 2021 mobilisiert und seither immer schärfere Ultimaten verlautbart hat. Ferner ist klar, dass die westlichen Beschwichtigungsversuche ihren Zweck verfehlt haben und in Moskau eher als Zeichen westlicher Machtlosigkeit interpretiert wurden. Das betrifft besonders die Aussage, der Ukraine nicht mit Soldaten beizustehen, aber auch die lange Weigerung Deutschlands, der Ukraine Selbstverteidigungswaffen zu schicken. Damit wollten westliche Staaten Russland von einer Invasion abhalten, haben aber offenbar das Gegenteil bewirkt.

Rudolphina: Inwieweit spielen bei dem Konflikt die Rohstoffe im Osten der Ukraine eine Rolle? Oder geht es hier nur um Russlands "Großmachtdenken"?

Mueller: Russland ist eines der rohstoffreichsten Länder der Erde. Es bedarf der ukrainischen Kohlevorkommen oder Agrarproduktion nicht. Es geht offenbar um äußeres Großmachtstreben und innere Absicherung des Systems Putin.

Rudolphina: Kann es jetzt noch diplomatische Lösungen geben? Welche Schritte kann die EU – oder die USA bzw. die Nato – tatsächlich setzen?

Mueller: Die Waffenstillstandsverhandlungen geben eine kleine Hoffnung. EU und NATO haben lange verabsäumt, die nötigen Schritte für eine effektive Abschreckung der Ukraine zu setzen. Jetzt üben sie vor allem politischen und wirtschaftlichen Druck auf Russland aus, um die Invasion zu stoppen. Ferner werden Finanzhilfe und Waffenlieferungen geleistet. Zu weiteren diskutierten Maßnahmen zählen die von der Ukraine geforderte Flugverbotszone und die Aufnahme der Ukraine in die EU. Auch die Ankündigung skandinavischer Staaten, näher an die NATO zu rücken, erhöht den Druck in Richtung einer friedlichen Beilegung des Konflikts. Aber auch die Türkei kann mittels Sperre der Meerengen eingreifen.

Rudolphina: Wie legitimiert Putin seine Militäraktion innenpolitisch?

Mueller: Laut offizieller Darstellung des Kreml handle es sich um eine "begrenzte Spezialoperation " zum Schutz der DNR (Donezker Volksrepublik) und LNR (Lugansker Volksrepublik). Dies wird mit der Behauptung begründet, dass in der Ukraine eine "Junta aus Drogensüchtigen und Neonazis " an der Macht sei, die einen "Genozid " an der Bevölkerung verübe. Das sind, wie leicht erkennbar, funktionale, aus der Luft gegriffene Argumente. Der ukrainische Präsident ist demokratisch gewählt, politisch proeuropäisch und moderat, und selbst jüdischer Abstammung. Ein Genozid in der Ukraine fand in der Sowjetunion auf Befehl Josef Stalins statt, aber nicht unter der derzeitigen Regierung. Die Ukraine ist keine Marionette des Westens, sondern hat sich mehrheitlich selbst für ihre Westorientierung entschieden. Dennoch spricht Präsident Putin der Ukraine ab, ein unabhängiger Staat zu sein.

Rudolphina: Wie ist die Stimmung in der Ukraine? Viele Ukrainer sehen sich als Russen – wollen sie zu Russland "zurück"?

Mueller: 85 Prozent sehen sich als Ukrainer; manche als russischsprachige Ukrainer. Über 70 Prozent sind stolz auf ihr Land, 54 Prozent wollen der EU beitreten, 48 Prozent der NATO. Nur 24 Prozent sind dagegen und zwölf Prozent für einen Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion mit Russland. Sich Russland anzuschließen, ist kaum eine Option.

Rudolphina: Putin begründet seine Aggression mit dem Argument, die Ukraine habe keine Tradition der Eigenstaatlichkeit. Was sagen Sie als Historiker dazu?

Mueller: Die eigenstaatliche Tradition der Ukraine ist weniger kontinuierlich als jene des modernen Russlands. Aber das heißt nicht, dass sie nicht existiert – im Gegenteil. Die älteste Staatlichkeit auf dem Boden des heutigen Russlands und der Ukraine hatte ihr Zentrum in Kiew. Die Stadt war bereits eine europäische Großstadt, als Moskau gerade erst gegründet wurde. Das Reich der Kiewer Rus bestand vom 9. bis 13. Jahrhundert. Nach Zerstörung des Kiewer Reiches durch die Mongolen geriet der Raum unter wechselnde Herrschaft: der Südosten unter jene mongolisch-tatarischer Staatsgebilde, der Westen für drei Jahrhunderte unter polnisch-litauische, was ihm eine vom Moskauer Staat distinkte Kultur verlieh, die wesentlich stärker nach Westen ausgerichtet ist. In der frühen Neuzeit schlossen sich im Grenzraum Russlands, Polens und der Tatarengebiete mehrheitlich ostslawische Flüchtlinge als freie Kosaken zusammen, die eine eigene Identität und unabhängige politische Organisation entwickelten. Vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg war der Raum hauptsächlich zwischen der Habsburgermonarchie und Russland aufgeteilt. Nach deren Zerfall entstanden hier zwei Staaten: die Ukrainische und die Westukrainische Volksrepublik. Das Gebiet der ersten wurde später von der Roten Armee erobert und 1922 als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik in die Sowjetunion einverleibt. In der Sowjetunion wurde die ukrainische Identität wechselweise gefördert und unterdrückt. Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion 1991 erklärte sich die seit dem Zweiten Weltkrieg um ihre westlichen Teile sowie Krim vergrößerte Ukraine aufgrund des überwältigenden Volkswillens für unabhängig. Trotz der Diskontinuität eigenstaatlicher Tradition der Ukraine ist ihre Eigenständigkeit und distinkte Identität klar erkennbar und spiegelt sich auch in Meinungsumfragen in der Bevölkerung wider.

© Barbara Mair
© Barbara Mair
Wolfgang Mueller ist Professor für Russische Geschichte an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und stellvertretender Leiter des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er forscht unter anderem zur sowjetischen Geschichte, dem Kalten Krieg, der Diplomatiegeschichte sowie der Geschichte des Politischen Denkens in Russland.