Nachgefragt mit Philipp Ther
Was wird aus der Ukraine?
26. April 2022
Osteuropahistoriker Philipp Ther (Universität Wien) und Außenpolitikredakteur Gerald Schubert (Der Standard) über den bisherigen Verlauf des Kriegs gegen die Ukraine und was das für die Zukunft Europas bedeutet. Jetzt nachschauen!
"Nachgefragt" vom 27.4. zum Nachschauen
Fotografische Eindrücke der Diskussionsveranstaltung
Der Krieg in der Ukraine findet nicht erst seit zwei Monaten statt, erklärt Philipp Ther bei Nachgefragt: "Bereits 2014 gab es auf der Krim und in der Ostukraine 1,5 Millionen Binnenvertriebene, die nicht von Putin regiert werden wollten. Im Wesentlichen sind die Separatisten ein nihilistisches Mafiaregime. Das Leben dort war schlechter als auf ukrainischem Staatsgebiet." Aus dieser Problemlage entwickelte sich Widerstand und Patriotismus: Auch russischsprachige Menschen verstanden sich immer mehr als Ukrainer*innen. "Städte wie Charkiw wurden schon damals von Putins Armee überlaufen und die Situation ist gekippt. Bereits zu dieser Zeit hat es sich Putin mit der Ukraine verscherzt." © derknopfdruecker.com
Auch das Wahlverhalten Russlands ist bei Nachgefragt Thema. Osteuropahistoriker Philipp Ther sagt über die viel diskutierte "Ost-West-Spaltung": "Innerhalb von Nationalstaaten wird oft unterschiedlich gewählt – sehen wir uns nur Deutschland oder auch Österreich an. Ich fand so eine bipolare Einordnung immer schon übertrieben – jetzt im Krieg stellt sie sich eindeutig als falsch heraus." © derknopfdruecker.com
Aus dem Publikum kamen auch einige Fragen. Eine lautete, wie die Rückkehr zum Zustand vor dem Krieg möglich sei – vor allem was die Energiefrage betrifft? Philipp Ther: "Nordstream 2 hätte nach der Annexion der Krim nie gebaut werden dürfen – das war ein strategisches Desaster. Österreich ist derzeit zu 80% von russischem Gas abhängig – selbst gewählt. Ich hätte mir deswegen schon längst einen Energiesparplan mit konkreten Maßnahmen erwartet – wie beispielsweise Tempolimits auf Autobahnen." © derknopfdruecker.com
Auf die Frage aus dem Publikum, wie der Krieg enden und die Beziehungen zu Russland gestaltet werden könnten, antwortet der Osteuropahistoriker: "Wie es weitergeht, ist sehr schwer abschätzbar, weil es unter anderem verschiedene russische Kriegsziele gibt, die zwar nicht mehr realistisch sind, aber vielleicht trotzdem weiterverfolgt werden. Ein Diktator kann darauf bauen, dass er in fünf oder zehn Jahren immer noch im Amt ist. Trotz Waffenstillstand oder ähnlichem können die Kriegsziele später immer noch verfolgt werden." Jedenfalls solle man bei solchen Analysen inklusiv denken, sagt Ther: "Ich spreche ein bisschen ungern darüber, weil die Ukraine selbst entscheiden muss, wie es weitergeht – von außen zu viel reinzureden, kann falsche Signale senden." © derknopfdruecker.com
Nachgefragt: Jetzt mehr wissen!
Mit NACHGEFRAGT liefert die Universität Wien wissenschaftsbasierte Antworten auf drängende Fragen unserer Gesellschaft. Die Gespräche werden in Kooperation mit APA Science angeboten, um ein breites, an wissenschaftlichen Themen interessiertes Publikum anzusprechen.
© derknopdruecker.com
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Philipp Ther ist seit 2010 Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien und leitet hier das Research Cluster for the History of Transformation (RECET). Er forscht zur Geschichte der Transformation seit den 1980er Jahren, sowie zur Sozial- und Kulturgeschichte Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert insgesamt.
2019 erhielt Ther die höchstdotierte wissenschaftliche Auszeichnung Österreichs, den Wittgenstein-Preis, für sein Projekt "Die Große Transformation. Eine vergleichende Sozialgeschichte globaler Umbrüche".