"Gendergerechtigkeit braucht mehr Ressourcen"
Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, Religion oder sexuellen Ausrichtung ist per Gesetz verboten. Die Europäische Menschenrechtskonvention, der Vertrag über die Europäische Union und die österreichische Verfassung sind deutlich: Jeder Mensch ist vor dem Gesetz gleich. Dennoch erfahren Angehörige verschiedener Personengruppen Diskriminierung im Alltag, denn im realen Leben kommt gleiches Recht nicht überall an.
Elisabeth Holzleithner ist Professorin für Rechtsphilosophie und Legal Gender Studies an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Sie leitet die fakultätsübergreifende Forschungsplattform Gender: Ambivalent In_Visibilities – kurz GAIN. Die Mitglieder von GAIN wollen herausfinden, inwiefern Sichtbarkeit von Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit Gleichstellung vorantreiben kann. Denn vor allem Menschen, die sichtbar benachteiligten Gruppen angehören, erfahren oft Diskriminierung und Gewalt.
Gendergerechtigkeit: Ist Geschlecht Performance?
"Wir nehmen einander oft als Personen wahr, die ein Geschlecht verkörpern oder dieses performen. Das funktioniert über verschiedene Lesarten, etwa in der Art und Weise, wie wir Gesichter und Körper in ihren Bewegungen wahrnehmen", erklärt die Leiterin des Instituts für Rechtsphilosophie. "Das alles macht Geschlecht zu einem besonders sichtbaren Faktor. Wir lesen einander auf das Geschlecht hin." Diese Sichtbarkeit von Geschlecht ist aber oft mit klischeebehafteten Vorstellungen verbunden und führt auch zu Diskriminierung.
Deshalb sind zentrale Fragen der Forschungsplattform GAIN: Wann haben Menschen aufgrund der Darstellung ihres Geschlechtes mit Diskriminierung zu kämpfen? Und: Haben es Menschen, die dem Mainstream entsprechend performen, tatsächlich leichter? Dass eine Mainstream-Performance nicht immer gute Lebenschancen garantiert, zeigt beispielsweise die Personengruppe heterosexuelle Frauen.
Sie wollen mehr über GAIN erfahren?
Das interdisziplinäre Forschungsprojekt "GAIN – Gender: Ambivalent In_Visibilities" unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Elisabeth Holzleithner ist am Institut für Rechtsphilosophie angesiedelt. Stellvertretende Sprecherinnen sind Sylvia Mieszkowski vom Institut für Anglistik und Birgit Sauer vom Institut für Politikwissenschaft. Beteiligt sind sechs Fakultäten – von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät bis zur Katholisch-Theologischen Fakultät. GAIN wurde im Mai 2020 an der Universität Wien eingerichtet und wird bis Ende 2025 aktiv sein.
Sie wollen mehr über GAIN erfahren? Kontaktieren Sie Elisabeth Holzleithner und ihr Team persönlich: office.gain[at]univie.ac.at.
Sichtbarkeit von Frauen: Keine Garantie für gute Lebenschancen
Auch und gerade heterosexuelle Frauen werden häufig Opfer sexueller Übergriffe. "Gerade im öffentlichen Raum, aber auch in den sozialen Netzwerken sind Frauen gefährdet“, sagt Holzleithner. "Wir von GAIN wollen mit unserer Forschung die ambivalenten Dimensionen der vergeschlechtlichten Sichtbarkeit untersuchen und dieses Wissen im Zuge der Third Mission in die Gesellschaft hineintragen. Wir hoffen, damit auch einen Beitrag zu Emanzipation unter anderem durch Empowerment zu leisten", erklärt die Leiterin der Forschungsplattform.
Ein weiteres Problemfeld, das GAIN untersucht, ist die Ambivalenz zwischen Sichtbarkeit und politischer Handlungsfähigkeit. Frauen, die aus religiösen Gründen Kopftuch tragen, sind sehr sichtbar, haben jedoch oft mit Ressentiments zu kämpfen. Auch für Menschen aus der LGBTIQ* Szene ist die Sichtbarwerdung im Zuge ihres Coming-Out häufig mit Diskriminierung und Gewalt verbunden.
Elisabeth Holzleithner zur aktuellen Semesterfrage
"Wir legen heute darauf Wert, sexuelle Orientierung und Geschlecht in vielfältigen Varianten ohne Zwang, Manipulation oder Übergriffe entfalten zu können. Dass wir in einem offenen Raum sind, wo wir uns selbst gemeinsam mit anderen finden und neu erfinden können. Inwieweit diese Perspektive gesamtgesellschaftlich angekommen ist, ist allerdings fraglich, denn das Thema polarisiert weiterhin.
Obwohl es Ressentiments seitens ethno-nationalistischer Bewegungen immer noch gibt, habe ich aber doch den Eindruck, dass die Räume für die individuelle Entfaltung größer geworden sind und man eher dazu bereit ist, anderen Menschen gegenüber tolerant und auch anerkennend zu sein. Ein Ziel wird sein, diesen Wert noch 'schmackhafter' zu machen."
Gendergerechtigkeit: Wer sind die treibenden Kräfte?
Auch wenn es noch einiges zu tun gibt, fällt eine erste Bilanz zur Rechtslage vorsichtig positiv aus: "Wenn man mich vor zehn Jahren um eine Prognose gebeten hätte, hätte ich eine so erstaunliche Entwicklung nicht vorherzusagen gewagt", sagt die Juristin und spielt damit auf die Öffnung der Geschlechterkategorie für Intergeschlechtliche an.
Dazu müsse gesagt werden, dass das Vorantreiben von Gleichstellung im Gesetz nicht von der Politik selbst kam. "Wesentliche innovative Impulse sind oft vom Verfassungsgerichtshof ausgegangen, der mit Klagen wegen der Verletzung des Rechts auf Gleichheit vor dem Gesetz konfrontiert war, und nicht vom Gesetzgeber", stellt die Leiterin des Instituts für Rechtsphilosophie klar. "Zudem wurde der Druck auf die Gesetzgebung durch eine neue Generation von Jurist*innen, Mediziner*innen und Aktivist*innen erhöht."
Gewaltschutz ohne Ressourcen ist nichts wert
Das Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts, der ethnischen Herkunft oder der sexuellen Orientierung ist noch kein Garant für bedingungslose Anerkennung im Alltag. "Ein Beispiel: Es gibt mittlerweile eine solide Judikatur, dass Diskriminierung am Arbeitsmarkt aufgrund eines Kopftuchs nicht erlaubt ist", veranschaulicht Holzleithner. Trotzdem erleiden Frauen, die aus religiösen Motiven Kopftuch tragen, oft Nachteile. "Das ist ein Fall intersektionaler Diskriminierung, die sich aus dem Zusammenwirken mehrerer Diskriminierungsgründe ergibt: in diesem Fall das Geschlecht, die ethnische Herkunft (Stichwort: kultureller Rassismus) und die Religion." Faktische Benachteiligungen sind also trotz rechtlicher Verbote ein reales Problem.
Um eine partizipative Demokratie leben zu können, müssen zivile Organisationen und Institutionen nicht nur in die Gesetzgebung miteingebunden werden. Bei der Ausarbeitung des letzten Gewaltschutzpaketes wurden Betroffene und Aktivist*innen in den Prozess miteinbezogen. Im nächsten Schritt müssen die zuständigen Behörden und zivilgesellschaftliche Gewaltschutzeinrichtungen funktionieren, und dafür braucht es finanzielle Mittel“, sagt die GAIN-Leiterin und fasst zusammen: "Ein Gewaltschutzpaket ohne Ressourcen ist nichts wert!"
Gleichstellung von Geschlecht: Wo bleibt die Umsetzung?
Damit eine Person ihre Rechte einfordern kann, müssen Informationen gut zugänglich sein. Elisabeth Holzleithner: "Wie erreiche ich die Menschen, die ich mit dem Recht schützen will? Eines meiner Lieblings-Negativbeispiele war eine lieblos zusammengeschusterte Broschüre gegen Gewalt an Frauen, die Anfang der 2000er-Jahre vom Bund veröffentlicht wurde. Das Info-Material wurde auf Deutsch, Englisch und Französisch publiziert. Was ist mit Türkisch, Farsi oder Serbokroatisch? Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass Österreich ein vielsprachiges Zuwanderungsland ist."
Neben Schulungen für Richter*innen, Anwält*innen und Co brauche es auch niederschwellige Stellen, wo Beschwerden über Diskriminierung und Gewalt Gehör finden. Auch der richtige Kanal kann oft ausschlaggebend dafür sein, wie Bewusstsein für die eigenen Rechte geschaffen wird. So können beispielsweise Supermärkte oder öffentliche Toiletten geeignete Plätze für Infomaterial gegen Gewalt sein. (lk)