Hochwasserkatastrophe in Österreich

"Extreme werden extremer"

17. September 2024 von Redaktion (Rudolphina)
Auch wenn der aktuelle Wetterumschwung aufatmen lässt: In den Höhenlagen erhöht sich nun die Gefahr für Rutschungen, Erdströme und Muren. Thomas Glade vom Institut für Geographie und Regionalforschung erklärt, was die akuten Gefahren sind und warum es wichtig ist, dass sich Politik und Wissenschaft zum Thema Katastrophenschutz austauschen. 
Ungewohnter Anblick eines reißenden Wien-Flusses: "Naturgefahren treten massiver auf als jemals erfahren, sie können an neuen Stellen auftreten, an denen man sie noch nie erlebt hat", sagt Geomorphologe und Risikoforscher Thomas Glade. Kommende Woche hostet seine Arbeitsgruppe ein Treffen von Vertreter*innen aus über 30 europäischen Ländern, die sich zu den neuesten Erkenntnissen im Bereich Katastrophenrisikomanagement und -politik fortbilden. © C.Stadler/Bwag

Rudolphina: Wie schlägt sich Österreich im Management der aktuellen Hochwasserkatastrophe?

Thomas Glade: Sehr gut, soweit ich das beurteilen kann. Man war vorher gewarnt und konnte sich auf die Extremniederschläge einstellen. Auch die aktuellen individuellen Gefahrenlagen werden durch den unermüdlichen und professionellen Einsatz der Beteiligten sehr gut behandelt.

Rudolphina: Noch stecken wir aber mitten in der Katastrophe: Was sind die akuten Gefahren, was werden längerfristige Konsequenzen sein?

Thomas Glade: Grundlegend steht der Schutz der Menschenleben im Vordergrund aller Bemühungen. Soweit man das momentan beurteilen kann, laufen die Rettungsaktionen sehr professionell ab. Die größte akute Gefahr stellen die erneuten Niederschläge seit Montag dar: Die Böden sind großteils komplett wassergesättigt, können also nur noch sehr begrenzt neuen Niederschlag aufnehmen. D.h. dieser wird als Oberflächenabfluss direkt in die Gerinne und Flüsse gelangen. Weiterhin werden die Flusssysteme mit einem Einzugsgebiet, in dem Schnee gefallen ist, mit weiteren Hochwassern rechnen müssen. Zusätzlich sind viele Deiche aufgeweicht und an einigen Stellen sind Dammbrüche zu befürchten. Entsprechendes Monitoring findet aber statt.

Die längerfristigen Konsequenzen werden sehr umfassend sein. Zuerst muss die Sicherheit der Bevölkerung aufrechterhalten werden. Dann müssen die Schäden begutachtet und analysiert werden, um auf dieser Basis kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen entwickeln und festlegen zu können. Grundlegend muss auch evaluiert werden, wie die Präventionsmaßnahmen und technischen Schutzbauten gewirkt haben, wie man sie verbessern kann – und wo zukünftig welche Ressourcen zu investieren sind.

Rudolphina: Mit Ihrer Forschungsgruppe ENGAGE untersuchen Sie die Gefahren, die mit geomorphologischen Veränderungen der Erdoberfläche einhergehen. Wie hoch ist das Risiko von Hangrutschungen oder Hangmuren durch den Starkregen der vergangenen Tage? 

Thomas Glade: Die Gefahr der Mobilisierung von gravitativen Massenbewegungen ist derzeit sehr groß. Auch die Hanglagen sind komplett durchfeuchtet, viele Hangbereiche sind wassergesättigt und deshalb braucht es in diesen Gebieten nur noch geringe Wassermengen, um gefährdete Hänge zu mobilisieren, egal ob als Rutschung oder Hangmure. Auch wenn es ab Mitte der Woche einen Wetterumschwung gibt – es wird wärmer, der Schnee wird schmelzen und deshalb wird sich gerade dann in den Höhenlagen die Gefährdung durch Rutschungen, Erdströmen und Hangmuren wieder erhöhen. 

Rudolphina: Kommende Woche begrüßen Sie Vertreter*innen aus über 30 europäischen Ländern bei einer Summer School zum Thema Katastrophenrisikomanagement an der Uni Wien. Ein Thema, das die Expert*innen aus Politik und Wissenschaft diskutieren werden, ist die Frage, wie wissenschaftliche Erkenntnisse besser in die politische Entscheidungsfindung einbezogen werden können. Warum ist das oft schwierig? 

Thomas Glade: Gerade in den letzten Jahren wurde deutlich, dass es in einigen Bereichen eine große Wissenschaftsskepsis gibt. Klare wissenschaftliche Ergebnisse werden oft im politischen Entscheidungsprozess nicht genügend berücksichtigt oder gar negiert. Warum? Nun, unter anderem sind viele Erkenntnisse aus der Wissenschaft unbequem, müssen, wenn man sie ernst nimmt, zu Veränderungen führen.  

Weiterhin müssen wir damit umgehen, dass wir in einer dynamischen Umwelt leben – Dinge verändern sich, und das ist ganz normal. Naturgefahren können massiver auftreten als bisher, und sie können an neuen Stellen auftreten, an denen man sie bis jetzt noch nie erlebt hat. Gleichzeitig sind die Prozesse auch häufig gekoppelt – eine Naturgefahr führt zur nächsten, diese wiederum zur weiteren usw. Darauf mit entsprechenden Maßnahmen zu reagieren, ist häufig sehr schwierig. Dennoch bzw. gerade deshalb ist es wichtig, die politischen Entscheidungsträger (aber nicht nur diese!) über den Sachstand zu informieren, ihnen Lösungswege aufzuzeigen und Handwerkzeuge zur Hand zu geben, die ihnen erlauben, auch mit bis dato unbekannten und deshalb unerwarteten Situationen umzugehen.

Wissenschaftliche Erkenntnisse besser in die Politikgestaltung integrieren

Von 26. bis 27. September 2024 trafen einander rund 80 entsandte Vertreter*innen aus über 30 europäischen Ländern am Institut für Geografie und Regionalforschung der Uni Wien bei der Evidence for Policy in Disaster Risk Management (DRM) Summer School 2024, um sich zu Grundlagen und neuesten Entwicklungen im Bereich des Disaster Risk Management and Policy fort- und weiterzubilden. Dies erfolgte in sogenannten Masterclasses – zu Themen von "The multiple uses of artificial intelligence (AI) in disaster risk management" bis hin zu "Can hybrid experts help bridge the science-policy gap" – durch ausgewiesene Expert*innen und Anwender*innen.

Nachbericht (auf EN) und Eindrücke der Summer-School im Kurzvideo (2:30 min)

Rudolphina: Ein anderes Thema der Summer School 2024 ist die Rolle von KI im Katastrophenschutz: Was sind hier neueste Entwicklungen? 

Thomas Glade: KI ist eine wichtige Entwicklung. Große Datenmengen können schnell verarbeitet und Beziehungen und Informationen abgeleitet werden, die wir bisher nur sehr mühevoll herausarbeiten konnten. Teilweise werden aber auch ganz neue Informationen bereitgestellt.

Gleichzeitig stellt der Einsatz der KI aber auch große Herausforderungen an die Beteiligten. Fragen der Korrektheit, der Überprüfbarkeit, der Grundlagen der Analysen, des Vertrauens in die Ergebnisse – und letztendlich auch Aspekte der Verantwortlichkeit müssen weiter untersucht werden. Ja, das sind sehr große Einschränkungen, gleichzeitig bieten sich aber auch ganz neue Möglichkeiten, existierende Informationen zusammenzubringen und neu zu analysieren. Der Einsatz von KI im Katastrophenschutz muss weiter verstärkt werden – gleichzeitig müssen aber auch immer die einhergehenden Limitationen und Annahmen beachtet werden.

Rudolphina: Extreme Wettersituationen wie die aktuelle werden sich in Zukunft häufen: Was muss auf politischer Ebene passieren, und wie können wir als Gesellschaft damit umgehen?

Thomas Glade: Die politische Ebene muss anerkennen, dass wir uns auch den Extremen widmen müssen. Und diese Extreme werden extremer. Wir sind sehr gut darin, auf Ereignisse zu reagieren, die wir kennen und erlebt haben. Nun müssen wir uns aber auch mit Situationen auseinandersetzen, die wir bisher noch nicht erlebt haben, das Unerwartete denken. Wir müssen wieder mehr lernen, mit der daraus resultierenden Unsicherheit umzugehen. Und dieser Diskurs muss auch mit der Gesellschaft geführt werden.

Rudolphina: Danke für das Gespräch!

© Barbara Mair
© Barbara Mair
Thomas Glade ist Professor für Physische Geographie am Institut für Geographie und Regionalforschung an der Universität Wien, wo er die Arbeitsgruppe ENGAGE – Geomorphologische Systeme und Risikoforschung leitet.

Als wissenschaftlicher Leiter des postgradualen Weiterbildungsprogramms "Risikoprävention und Katastrophenschutz" ist ihm "Lebenslanges Lernen von und über Katastrophen, gegen das Verdrängen und Vergessen" ein besonderes Anliegen.