Ein Kaiserreich voller Bewegung
Mit dem "Austro-Nobelpreis" nach Byzanz
Mit der Eroberung durch die osmanische Armee 1453 ging die Ära des byzantinischen Reiches zu Ende. Gegründet ca. 300 n. Chr. hatte es mehr als 1.000 Jahre Bestand, wobei sich die Größe seines Territoriums mehrfach veränderte. Trotz dieser bewegten Geschichte galt Byzanz in der Geschichtsschreibung "als statisch, verfestigt bis hin zu verknöchert", erklärt Byzantinistin Claudia Rapp, die diesem Image nun ein differenzierteres Bild entgegensetzt.
Während der fünfjährigen Laufzeit ihres Projekts macht die Wissenschafterin und Wittgenstein-Preisträgerin mit ihrem Team all jene vielfältigen Formen der Mobilität zum Gegenstand, die die historische Forschung bisher übersehen hat. In Byzanz setzten sich nicht nur Menschen, sondern auch Dinge und Ideen in Bewegung, was an den hierarchischen Sozialstrukturen immer wieder kräftig rüttelte.
Weiterentwicklung dank Mobilität
Mobilität war in Byzanz ein Motor der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung. "Durch die häufige Veränderung der 'Landesgrenzen' gab es immer wieder neue Nachbarn, mit denen die ByzantinerInnen in Interaktion traten", erläutert die Forscherin. "Ein Paradebeispiel sind die ArmenierInnen aus der Kaukasusregion. Einerseits waren sie vor Ort wichtige Verbündete, andererseits sind immer wieder Gruppen von ihnen nach Byzanz gekommen. Dort leisteten sie ihren Beitrag zur Gesellschaft – kulturell, als Beamte, im Militär."
Ebenso migrierten ByzantinerInnen in andere Regionen und brachten ihre kulturellen Errungenschaften mit. Ob die Wanderungen nun auf Kulturkontakten, Handel oder kriegerischen Auseinandersetzungen basierten: Sie waren so häufig wie vielgestaltig und hinterließen sogar in den abgelegensten Gegenden Spuren – wie dem Katharinenkloster am Sinai. Dieses bewahrt tausende byzantinische Handschriften auf, die nicht nur in der griechischen Amtssprache verfasst wurden, sondern auch in allen anderen Sprachen des christlichen Orients. "Das Kloster zog Pilger, Mönche und Handlungsreisende an. Anhand der Sinai-Handschriften können wir nachvollziehen, wer dort wie gewirkt hat", erläutert die Projektleiterin.
Kulturkontakte Schicht für Schicht
Im teils parallel laufenden "Sinai Palimpsests Project" ging die Wissenschafterin gemeinsam mit 30 internationalen ExpertInnen im wahrsten Sinne des Wortes in die Tiefe: "Viele Pergamente wurden mehrfach verwendet, die älteren Schriften ausradiert. Mit der Multispektralfotografie konnten wir die Handschriften Schicht für Schicht wieder sichtbar machen und die Verteilung der Sprachen in den unterschiedlichen Zeitstufen untersuchen.
Dabei hat sich bestätigt: Kulturkontakte verschoben sich je nach politischer Konstellation. "So vermehren sich die Handschriften in georgischer Sprache im Kloster, seit im späten 9. Jahrhundert viele Mönche verschiedenster Sprachgruppen aus dem Heiligen Land im Sinai Zuflucht suchten. Überraschend, weil nicht allein durch politische Ereignisse erklärbar, ist dagegen die deutliche Präsenz von griechischen Manuskripten aus Süditalien und von Handschriftenmaterial in lateinischer Sprache", fasst die Byzantinistin zusammen. Diese Ergebnisse sind Ausgangspunkt für weitere Forschungen in ihrem aktuellen Wittgenstein-Projekt.
Hierarchien mit Löchern
Gingen die einen auf Wanderschaft, bewegten sich die anderen über die soziale Stufenleiter – und das in einer Gesellschaft mit scheinbar festgefahrenen Hierarchien. Nirgendwo anders kamen Herrscher so häufig mittels Gewalt an die Macht. Manchmal, wie im Falle von Basileios I. im 9. Jahrhundert, schaffte es ein griechischer Bauernsohn auf den Thron. "Durch ungewöhnliche Umstände und gute Verbindungen wurde er der Vertraute seines Vorgängers, der bald ermordet wurde – ob er selbst dahintersteckte, sagt die offizielle Geschichtsschreibung des Hofes nicht", schmunzelt die Wissenschafterin.
Dinge und Ideen auf Wanderschaft
Mobil waren nicht nur Menschen, sondern auch die Dinge. Anderswo in Europa konnte es vorteilhaft sein, ein Stück der byzantinischen Hochkultur zu besitzen. Der Sage nach gelangte eine Blutreliquie aus Byzanz sogar an einen kleinen Ort in Kärnten mit dem klingenden Namen "Heiligenblut". Aber letztendlich handelte es sich dabei um nichts mehr als Imagepflege durch Legendenbildung, wie Claudia Rapp herausgefunden hat: "Als der Goldbergbau in den Tauern zurückging, wollten die Orts- und Kirchenvorsteher Venedig übertrumpfen, das selbst nur Blutreliquien mit lokaler Herkunft hatte – mit Erfolg, denn Heiligenblut war nun für den Pilgerverkehr, einer Frühform des Tourismus, attraktiv."
Auch anderswo war Byzanz durchaus gefragt. Über die christlich-orthodoxe Mission verbreitete sich die byzantinische Kultur im slawischen Raum, wie noch heute an den großartigen Freskenmalereien in spätmittelalterlichen serbischen Kirchen sichtbar ist.
Den Mainstream bereichern
Bewegung hatte in Byzanz viele Facetten. "Unser wichtigstes Anliegen im Projekt ist es, ein verfeinertes Instrumentarium für die historische Recherche zu entwickeln, das die unterschiedlichen Formen der Mobilität, Interaktion und der sozialen Durchlässigkeit berücksichtigt", so die Byzantinistin. "Wir sind ein starkes internationales Team und wollen dazu beitragen, dass Mobilität als grundlegende Zugangsweise der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung auch bei historischen Themen ankommt." (jr)
In ihrem Wittgenstein-Projekt untersucht Rapp die unterschiedlichsten Formen von sozialer und geographischer Mobilität im byzantinischen Reich, das mehr als 1.000 Jahre – bis ins 15. Jahrhundert – existierte.