Citizen Science

Von wegen Ruhe: Wildtiere auf Wiener Friedhöfen

19. Mai 2023 von Lynn Chiu
Prominente Gräber, einzigartige Architektur – und bunte Hamster. Historische Grabsteine sind längst nicht mehr die einzige Attraktion am Wiener Zentralfriedhof. Forscher*innen der Uni Wien erkunden gemeinsam mit Citizen Scientists die beeindruckende Biodiversität auf den Wiener Friedhöfen.
Buntes Treiben inmitten der letzten Ruhestätten: Rund 70-100 Feldhamster (Cricetus cricetus) und ihre Bauten sind auf Wiener Friedhöfen zu finden. © Martina Konecny

Den scheuen dreifarbigen Feldhamster bekommt man eigentlich nur selten zu Gesicht. Umso erstaunlicher ist es, dass sich das stark gefährdete Tierchen auf dem Wiener Zentralfriedhof wohl fühlt und regelmäßig zwischen Grabsteinen und Besucher*innen herumtollt. "Uns werden viele Sichtungen von Hamstern gemeldet, die versuchen, eine Kerze vom Grab zu stehlen und sie in ihren Bau zu stopfen", erzählt Thomas Filek im Interview mit Hannah Stitfall, Naturfilmerin von BBC Earth. Und das nicht ohne Grund: Grabkerzen stehen auf dem Speiseplan der Nager, weil sie "eine Fettquelle sind und die Hamster das Wachs gut verdauen können", erklärt der Paläontologe an der Universität Wien.

Jetzt eröffnet: Galerie mit Fotografien aus dem Citizen Science Projekt

Seit 4. Oktober 2023 können Besucher*innen des Wiener Zentralfriedhofs die längste Outdoor-Fotogalerie der Stadt besuchen. Die Ausstellung zeigt Tierfotografien, die im Rahmen des Citizen Science Projekts "BaF - Biodiversität am Friedhof" entstanden sind. Die Galerie startet am Tor 2 des Zentralfriedhofs und ist bis voraussichtlich März 2024 zu sehen. Der Besuch ist kostenlos.

Ergebnisse "Biodiversität am Friedhof"

Erste Ergebnisse des Citizen Sciences Projekts "BaF - Biodiversität am Friedhof" sind hier einzusehen. Seit 2021 wurden allein am Wiener Zentralfriedhof 170 Tier- und rund 200 Pflanzenarten dokumentiert.

Mitmachen und Biodiversität schützen

•    Besuchen Sie einen Wiener Friedhof und halten Sie Ausschau nach Pflanzen, Tieren, Insekten oder Pilzen.
•    Schicken Sie ein Foto an baf.pal[at]univie.ac.at, nutzen Sie das Sichtungsformular der Kooperationspartner Stadtwildtiere.at oder nutzen Sie die Handy-App "Wildtiere". Teilen Sie Informationen über Zeit und Ort sowie Art Ihrer Sichtung mit, z.B. Hinterlassenschaften, Individuen, Geräusche.
•    Die Projektorganisator*innen helfen Ihnen bei der Bestimmung der Arten und Sie helfen dabei, die Biodiversität Wiens zu schützen.

Buchen Sie eine Hamster-Tour!

Die Wiener Friedhöfe GmbH bietet eine eigene Hamster-Tour durch den Wiener Zentralfriedhof an.

Der Wiener Zentralfriedhof ist dank der prominenten Gräber und der einzigartigen Architektur eine Bucketlist-Destination für Besucher*innen. Weniger bekannt und noch ein Geheimtipp: Der Friedhof ist ein Hotspot für Wildtierbeobachtung. Als Ort der Stille und des Gedenkens wurde die Ruhestätte in Simmering zu einem Zufluchtsort für Tiere und Pflanzen – viele davon vom Aussterben bedroht. 

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"Füchse, Rehe, Hamster, zahlreiche Vogel- und Insektenarten – die Liste der tierischen Friedhofsbewohner in Wien ist lang", erklärt Thomas Filek. Gemeinsam mit Fachkollegin Doris Nagel koordiniert er das Projekt "BaF – Biodiversität am Friedhof", das von der Stadt Wien sowie der Wiener Friedhöfe GmbH gefördert wird. 

Um ein vollständiges Bild der Artenvielfalt auf Wiens Friedhöfen zu bekommen, baut das Projektteam auf die Mithilfe von Bürger*innen als "Citizen Scientists". In den vergangenen zwei Jahren haben Citizen Scientists und die Forscher*innen im Projekt ein Dutzend Säugetierarten, beinahe 80 Vogelarten und insgesamt hunderte von Reptilien, Amphibien, Schnecken und Insekten auf 46 Friedhöfen mit insgesamt 497 Hektar erfasst. "Wir wissen jetzt auch, dass es dort mehr als 300 verschiedene Pflanzenarten gibt", beschreibt Filek die vielfältige Vegetation, die auf Wiens ewigen Ruhestätten gedeiht.

"Zwar erhalten wir immer wieder Sichtungsmeldungen von den Angestellten der Friedhöfe, doch nur wenn sich auch die vielen Besucher*innen über das Jahr hinweg beteiligen, können wir eine wirklich umfangreiche Datenbasis aufbauen, in der beispielsweise auch Zugvögel erfasst sind", sagt Doris Nagel. Bürger*innen, einige davon versierte Vogelbeobachter*innen, haben das Projekt erfreut angenommen und ihre Beobachtung per E-Mail oder über die Wildtiere-App des Kooperationspartners Stadtwildtiere.at geteilt. 

Was ist eigentlich Citizen Science?

Bürger*innen können die Forschung mit Datenspenden unterstützen und gemeinsam mit Wissenschafter*innen in Citizen Science-Projekten arbeiten. In Projekten mit einem höheren partizipativen Charakter werden mit Hilfe von Teilnehmenden sogar Forschungsfragen ausgearbeitet und präzisiert. "Biodiversität am Friedhof" ist eines der aktivsten Citizen Science-Projekte an der Universität Wien

Auch immer mehr Schulen arbeiten mit den Wissenschafter*innen zusammen, um die Biodiversität auf den nahen gelegenen Friedhöfen zu dokumentieren, berichtet Thomas Filek: "Das Projekt möchte durch Citizen Science junge Leute motivieren, sich auf die Wissenschaft einzulassen". Schüler*innen lernen ein breites Spektrum an wissenschaftlichen Methoden im Feld kennen und tauchen so in den biologischen Forschungsprozess ein. 

Dabei erwerben die Schüler*innen wissenschaftliche Fertigkeiten wie Kartieren, Sammeln, Messen, Dokumentieren, Fotografieren und Datenanalyse, so Filek, Nagel und ihre Kolleg*innen Viktoria Frey und Richard Zink vom Konrad-Lorenz Institut der Veterinärmedizinischen Universität Wien.

Wiener Friedhöfe als Korridore

"Ziel ist es, einen umfassenden Überblick über die biologische Vielfalt der Wiener Friedhöfe zu erhalten. Nur so können wir auch einschätzen, ob diese Orte der Ruhe nicht nur die letzten Rückzugsräume von Arten in der Stadt sind, sondern auch als Korridore funktionieren", erklärt Filek. 

Friedhöfe fungieren als wichtige Brücken zwischen städtischen Mikrohabitaten, insbesondere für niedere Wirbeltiere, Insekten und Weichtiere. Um ein vollständigeres Bild des Netzwerks der Natur im städtischen Raum zu erhalten, werden von den Forscher*innen auch Lebewesen erfasst, die sonst eher übersehen werden, wie Pilze. Sie fordern die Teilnehmenden auch auf, Hinterlassenschaften, wie Kot oder Haare von Tieren zu dokumentieren.

Eine winzige Schnecke, die auf einer weißen, halbdurchsichtigen Kugel steht
Über 29 Schneckenarten konnten bereits im Projekt erfasst werden. Im Bild: eine junge Weinbergschnecke (Helix pomatia) © Martina Konecny

Begeben auch Sie sich auf die Suche nach Wiens Biodiversität

Filek und sein Team werden vom Kooperationspartner Wiener Friedhöfe GmbH, der 46 der 55 Wiener Friedhöfe verwaltet, engagiert unterstützt. Gemeinsam tüfteln sie an einer Ausstellung der Sichtungsmeldungen unter freiem Himmel, die aus Bildern von ihren Fotograf*innen und den Citizen Scientists besteht. Hochauflösende Bilder der wilden Tiere und Pflanzen auf Friedhöfen können auch als immerwährender Wandkalender ("Verborgenes Leben am Friedhof") erworben werden. Bilder und Berichte über die jüngsten Erkenntnisse im Projekt sind auf Instagram und Facebook zu finden.

Filek freut sich schon auf die nächsten Schritte. "Wir planen ein größeres Projekt über Tiere in der Nacht, um zu erfahren, wie Tiere in der Dunkelheit leben." Die Forscher*innen interessieren sich auch für den Mikrokosmos und wollen sich mehr auf Insekten und Pflanzen fokussieren. Filek ermuntert die Öffentlichkeit auch weiterhin am Projekt teilzunehmen und so einen Beitrag zum Schutz der Biodiversität in der Stadt beizutragen. 

Eine frühere Version dieses Artikels ist im uni:view Magazin erschienen (2021-10-28).