Datenschutz

"Die Debatte sollten wir jetzt führen"

27. Mai 2020 von Sarah Nägele
Den freien Personenverkehr als eine der zentralen Errungenschaften der EU dürfe man nicht einfach aufgeben, so der Jurist Nikolaus Forgó. Im Interview spricht er über digitale Immunitätsausweise und Tracing-Apps als kontrovers diskutierte Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronakrise.
Den freien Personenverkehr als eine der zentralen Errungenschaften der EU dürfe man nicht einfach aufgeben, so der Jurist Nikolaus Forgó. © Pexels/Anna Shvets

Rudolphina: Herr Forgó, sind die Freiheitsbeschränkungen, denen wir jetzt zustimmen, vollständig reversibel oder schaffen wir gerade einen neuen Überwachungsstandard?

Nikolaus Forgó: Das wird sich zeigen. Was ich sehe, ist eine ganz erhebliche Einschränkung von Grundrechten, die sich bereits über Monate, nicht mehr nur Wochen zieht. Ich sehe aber nicht wahnsinnig viel an politischer Diskussion und bisher auch wenig vertiefte, rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema in Österreich. Anders in Deutschland, dort ist die Diskussion, insbesondere aufgrund von zahlreichen bereits vorliegenden Gerichtsentscheidungen, viel entwickelter. In einem kleineren Ausmaß findet sie mittlerweile auch hier statt, aber bei weitem noch keine differenzierte juristische Analyse. Ob die je erfolgt, wird sich zeigen. Österreich ist bisher nicht sehr vorsichtig mit den Grundrechtseingriffen vorgegangen.

Rudolphina: Sie haben die mangelnde Transparenz der Regierungsmaßnahmen kritisiert – was meinen Sie damit?

Nikolaus Forgó: Es ist nicht deutlich, welches Ziel mit den unterschiedlichen Maßnahmen verfolgt wird: Entweder ist es eine Containment-Strategie und man versucht wieder dahin zu kommen, wo man am Ausbruch der Epidemie stand, indem man jeden einzelnen Fall identifiziert, zurück verfolgt und alle möglichen infizierten Personen in Quarantäne schickt. Oder man verfolgt eine Flatten-the-curve-Strategie und versucht Herdenimmunität zu erreichen. Aber langsamer als mit einer freien Infektion, mit dem Ziel, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Das würde bedeuten, dass wir in Österreich monate- oder jahrelang mit dieser Infektion leben müssen, weil man dann die Welle auf entsprechend lange Zeit ausdehnen muss. Ich verstehe nach wie vor nicht, welche Maßnahme zu welchem Ziel eingesetzt wird und weiß nicht genau, wer die Minister*innen in welcher Rolle berät. Meine Anregung war daher: Mehr Transparenz darüber, wer warum wie berät – mehr Ausgeglichenheit in den Beratungsgremien. Sprich, nicht nur Epidemiolog*innen und Virolog*innen, sondern auch Sozialwissenschafter*innen, Rechtswissenschafter*innen, Psycholog*innen, Psychiater*innen und durch größere Transparenz und Ausgeglichenheit auch mehr Konsens über die eigentlichen Ziele. Das wiederum ist die Vorbedingung dafür, dass man über Sinnhaftigkeit und Zulässigkeit von beispielsweise Apps sprechen kann.

Rudolphina: Es gibt derzeit etwa 900 erkrankte Menschen in Österreich und wir diskutieren über den Gebrauch von Immunitäts- oder Tracing-Apps. Steht das überhaupt im Verhältnis zu den Zahlen?

Nikolaus Forgó: Das weiß niemand, weil niemand weiß, wie sich die Zahlen entwickeln. Entscheidend ist, was man mit so einer Tracing-App erreichen möchte. Wenn es das Ziel ist, eine Containment-Strategie besser zu verfolgen als bisher, dann ist es nicht per se unverhältnismäßig. Insbesondere dann, wenn man davon ausgeht, dass die Teilnahme freiwillig ist. Wenn die Strategie hingegen weiterhin eine Flatten-the-curve-Strategie ist, also nicht die Identifizierung und Rückverfolgung von Einzelfällen, dann wird das mit der Eignung und Erforderlichkeit schon schwieriger zu begründen sein. Immunitätsausweise sind etwas ganz anderes. Da geht es nicht mehr darum, die Epidemie einzudämmen, sondern die wirtschaftlichen Folgen zu mildern. Ob das ein geeignetes Mittel ist, hängt eher von der Zahl derer ab, die eine Infektion schon durchlaufen haben. Wenn es stimmt, dass weniger als ein Prozent der Population bereits eine Infektion durchgemacht hat, dann ist es wahrscheinlich nicht sinnvoll, einen Immunitätsausweis für weniger als ein Prozent der Bevölkerung einzuführen.

Rudolphina: Sie haben eine gesetzliche Grundlage für die App gefordert. Was muss in dieser geregelt werden?

Nikolaus Forgó: Das Wichtigste ist aus meiner Sicht, dass eine gesetzliche Grundlage die freiwillige Teilnahme sichert. Wenn man die Freiwilligkeit nur mündlich verspricht und den Rest dem freien Spiel der Kräfte überlässt, werden zwei Dinge passieren: Erstens werden nicht ausreichend viele Personen freiwillig teilnehmen, um mit einer solchen App signifikante Zahlen zu erreichen, da reden wir von mindestens 50 Prozent der Bevölkerung. Das zweite Risiko ist, dass die Freiwilligkeit nur eine scheinbare ist. Arbeitgeber*innen könnten anfangen, die Installation der App zu verlangen. Immerhin hat ein Arbeitgeber oder eine Arbeitgeberin Fürsorgepflichten gegenüber allen Arbeitnehmer*innen und könnte daher auf die Idee kommen, von jedem und jeder zu verlangen, dass er oder sie keinen anderen ansteckt und daher auch nachweist, nicht infiziert zu sein. Dass das so nicht möglich ist, wäre etwas, das man in einer gesetzlichen Grundlage regeln sollte.

Rudolphina: Wo sehen Sie datenschutzrechtliche Gefahren, wenn man sich langfristig an die Nutzung solcher Apps "gewöhnt"?

Nikolaus Forgó: Grundsätzlich können mit solchen Apps Bewegungsprofile erstellt werden. Diese sind außerordentlich sensibel, weil sie sehr viel über die Persönlichkeit von Menschen aussagen. Niemand verbringt den Tag genauso wie Sie, also hat auch niemand dasselbe Profil. Mit solchen Daten sollte man vorsichtig umgehen, weil sie für alles andere auch verlangt, verfolgt und benützt werden könnten, von der Kriminalitätsbekämpfung bis zur Verkehrssteuerung. Es wäre, glaube ich, relativ schnell der Punkt erreicht, an dem man diskutieren würde, ob man das jetzt nur für Corona einsetzen soll oder für irgendwas anderes auch. Und diese Debatte sollte man früh und außerordentlich vorsichtig führen – jetzt.

Rudolphina: Vor einigen Wochen wurde ein Datenleck bei den Härtefallfonds entdeckt. Zeigt uns dieses, dass der Datenschutz von Seiten des Staats, auch bei Apps, gar nicht gewährleistet werden kann?

Nikolaus Forgó: Ich würde das nicht als Datenleck bezeichnen, das war eine rechtlich vorgesehene Datenbank, dahinter liegt aber natürlich ein Problem: Dort wo große Datenmengen sind, liegen große Missbrauchsszenarien. Der Umgang mit großen Datenbeständen wird uns noch lange begleiten, weil die Entwicklung so schnell war, dass man auch bei sorgfältiger Planung vor neue Überraschungen gestellt wird. Das ist auch der Grund, warum man in jedem einzelnen Fall sorgfältig sein muss, gerade bei den Apps.

Rudolphina: Momentan führen einige europäische Länder eine nationalstaatliche Debatte über den Einsatz solcher Apps. Stichwort europäischer Standard?

Nikolaus Forgó: Es gibt diverse Versuche der europäischen Kommission, stärker als bisher Einheitlichkeit herzustellen, das ist auch wichtig. Der momentane Zustand, dass wir nicht einmal nach Italien, Deutschland oder Tschechien reisen können, ist ungeheuerlich und sich vorzustellen, dass das in weiterer Folge davon abhängig ist, dass ich jeweils eine App installiere, die dann womöglich auf Italienisch mit mir kommuniziert, ist völlig undenkbar. Es ist extrem wichtig, dass man eine gemeinschaftliche Standardisierung herbeiführt und wir uns nicht daran gewöhnen, eine der zentralen Errungenschaften der EU, nämlich freien Personenverkehr, einfach aufzugeben. Ich halte es für sehr unerfreulich, dass man darüber in der öffentlichen Wahrnehmung so wenig liest. Wenn diese Apps weiter entwickelt werden, ist es wichtig, dass man dies gemeinschaftlich und standardisiert tut. Das heißt nicht, dass irgendwo riesige Datensätze entstehen müssen, im Gegenteil. Die interessanteren Versuche gehen in die Richtung dezentraler Datenhaltung. Das heißt, dass die Daten zunächst einmal und möglichst immer auf dem lokalen Endgerät bleiben und nicht in einer zentralen Datenbank landen, schon gar nicht in einer europaweit einheitlichen Datenbank. Wobei es übrigens solche europaweit einheitlichen Datenbanken längst gibt, zum Beispiel zum Zwecke des Handlings von Grenzübergängen außerhalb von Schengen.

Rudolphina: Es ging bei den Maßnahmen oft darum, die Risikogruppen zu schützen. Wie beugt man einer Diskriminierung von Menschen ohne Smartphone vor – was ja wahrscheinlich besonders die älteren Menschen betrifft?

Nikolaus Forgó: Wenn wir über Immunitätsnachweise reden, dann ist die Diskriminierung von Nicht-Smartphone-Träger*innen bei Tracing-Apps ein vergleichsweise kleines Problem. Das sehr viel realistischere Problem ist, dass Nicht-Träger*innen von Immunitätsausweisen oder nicht-immune Personen diskriminiert werden. Stellen Sie sich vor, Sie reisen nach Polen und wenn Sie keinen Immunitätsausweis haben, gehen sie zwei Wochen in Quarantäne. Das ist eine relevante Diskriminierung. Wenn es jetzt nur um die Smartphone-Problematik geht, dann muss man z.B. Hardware-Devices finden, wie es die Bundesregierung angekündigt hat. Das sind vergleichsweise geringfügige Kosten. Das Problem dahinter ist: Es wird auch Menschen geben, die diese nicht einsetzen wollen, weil sie Angst haben. Und es wird Menschen geben, die diese nicht einsetzen können, weil sie zum Beispiel Analphabet*innen sind oder nicht ausreichend Deutsch oder Englisch sprechen. Dieses Diskriminierungsproblem kann man nur durch ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit und Bildung lösen – wie immer.

Rudolphina: Danke für das Gespräch!

© Barbara Mair
© Barbara Mair
Nikolaus Forgó ist Professor für Technologie- und Immaterialgüterrecht. Er ist Vorstand des Instituts für Innovation und Digitalisierung im Recht sowie stellvertretender Leiter der Plattform Governance of Digital Practices an der Universität Wien. Seit 2018 ist er Expertenmitglied des österreichischen Datenschutzrats.

Er studierte Rechtswissenschaften, Philosophie und Sprachwissenschaften in Wien und Paris. 1997 promovierte er mit einer rechtstheoretischen Dissertation und ist seit 1998 Leiter des Universitätslehrgangs für Informationsrecht und Rechtsinformation an der Universität Wien. Von 2000 bis 2017 war er an der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover tätig. Seit Oktober 2017 ist er Professor für Technologie- und Immaterialgüterrecht an der Universität Wien.