Rudolphina Experts: Gendermedizin und Recht

Gender Data Gap – Über Wirkung und Nebenwirkungen

2. Jänner 2025 Gastbeitrag von Gisela Ernst
In der medizinischen Forschung besteht eine oft unterschätzte Wissenslücke: der sogenannte Gender Data Gap. Dieser beschreibt die unzureichende Datengrundlage zu Frauen in klinischen und vorklinischen Studien – ein Problem mit gravierenden Folgen für die Gesundheit und Sicherheit von Frauen. In ihrem Gastbeitrag beleuchtet Gisela Ernst die rechtliche Seite.
"Es bedarf eines Rechtsrahmens der für beide Geschlechter ausreichend solide Studienergebnisse und im Ergebnis eine gleich gute Behandlung gewährleistet", sagt die Rechtswissenschafterin Gisela Ernst, die auf Medizin- und Gesundheitsrecht spezialisiert ist. © Pixabay

Viele Medikamente und Therapien wurden und werden auf Basis von Studien entwickelt, deren Proband*innen überwiegend männlich sind. Dies führt dazu, dass erhebliche Unsicherheiten bezüglich der Wirksamkeit von Arzneimitteln bei Frauen aufgrund der unzureichenden Datenbasis bestehen. Aber wie kam es zu dieser Ungleichheit, und welche Rolle spielt das Recht für das Entstehen aber auch die Schließung dieser Lücke?

Entstehung des Gender Data Gap

Wie im Rudolphina-Beitrag zur Gendermedizin bereits erläutert wurde, spielen verschiedene – vor allem auch medizinische – Faktoren eine Rolle bei der Entstehung des Gender Data Gaps. Doch nicht nur medizinische Gründe tragen zu diesem Ungleichgewicht bei: Auch auf juristischer Ebene, insbesondere im Regelwerk für klinische Studien, gibt es entscheidende Einflussfaktoren.

Ausschlusskriterien für Schwangere und Stillende

Jahrzehntelang galten strenge Ausschlusskriterien für Schwangere und Stillende und zudem durften klinische Studien an allen gebärfähigen Frauen nur durchgeführt oder fortgesetzt werden, wenn wiederholt negative Schwangerschaftstests vorgelegt wurden. Dies führte einerseits zu bürokratischem und finanziellem Mehraufwand bei der Durchführung, was dazu führte, dass Frauen im gebärfähigen Alter weniger in Studien eingeschlossen wurden, barg aber auch Nachteile für Studienteilnehmerinnen. Bereits 2008 rügte die Bioethikkommission, dass es nicht nur negative Anreize für den Einschluss von Frauen gebe, sondern durch den verpflichteten Studienabbruch im Falle des Eintretens einer Schwangerschaft auch Risiken für die betroffenen Frauen entstehen könnten.

Durch die EU-Verordnung (EU) 536/2014 wurden einige dieser Probleme angegangen. Schwangere Frauen dürfen beispielsweise an klinischen Studien teilnehmen, wenn der Nutzen die Risiken überwiegt und die Belastung minimal bleibt. Auch die Möglichkeit von klinischen Prüfungen zum Gruppennutzen wurde rechtlich geregelt.  Das bedeutet, dass klinische Studien an Schwangeren und Stillenden in engen Grenzen auch dann zulässig sind, wenn zwar kein direkter Nutzen für die Prüfungsteilnehmerin selbst besteht, die Prüfung aber zu einem "Gruppennutzen" für die repräsentierte Bevölkerungsgruppe führt. Dennoch besteht weiterhin Handlungsbedarfbei der Integration von Frauen in allen Phasen der klinischen und vorklinischen Forschung. Die zuständigen Stellen sollten gezielt auf eine ausgeglichene Studienpopulation hinwirken.

Gender Data Gap im Kontext der Bundesverfassung: Gleichstellung, Förderung und biologische Unterschiede

Die Gleichstellung der Geschlechter ist ein zentrales Prinzip des österreichischen Verfassungsrechts und des Unionsrechts. Der Gleichheitsgrundsatz nach Art. 7 B-VG normiert hier zunächst, dass alle Staatsbürger – wohlgemerkt nach wie vor ohne "-innen" – vor dem Gesetz gleich sind. Die Bestimmung ist nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs so zu verstehen, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden muss, es sei denn, es gibt eine sachliche Rechtfertigung dafür.

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Unterschiedliche Bedürfnisse der Geschlechter

Heutzutage geht man davon aus, dass eine Ungleichbehandlung der Geschlechter nur mehr durch die gegebenen biologischen Unterschiede – und nicht mehr durch gesellschaftliche Unterschiede – gerechtfertigt werden kann. Dies gilt insbesondere im Bereich der Medizin, wo die Geschlechter in vielerlei Hinsicht unterschiedliche Bedürfnisse und Reaktionen aufweisen. Hieran muss auch der (Medizin-)Rechtsrahmen anknüpfen und entsprechend differenzierte Regelungen bereitstellen, die aber gleichzeitig unter dem Strich nicht zu einer Diskriminierung bestimmter Gruppen führen, weil zu großzügige Ausschlussbestimmungen zu einer schlechten Datenlage führen. Auch hierin läge eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung.

Es bedarf also eines Rechtsrahmens der für beide Geschlechter ausreichend solide Studienergebnisse und im Ergebnis eine gleich gute Behandlung gewährleistet.

Podiumsdiskussion: Wie gerecht ist Gesundheit?

Zum Abschluss der Semesterfrage diskutieren Wissenschafter*innen und Alumni der Uni Wien gemeinsam mit dem Publikum die Frage, wie gerecht Gesundheit sein kann. Die Keynote hält die deutsche Medizinethikerin Alena Buyx. Am Podium diskutieren Janina Kehr vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Jörg Menche vom Zentrum für Molekulare Biologie, Lukas Seper, Co-Founder des Healthtech-Scale-ups XUND und Eva Waldmann vom Leadershipteam von PHARMIG.

Wann: Montag, 13. Jänner 2025, 18 Uhr
Wo: Großer Festsaal der Universität Wien, Universitätsring 1, 1010 Wien

Eintritt frei, um Anmeldung wid gebeten.
>> Hier geht´s zur Anmeldung

Aktive Fördermaßnahmen erwünscht

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Gleichheitsprinzips ist die Verpflichtung zur Förderung der tatsächlichen Gleichstellung. Gemäß Art. 7 Abs. 2 B-VG können Bund, Länder und Gemeinden Maßnahmen ergreifen, um faktische Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern abzubauen. Das bedeutet, dass aktive Fördermaßnahmen – etwa die gezielte Unterstützung von Forschung, die auf Frauen fokussiert ist – verfassungsrechtlich zulässig und sogar gewünscht sind. Auch auf europäischer Ebene sieht die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) in Art. 23 die Möglichkeit vor, das unterrepräsentierte Geschlecht zu begünstigen, um eine faktische Gleichstellung zu erreichen.

Fazit: Es braucht rechtliche und politische Rahmenbedingungen

Es zeigt sich also deutlich, dass es nicht nur Bewusstsein der Forschenden braucht, sondern auch die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen, die sicherstellen, dass die unterschiedlichen biologischen und geschlechtsspezifischen Auswirkungen angemessen untersucht werden und die medizinische Versorgung so mittelfristig gerecht(er) wird.

© privat
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Gisela Ernst spezialisierte sich während ihres Studiums auf Medizin- und Gesundheitsrecht, ein Schwerpunkt, den sie durch ihre Promotion an der Universität Wien vertiefte. Nach beruflichen Stationen in der pharmazeutischen Industrie kehrte sie als Postdoc an die Wirtschaftsuniversität Wien und später an die Universität Wien zurück. Sie ist Autorin zahlreicher Fachpublikationen, Lehrbeauftragte der Wirtschaftsuniversität Wien und seit März 2024 Rechtsanwaltsanwärterin bei Haslinger/Nagele Rechtsanwälte.

Buchtipp: Genderbias im Recht

Über diesen und viele weitere Bereiche, in denen durch das Recht ein "Genderbias" entstehen kann, haben zahlreiche ausgewiesene Autorinnen unter Leitung der Herausgeberinnen Francine Brogyanyi und Magdalena Nitsche ein Buch verfasst. Es erscheint am 31. Jänner 2025 und kann bereits vorbestellt werden: Genderbias im Recht