Empathie-Defizite könnten Trugschluss sein
In ihrem Beitrag zu einer Sonderausgabe des Fachblattes "Philosophical Transactions of the Royal Society B" beschäftigt sich der Neurowissenschafter und Psychologe Claus Lamm sowie seine Fachkolleg*innen Henryk Bukowski und Giorgia Silani von der Universität Wien mit der Frage, was Empathie ermöglicht. In mehreren Studien haben Lamm und seine Kolleg*innen kürzlich einige neurowissenschaftliche Hinweise dafür gesammelt, dass beim Mitfühlen "jene Emotionsnetzwerke im Gehirn aktiviert werden, die auch dann aktiv sind, wenn man selbst die Emotion, mit der man mitfühlt, empfindet". Die Forscher*innen sprechen hier von einem Mechanismus "geteilter Repräsentationen".
"Selbst-Andere-Differenzierung"
Etwas nachzuempfinden ist aber lediglich ein Teilaspekt der Empathiefähigkeit: "Eine wichtige weitere Komponente ist die Fähigkeit zu unterscheiden, was mein Gefühlszustand und was der einer anderen Person ist", erklärt Claus Lamm. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch hat sich dafür der Begriff "Selbst-Andere-Differenzierung" etabliert.
Die Forscher*innen stellen sich in ihrem Artikel auch die Frage, wie es um diese beiden zentralen Aspekte bestellt ist, wenn Menschen unter verschiedenen klinischen Störungsbildern leiden. Dazu haben sie sich vor allem Studien über Autismus und Psychopathie, einer antisozialen Persönlichkeitsstörung, angesehen. "Insgesamt ist die Erkenntnisdichte in diesem Forschungsbereich noch relativ dünn, es herrscht ein ziemliches Durcheinander", so Giorgia Silani, die mit dem Betrag auch Türen für neue Fragen öffnen möchte.
Eigene Schutzmechanismen
Bei Autismus war reduzierte Empathiefähigkeit lange ein wichtiges Diagnosekriterium. Nun gebe es aber immer mehr Hinweise, dass "der Autist, der bei anderen starke Emotionen wahrnimmt, dadurch schneller überfordert wird", wie Silani betont . Um dem zu entgehen, könnten Betroffene gewissermaßen von vornherein dazu neigen, solche Wahrnehmungen zu blockieren. Dieser "gut eingebaute Schutzmechanismus" wäre allerdings etwas ganz anderes als eine prinzipielle Unfähigkeit empathisch zu sein und eine "gute Nachricht" für Betroffene, erklärt die Wissenschafterin. Denn in einer Therapie müsse Einfühlungsvermögen nicht neu gelernt, sondern vielmehr der Umgang mit den Emotionen anderer geübt werden, indem gelernt wird, negative Gefühle anderer von jenen, die die eigene Person betreffen, klarer zu trennen.
Antisoziale Persönlichkeitsstörung
Personen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung bilden eine weitere Gruppe, der scheinbar der Zugang zur Gefühlswelt anderer fehlt. Hier zeige sich aber immer stärker, "dass Psychopath*innen nicht unbedingt Probleme haben, sich in andere einzufühlen, sondern dass sie das möglicherweise sogar sehr gut können und auch sehr gut in dieser Abgrenzung sind", erläutert Henryk Bukowski.
Sie scheinen allerdings ihr Wissen um das Gefühlsleben anderer Personen anders zu nützen: "Während weniger psychopathische Personen auf das Leid anderer Personen meistens prosozial reagieren, können Psychopath*innen diese Information dazu nützen, um die eigenen Anliegen weiterzubringen."
Von alten Klischees befreien
Lamm ortet auch Hinweise, dass sich die Forschung von dem alten Klischee des emotional unfähigen Psychopath*innen löst. Obwohl die automatische neuronale Antwort in der Regel weniger stark ausfällt, gebe es mittlerweile starke neurowissenschaftliche Hinweise dafür, dass diese Menschen in der Lage sind, gewissermaßen einen Schalter umzulegen und sich - wenn sie dazu aufgefordert werden oder sich davon einen Vorteil versprechen - ebenso gut auf die Gefühlslage anderer einstellen zu können.
Dieser Beitrag ist ursprünglich im Dezember 2015 erschienen.
Forschungsprojekte von Giorgia Silani
- "Wanting" and "Liking": The Neurochemical and Neurocognitive Basis of Primary and Social Reward in Humans (2016 - laufend)
Menschliches Verhalten ist nicht nur durch primäre Belohnung (wie z.B. Essen), sondern auch durch soziale Belohnung (z.B.Anerkennung) motiviert. Die Hirnforschung unterscheidet klar zwischen Wollen und Mögen von primären Belohnungen. Im Bereich der sozialen Belohnung ist diese Unterscheidung nicht eindeutig erforscht. Dieses Projekt will klären, ob Wollen und Mögen auf der Verhaltens- sowie auf neurobiologischer Ebene für primäre und soziale Belohnungen getrennt werden können. Eine solche Unterscheidung wäre wichtig, denn bei Verhaltensstörungen wie Autismus könnte eher ein beeinträchtigtes Wollen denn ein Mögen von sozialer Belohnungen eine Rolle spielen. - "Music for autism" (2021 - 2024)
Ziel dieses Projekts ist die Evaluierung der Wirkung von Musiktherapie im Vergleich zu einer abgestimmten spiel-basierten therapeutischen Intervention in einer Gruppe sechs- bis zwölfjähriger autistischer Kinder. Vor und nach jeder Intervention werden die Kinder bezüglich einiger verhaltensneurologischer und biologischer Wirkungen, einschließlich sozialer kommunikativer Fertigkeiten, Teilnahme, mentaler Gesundheit, zerebraler Konnektivität, Hirnstruktur, dem Mikrobiom im Darm und Stresslevels untersucht. - "Oxytocinergische und opioiderge Wirkung und Wechselwirkung" (2022 - 2024)
Das wesentliche Ziel dieses Projekts ist die Untersuchung der Wirkung einer kombinierten Verabreichung von Oxytocin und Opioiden, also zweier wesentlicher, modulierender neurochemischer Stoffe, auf das menschliche Sozialverhalten und Bindung sowie auf die soziale Aufmerksamkeit und soziales Lernen im Falle von Autismus.
Lamm forscht außerdem zu den neuronalen und biologischen Grundlagen affektiver und kognitiver Informationsverarbeitung und zur Verwendung und Optimierung neurowissenschaftlicher Methoden zur Untersuchung mentaler Prozesse.