Hintergrundwissen

Bundespräsidentschaft: Zu viel Macht an der Staatsspitze?

29. September 2022 Gastbeitrag von Laurenz Ennser-Jedenastik
Eigentlich hat das österreichische Staatsoberhaupt viel Macht – verzichtete nur bisher darauf: Das hat sich durch die Amtsführung der bisherigen Bundespräsidenten so etabliert. Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik erklärt im Gastbeitrag, warum sich ein zukünftiges Staatsoberhaupt an diese Tradition aber nicht halten muss – und was das bedeuten könnte.
Die Angelobung der Mitglieder der Bundesregierung gehört zu den Kompetenzen des österreichischen Bundespräsidenten, er kann sie aber auch wieder entlassen – theoretisch. © PRK

"Auf dem Papier hat der österreichische Bundespräsident viel Macht" – so lernen es Studierende der Rechts- und Politikwissenschaft bis heute. Ein*e Bundespräsident*in ernennt die Mitglieder der Bundesregierung, kann Kanzler*in und Regierung aber auch jederzeit entlassen, oder auf Vorschlag der Bundesregierung Nationalrat und Landtage (mit Zweidrittel-Zustimmung des Bundesrates) auflösen. Das österreichische Staatsoberhaupt beurkundet außerdem das verfassungsgemäße Zustandekommen von Gesetzen, schließt Staatsverträge ab, ernennt Beamt*innen, Richter*innen und Staatsanwält*innen und exekutiert, wenn nötig, Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs.

Dass wir von diesen Kompetenzen oft als "auf dem Papier" existierend sprechen, liegt auch daran, dass die Vorgänger Van der Bellens ihr Amt mit großer Zurückhaltung ausgeführt haben. Sie übten sich im "Rollenverzicht", nahmen ihre weitreichenden Rechte also kaum in Anspruch. (Selbst, wenn anderes dringend geboten gewesen wäre, etwa anlässlich der Ausschaltung des Parlaments im Jahr 1933.)

© Laurenz Eennser-Jedenastik
© Laurenz Eennser-Jedenastik
Laurenz Ennser-Jedenastik ist seit Juli 2020 Assistenzprofessor für Sozialpolitik am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien und erhielt 2020 einen ERC Starting Grant für sein Projekt "The 'de-party-politicization' of Europe's political elites", in dem er und sein Team untersuchen, wie sich politische Karrieren in Europa seit 1945 verändert haben und welche Konsequenzen das für Gesetzgebung und Wahlverhalten hat.

Ennser-Jedenastik war jahrelang Mitarbeiter der Österreichischen Nationalen Wahlstudie (AUTNES) und forscht schwerpunktmäßig zu Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik, politischen Parteien und Eliten sowie zu Österreichischer Politik.

Rollenverzicht: Es gilt das Primat des Parlaments

Der Rollenverzicht ist eine elegante – aber potenziell fragile – Lösung für ein in der Bundesverfassung grundgelegtes Problem: Das politische Überleben einer Bundesregierung hängt nämlich vom Vertrauen sowohl des Nationalrats als auch des Bundespräsidenten oder der Bundespräsidentin ab. Sollten aber Präsident und Nationalrat – beide durch direkte Wahl legitimiert – über die Besetzung der Regierung in Konflikt geraten, könnte das zu einem Kreislauf der Instabilität führen: Der oder die Bundespräsident*in könnte jede Regierung entlassen, selbst wenn sie eine solide parlamentarische Mehrheit hat. Das Parlament wiederum könnte jeder vom Staatsoberhaupt eingesetzten Regierung das Vertrauen versagen.

Die Verfassung erlaubt sogar weitere Eskalationsstufen in dieser Auseinandersetzung: einerseits die Auflösung des Nationalrats durch den oder die Bundespräsident*in (auf Vorschlag einer willfährigen Regierung), andererseits die vorzeitige Absetzung des oder der Bundespräsident*in durch eine von der Bundesversammlung (d.h. Nationalrat plus Bundesrat) angesetzte Volksabstimmung.

Der Rollenverzicht des Bundespräsidenten verhindert ein solches Krisenszenario. Das Staatsoberhaupt akzeptiert – wenn nötig unter stillem, aber sichtbarem Protest wie Thomas Klestil im Jahr 2000 – die Bildung selbst ungeliebter Regierungen, solange sie vom Nationalrat toleriert werden. Damit gilt in der politischen Praxis das Primat des Parlaments.

Beispiele für unkonventionelles Handeln bisheriger Bundespräsidenten gibt es 

Der Rollenverzicht ist also eine politische Norm, die sich durch die Amtsführung der bisherigen Bundespräsidenten etabliert hat. Doch nichts in der Verfassung zwingt zukünftige Staatsoberhäupter dazu, an dieser Tradition festzuhalten. Das Wesen politischer Normen besteht nun einmal darin, dass sie nur gelten, solange alle relevanten Akteur*innen sie befolgen.

Und in einigen Fällen haben die letzten drei Amtsinhaber schon gezeigt, dass sie gewillt sind, von bisherigen Konventionen abzuweichen: Thomas Klestil etwa lehnte im Jahr 2000 zwei von der FPÖ für Ministerämter nominierte Personen ab; Heinz Fischer verweigerte 2008 erstmals die Beurkundung eines offensichtlich verfassungswidrigen Gesetzes; und Alexander Van der Bellen wartete mit der Unterzeichnung des 2018 vom Parlament abgesegneten CETA-Handelsabkommens einige Monate, bis eine Prüfung durch den Europäischen Gerichtshof erfolgt war.

Bundespräsident Van der Bellen bei der Angelobung von Regierungsmitgliedern im Mai 2020
Der amtierende Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat seine über die politische Norm hinausreichenden Kompetenzen bisher erst einmal genutzt, indem er das 2018 vom Parlament abgesegnete CETA-Handelsabkommen nicht sofort, sondern erst nach einer Prüfung durch den EU-Gerichtshof unterzeichnet hat. © PRK

Politische Normen können sich ändern

Nicht undenkbar also, dass auch andere Normen, die bisher machtbeschränkend gewirkt haben, einmal fallen – vor allem, wenn einmal Personen ins höchste Staatsamt gelangen sollten, die weniger stark in den politischen Traditionen der Zweiten Republik verhaftet sind als die bisherigen Amtsinhaber. Die Erosion der einstigen Großparteien und das Erstarken neuer politischer Kräfte erhöhen die Chancen darauf beträchtlich.

Vielleicht ist es daher (wieder einmal) Zeit für eine Diskussion über die Stellung des Staatsoberhaupts im Machtgefüge der Republik. Wie würde es uns gefallen, wenn viele seiner oder ihrer Kompetenzen nicht mehr nur "auf dem Papier" bestünden? Wenn der Präsdient etwa regelmäßig Regierungen entließe oder Gesetzen die Beurkundung verweigerte? Sich allein darauf zu verlassen, dass es dazu nicht kommt und zukünftige Präsident*innen im Rahmen etablierter politischer Normen agieren werden, ist sicherlich nicht genug.