"Sprache stellt Welt her"
Rudolphina: Frau Schmidt-Lauber, Herr Liebig, im Buch "Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar" beleuchten Sie 32 Alltagsbegriffe, die wir im täglichen Leben verwenden, aber vielleicht gar nicht richtig verstehen.
Brigitta Schmidt-Lauber: Wir wollen damit Leser*innen, die die Problematik eines Begriffes wie Migrationshintergrund oder die Kontextualität von Willkommenskultur interessiert, ein Nachschlagewerk in die Hand geben. Es ist eine Publikation, die sich an Menschen richtet, die sich informieren und auch reflektieren möchten, welche Bedeutungen Begriffe in unterschiedlichen Kontexten haben oder warum sie in manchen Verwendungsweisen problematisch sind. Der Ansatz des Buches ist es dabei auch in die Historie zurückzugehen und sich die Begriffsentwicklung und den Bedeutungswandel des Begriffs anzusehen: sowohl innerhalb gesellschaftlicher Diskurse als auch in der Wissenschaft. Unser Buch soll dazu anregen, vermeintlich Selbstverständliches zu hinterfragen.
Manuel Liebig: Wenn wir uns im Alltag unterhalten oder wenn wir im wissenschaftlichen Bereich Kategorien nutzen, dann orientieren wir uns dabei an einem Common Sense, auf den wir uns gesellschaftlich verständigt haben und durch den Gesprächspartner*innen verstehen, wovon die Rede ist. Doch es lohnt sich, die verwendeten Begriffe zu hinterfragen. Nehmen wir zum Beispiel das Wort Migrationshintergrund: Wer hat eigentlich Migrationshintergrund gerade in einer Gesellschaft, die von sogenannter Gastarbeit geprägt ist? Haben Menschen in der zweiten oder dritten Generation immer noch Migrationshintergrund, auch wenn sie immer hier gewesen sind und vielleicht gar keinen Kontakt mehr zum Herkunftsort der Eltern oder Großeltern haben? "Migrationshintergrund" ist ein Beispiel dafür, dass die so angesprochenen Menschen immer noch in die Kategorie der Andersartigkeit gepresst und von der Gesellschaft anders behandelt werden.
Buchtipp:
Die Publikation "Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar", herausgegeben von Brigitta Schmidt-Lauber und Manuel Liebig vom Institut für Europäische Ethnologie an der Universität Wien, erschien Anfang 2022 im Böhlau Verlag Wien. Das Glossar richtet sich an ein breites Publikum, dem es Informationen zu geläufigen Begriffen des gesellschaftlichen Sprachgebrauchs, die auch im wissenschaftlichen Vokabular relevant sind, bereitstellt. So will es für die Bedeutungen und Wirkungen der Wortwahl sensibilisieren.
Rudolphina: Begriffe, die im Buch analysiert werden sind u.a. Heimat, Asyl, Rassismus oder Identität. Wie haben Sie die Auswahl für das kulturwissenschaftliche Glossar vorgenommen?
Manuel Liebig: Das Buch hat natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Etwa haben wir bei der Vorbereitung der Publikation das Vokabular in den Medien im Nachgang der Migrationsbewegungen 2015 analysiert und uns angeschaut, welche Begriffe für Wahlplakate verwendet werden, wie z.B. Heimat im Bundespräsidentschaftswahlkampf 2016.
Brigitta Schmidt-Lauber: Unser Glossar zeigt, dass jede Reflexion auf Gesellschaft zeitgebunden und jede wissenschaftliche Äußerung kontextabhängig ist. Es sind weitgehend Begriffe, die der alltäglichen Verständigung in der Gesellschaft dienen, ohne dass sie groß hinterfragt werden. So zum Beispiel der Begriff Kultur. Er wurde vor etwa 50 Jahren noch anders verwendet: viel stärker im hochkulturellen Sinn. Inzwischen hat sich vielfach die Alltagskulturdimension durchgesetzt, die auch die empirische Kulturwissenschaft fokussiert. Die Begriffe sind im- oder explizit Teil gesellschaftlicher Positionierungen und Ausgrenzungsprozesse. Es gibt in jeder Gesellschaft soziale Spannungen und Menschen, die "drinnen" und die "draußen" sind. Mit welchen Terminologien und Beanspruchungen das passiert, das interessiert uns. Ich nehme mich auch durchaus selbst als Beispiel: Aufgrund meiner Sprache werde ich immer wieder auf meine Herkunft angesprochen. Als Doppelstaatsbürgerin bin ich auch in Wien mitaufgewachsen und habe hier maturiert. Ich bin sozusagen eine nicht anerkannte Österreicherin (lacht). Auf solche Widersprüche aufmerksam zu machen, ist unser Anliegen.
Rudolphina: Das heißt, Sie sehen hier auch eine Verantwortung der Wissenschaft der Gesellschaft gegenüber?
Brigitta Schmidt-Lauber: Ja, wir möchten einen interdisziplinären Beitrag leisten und uns mit der Rolle und der Verantwortung von Wissenschaft auseinandersetzen. Wir Wissenschafter*innen müssen besonders genau auf Begriffe, die wir verwenden, achten, da unser Wissen und unsere Deutungen in die Gesellschaft zurückwirken. Ziel des Buches ist also die Schärfung des Begriffsverständnisses und die Verwendungskontexte. Auf diese Weise versuchen wir als Wissenschafter*innen einen konstruktiv-aufklärenden Beitrag innerhalb gesellschaftlicher Diskurse und Dynamiken zu leisten.
Manuel Liebig: Mit unserer Publikation möchten wir über unseren innerwissenschaftlichen Horizont hinauswirken und Wissenschaft auch interventionistisch begreifen. Wir tragen unsere Erkenntnisse nach außen und bringen uns vor allem dort ein, wo wir merken, dass sich eine Gesellschaft gegenüber bestimmten Gruppen in ihr schließt. Wir müssen Ausgrenzungen thematisieren und nicht weitere Abgrenzungen produzieren.
Brigitta Schmidt-Lauber: Das Wort Geschlecht ist ein gutes Beispiel. In dem Beitrag dazu im Buch geht es auch darum, wie wir durch unser alltägliches Handeln Geschlecht produzieren. Auf solche habituellen Selbstverständlichkeiten und Mechanismen hinzuweisen und auch deren Änderung im Lauf der Zeit zu betrachten, ist Aufgabe der Wissenschaft. Das binäre Geschlechtermodell "Mann und Frau" ist nicht natürlich gegeben und historisch gesehen gar nicht so alt. Das hat auch viel mit dem Aufkommen des Bürgertums zu tun, in dem Weiblichkeit an das Private und an fürsorgliche Tätigkeiten gebunden wurde, während Männlichkeit für Öffentlichkeit und Beruf stand. Dieses Bild entwickelt sich weiter bzw. wird adaptiert, wurde und wird aber auch stetig herausgefordert. Gerade jetzt erleben wir, wie sich langsam eine dritte Option in die Gesellschaft einschreibt und sich damit auch materialisiert, z.B. in Toiletten, im Pass oder in der Sprache, so dass wir von "Leser*innen" sprechen. Anhand solcher Beispiele und Darlegungen historischer Entwicklungen von Begriffen zeigen die Autor*innen des Buches deren Aushandlungen in Gesellschaft und Wissenschaft auf.
Rudolphina: Vielen Dank für das Interview!