Von Wien nach Malaysia: Die blaue Revolution unter der Lupe
Im Februar 2025 bin ich nach Sabah (Malaysia) auf der Insel Borneo aufgebrochen, um die zentrale Feldforschung für meine Dissertation durchzuführen. Seit meinem Masterstudium fasziniert mich, wie die sogenannte Blaue Revolution – das rasante Wachstum im Bereich der Fischerei und Aquakulturproduktion – einerseits Wohlstand verspricht, andererseits jedoch neue Abhängigkeiten schafft. Sabah ist hierfür ein Paradebeispiel, denn der malaysische Bundesstaat exportiert Fischerei- und Aquakulturprodukte in großem Stil, während viele Küstengebiete strukturschwach bleiben. Zudem weisen die Küstengebiete Borneos eine hohe Biodiversität mit artenreichen Mangrovenwäldern, Seegraswiesen und Korallenriffen auf, die zahlreichen Meereslebewesen als Lebensraum dienen.
Malaysia, ein Land der kulturellen Vielfalt
- Entfernung Wien-Sabah: 10.200 Kilometer
- Kota Kinabalu ist die Hauptstadt des Bundesstaats Sabah, der im nördlichen Teil der Insel Borneo liegt.
- Malaysia besteht aus zwei Teilen, die durch das Südchinesische Meer getrennt sind: Westmalaysia auf der malaiischen Halbinsel und Ostmalaysia auf der Insel Borneo.
- Die Staatsform Malaysias ist eine parlamentarisch-konstitutionelle Wahlmonarchie.
Der Norden von Borneo ist geprägt von ausgeprägten Regen- und Trockenzeiten, einer bemerkenswerten kulturellen Vielfalt – etwa durch die indigenen Bajau, Dusun und Murut sowie durch chinesische und malaiische Einflüsse – und einer Küstenlandschaft, die sich innerhalb weniger Kilometer von steilen Granitklippen zu weitläufigen Mangrovensümpfen verändert.
Sabah ist für meine Arbeit deshalb so relevant, weil hier lokale Gemeinschaften, internationale Konzerne und nationale Entwicklungspläne in einem Raum zusammentreffen, der gleichzeitig ökologisch hochsensibel und wirtschaftlich begehrt ist.
Subsistenzwirtschaft trifft auf internationale Märkte
Etwa die Hälfte meiner Zeit in Sabah verbrachte ich am University College Sabah Foundation in Kota Kinabalu, das zu meinem Arbeits- und Lebensmittelpunkt wurde. Knapp fünf Autostunden entfernt liegt an der Nordostküste der Bezirk Pitas. Im Jahr 2010 wurde in Pitas ein groß angelegtes Shrimp Aquakultur Projekt umgesetzt – ein riesiger Komplex aus Hunderten Anzuchtbecken. Das Projekt versprach tausende neue Arbeitsplätze und einen wirtschaftlichen Aufschwung in einem der ärmsten Bezirke Malaysias. Viele Bewohner*innen begrüßten das Projekt zu Beginn, da sie sich davon neue Straßen, Elektrizität und Arbeitsplätze erhofften.
Für meine Forschung ist diese Fallstudie so bedeutsam, weil sich hier viele Dynamiken und Machtasymmetrien in globalen Produktionsnetzwerken wie unter einem Brennglas sichtbar werden: Subsistenzwirtschaft trifft auf Produktion für internationale Märkte, traditionelle Landrechte auf private Investitionen und der Staat nimmt eine Doppelrolle als Investitionspartner und Regulierungsbehörde ein.
Soziale und ökologische Auswirkungen der Shrimp Aquakulturen
Mein Ziel war es, diese Konfliktlinien und ihre sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Folgen aus möglichst vielen Perspektiven zu erfassen und die zugrundeliegenden globalen Produktionsnetzwerke mit ihren sozialen und ökologischen Auswirkungen kleinteilig nachzuzeichnen, statt sie lediglich aus statistischer Ferne zu betrachten. Zwischen Anfang Februar und Anfang Juni dieses Jahres führte ich 55 leitfadengestützte Interviews sowie elf Fokusgruppendiskussionen mit Kleinbäuer*innen, Fischer*innen, aktuellen und ehemaligen Arbeiter*innen, Gemeindevorständ*innen und Aktivist*innen in der Umgebung des Projekts durch.
Um den Sektor als Ganzes besser verstehen zu können, ergänzte ich die Fallstudie durch 44 Expert*inneninterviews mit Vertreter*innen von Behörden, Unternehmen, NGOs und Forschungseinrichtungen im gesamten Küstengebiet Sabahs. Darüber hinaus sichtete ich Archivmaterial, Zeitungsartikel, behördliche Rundschreiben und amtliche Statistiken. Ein erster Teil der Erkenntnisse habe ich Ende Mai in einem öffentlichen Gastvortrag an dem University College Sabah Foundation unter dem Titel „Shrimp Value Chains & Coastal Livelihoods” präsentiert.
Vienna Doctoral School of Social Sciences (ViDSS)
Die Vienna Doctoral School of Social Sciences (ViDSS) fördert innovative, exzellente, problemorientierte Forschung, die einen Beitrag zu gesellschaftlichen Debatten leisten und wichtige globale Herausforderungen angehen. Die ViDSS bietet ein strukturiertes Doktorandenprogramm und Unterstützung durch Integration, Karriereentwicklung und verschiedene Förderprogramme.
Ungleiche Machtverhältnisse
Eine erste Auswertung meiner Feldnotizen zeigt drei wichtige Erkenntnisse: Erstens sind Aquakulturen oft extrem riskant – ein einziger Krankheitsausbruch reicht häufig aus, damit Unternehmen bankrottgehen. Zweitens profitieren vor allem wenige, vertikal integrierte Firmen, während viele kleine Produzent*innen mit immer geringeren Margen zu kämpfen haben. Drittens verschiebt sich der Absatzfokus zunehmend von Exportmärkten hin zu heimischen Absatzkanälen. Dies stellt das Bild einer rein exportorientierten „Blue Revolution“ infrage.
Im Aquakulturprojekt in Pitas konkretisieren sich diese Dynamiken exemplarisch: Die versprochenen Arbeitsplätze sind weitgehend ausgeblieben, während über 2.000 Hektar Mangrovenwälder – die Lebensgrundlage für Fischerei und Subsistenzwirtschaft – gerodet wurden. Die Betreiberfirma wurde lediglich mit milden Strafen belegt. Viele Gesprächspartner*innen werten dies als Beleg für ungleiche Machtverhältnisse zwischen lokalen Gemeinschaften und Investoren.
Trotz der spürbaren Enttäuschung hat sich ein vielschichtiger Widerstand formiert, der von Straßenblockaden über die Aufforstung von Mangrovenwäldern bis hin zu strategischen Allianzen mit NGOs reicht und deutlich macht, dass lokale Gemeinschaften keine passiven Akteure globaler Produktionsnetzwerke sind, sondern diese aktiv mitgestalten.
Freizeit an den Hotspots des Korallendreiecks
Nach langen Arbeitstagen an der Küste, im Archiv oder vor dem Aufnahmegerät verbrachte ich meine freie Zeit am liebsten unter Wasser beim Tauchen. Die Korallenriffe rund um Sabah zählen zu den artenreichsten Hotspots des sogenannten Korallendreiecks. Mindestens ebenso unvergesslich war jedoch auch die lokale Küche: würziges Borneo Laksa, zitronig-mariniertes Hinava aus rohem Fisch und frisch gegrillter Ikan Bakar begleiteten meine Abende und eröffneten mir einen kulinarischen Zugang zur Kultur.
Drei Dinge, die ich aus Sabah nach Wien mitgenommen habe:
- Ein USB-Stick mit allen Audioaufnahmen meiner über 100 Interviews und Fokusgruppendiskussionen.
- Mein von der Sonne ausgeblichenes Notizbuch, in dem ich während meiner Zeit dort jedes Gespräch, jede Beobachtung und all meine Gedanken handschriftlich festgehalten habe.
- Eine traditionelle, handgefertigte Tasche aus farbenprächtigen Glasperlen – ein beliebtes lokales Souvenir und ein greifbares Andenken an die kulturelle Vielfalt Sabahs.
Ermöglicht wurde die Feldarbeit durch das Marietta Blau-Stipendium des OeAD, welches meine Reise-, Aufenthalts- und Forschungskosten deckte. Die Förderung spielte eine wesentliche Rolle dabei, vor Ort flexibel arbeiten und meine Zeit bestmöglich nutzen zu können. Dank eines erfahrenen lokalen Übersetzers, etablierter Netzwerke und der engen Zusammenarbeit mit meinem lokalen Betreuer, Dr. Gusni Saat, konnte ich meine Erhebungen bereits Anfang Juni – knapp zwei Monate früher als geplant – erfolgreich abschließen. Im nächsten Schritt werden die über 100 Stunden Audioaufnahmen transkribiert, übersetzt und systematisch ausgewertet. Sollten sich während der Auswertung Erkenntnislücken abzeichnen, werde ich für eine kurze Nachrecherche zurückkehren.